SZ + Feuilleton
Merken

Hat Sachsen wirklich ein besonderes Problem mit Extremismus?

Sachsen als Hochburg der Rechtsextremen – das Bild wird differenzierter, wenn man die Bundesländer wissenschaftlich vergleicht. Ein Gastbeitrag.

 7 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
„Auch ohne Sonne braun“: Nazis in Sachsen.
„Auch ohne Sonne braun“: Nazis in Sachsen. © Paul Sander

Von Tom Thieme und Reinhold Melcher

Wird in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit über Extremismus diskutiert, führt die Spurensuche rasch nach Sachsen. Anhaltspunkte dafür gibt es genug: seien es die überdurchschnittlichen früheren (NPD) und gegenwärtigen (AfD) Wahlerfolge, sei es die Konzentration des zuwanderungsfeindlichen Demonstrationsgeschehens auf den Freistaat, sei es die Organisationsdichte von gewaltbereiten bis hin zu rechtsterroristischen Netzwerken.

Auch die Gegenseite kommt wegen des linksextremen Hotspots Leipzig/Connewitz nicht aus den Schlagzeilen. Die Rede ist dann von „sächsischen Verhältnissen“ – der nach den flüchtlingsfeindlichen Aufwallungen in Chemnitz 2018 in brauner Frakturschrift gesetzte Titel „Sachsen“ des Magazins Spiegel wurde zum Sinnbild für eine ganze Region.

Vielerlei Hinweise auf Sachsens „Extremismusproblem“ mögen intuitiv überzeugen. Zugleich überrascht, auf welcher dünnen empirischen Basis solche Zuschreibungen oft fußen. Es fehlt an Analysen, die beantworten, ob und wenn ja, in welcher Größenordnung der Freistaat stärker von antidemokratischen Kräften geprägt ist als andere Bundesländer. Oder hat der Fokus auf Sachsen seit den NPD-Erfolgen und der Mordserie des NSU möglicherweise zu einem Zerrbild geführt, weil die Sensibilität gegenüber den hiesigen Zuständen gewachsen ist? Vielleicht ist beides der Fall.

Schwierigkeiten beim Vergleichen

Wer die Besonderheiten des Extremismus hierzulande beurteilen will, kommt um eine vergleichende Betrachtung nicht herum. Nur in Relation mit anderen Bundesländern lassen sich – tatsächliche oder vermeintliche – sächsische Besonderheiten erkennen und Verallgemeinerungen verhindern. Dafür bedarf es wiederum Datengrundlagen, die zum einen möglichst alle Bundesländer, zum anderen einen längeren Zeitraum abdecken und nicht nur bloße Momentaufnahmen sind. Dies bieten die Wahlergebnisse extremistischer Parteien, die Zahlen der Verfassungsschutzbehörden zu den Personenpotenzialen sowie die kriminalstatistischen Daten zu antidemokratischen Straf- und Gewaltdaten.

Für nicht minder aussagekräftige Faktoren wie die Einstellungen in der Bevölkerung oder zur Intensität des Demonstrationsgeschehens existieren bedauerlicherweise keine vergleichend nutzbaren Quellen. Zwar lassen sich die Länder durch die durchgängigen jährlichen Veröffentlichungen der Sicherheitsbehörden untereinander und im Zeitverlauf beleuchten.

Doch die Erhebung und Auswertung extremistischer Erscheinungen geschieht nicht „aus einem Guss“, sondern durch einzelne Institutionen in 16 Ländern und im Bund, die wiederum unter ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen arbeiten: Wie gut oder schlecht sind die Behörden ausgestattet? Welche Qualitätsansprüche an deren Arbeit existieren? Vor allem: Welche Schwerpunktsetzungen und Vorgaben aus dem politischen Raum wirken auf die Behörden ein?

"Musterländle" Baden-Württemberg?

Solchen methodischen Einwänden zum Trotz lassen sich beim Vergleich des Extremismus in den Bundesländern eine Reihe aufschlussreicher Befunde herausarbeiten: Ohne Berücksichtigung des „Sonderfalls“ AfD liegen bei Landtagswahlen seit 1990 im Durchschnitt nicht etwa die NPD-Hochburgen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen an der Spitze des Rankings, sondern das westdeutsche „Musterländle“ Baden-Württemberg – maßgeblich aufgrund der Wahlerfolge der Republikaner in den 1990er-Jahren.

Zudem tritt weniger eine Sachsen-Spezifik zutage als zuvörderst ein markanter Ost-West-Unterschied. Alle östlichen Bundesländer inklusive des deutsch-deutschen Sonderfalls Berlin weisen ein überdurchschnittlich hohes Maß rechtsextremer Wahlerfolge auf, von den westlichen Ländern neben Baden-Württemberg nur der Stadtstaat Bremen.

Von den zehn besten Ergebnissen rechtsextremer Parteien bei Landtagswahlen wurden sieben in den fünf östlichen Ländern erzielt: die DVU zweimal in Brandenburg und einmal mit dem Rekordergebnis von 12,9 Prozent in Sachsen-Anhalt sowie je zweimal die NPD in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen. Worin sich Ost und West gleichen: Der „harte“ parteiförmige Linksextremismus in Form von DKP und MLPD ist hüben wie drüben bedeutungslos – nirgends gelang es einer solchen Partei, auch nur annähernd ein Prozent Stimmenanteil zu gewinnen.

Markantes Ost-West-Muster

Bei der Anzahl an Extremisten in den vergangenen zehn Jahren zeigen sich ebenfalls deutliche innerdeutsche Differenzen. Alle fünf östlichen Länder liegen an der Spitze der Personenpotenziale, wiewohl auch zwischen ihnen markante Unterschiede existieren. Den höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung verzeichnet Mecklenburg-Vorpommern; es folgen mit einigem Abstand Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg.

Im Freistaat sind es etwa doppelt so viele Rechtsextremisten wie im bundesweiten Durchschnitt. Zudem nivelliert der Blick auf die Landesebene lokale Unterschiede. So sind die Problemlagen eines strukturell tief verwurzelten Rechtsextremismus in manchen ländlichen Ostregionen besonders gravierend, während dieser in vielen westdeutschen Großstädten eine nicht problematische Randerscheinung darstellt. Der Zuzug von westdeutschen Rechtsextremisten in den Osten verstärkt diese Entwicklung zusätzlich.

Ein markantes Ost-West-Muster lässt sich für die linksextreme Mobilisierung indes nicht feststellen; hier handelt es sich in erster Linie um einen Stadt-Land-Gegensatz. Die größten Personenpotenziale existieren in den drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sowie im urban geprägten Hessen. Dagegen ist Sachsen mit Ausnahme der Leipziger Situation kein Hotspot der linken Szene – sie verfügt über etwa halb so viele Anhänger wie im deutschlandweiten Mittel.

Stadt-Land-Gegensätze

Blickt man schließlich auf die Häufigkeit extremistischer Straftaten, dominieren ebenfalls Ost-West- sowie Stadt-Land-Gegensätze anstelle einer sächsischen Sonderrolle. Rechtsmotivierte Delikte werden in allen östlichen Ländern inklusive Berlin mehr als doppelt so oft verübt wie im bundesweiten Durchschnitt; Sachsen liegt hier hinter Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Linke Straftaten werden mit deutlichem Abstand am häufigsten in Hamburg und Berlin begangen, gefolgt vom Freistaat.

Mit Blick auf die Gewalttaten übertrifft der Freistaat sogar die Bundeshauptstadt. Es folgen neben Bremen die weiteren östlichen Länder. Eine wesentliche Erklärung: Linksmotivierte Delikte sind in vielen Fällen eine Reaktion auf rechtsextreme Aufwallungen bzw. deren mediale Präsenz – gerade in Sachsen. Zwar bedingen sich Resonanzstraftaten und Konfrontationsgewalt in beiden Spektren, sie sind von links gegenüber rechts jedoch deutlich ausgeprägter als umgekehrt.

Wer alle Faktoren zum Vergleich des politischen Extremismus zusammenfasst, kommt zu bemerkenswerten Befunden: An der Spitze des Rankings steht Berlin, was im Wesentlichen der doppelten Sondersituation geschuldet ist – zum einen als Mischung aus Ostbundesland (viel Rechtsextremismus) und Stadtstaat (viel Linksextremismus), zum anderen aufgrund der herausgehobenen Bedeutung als Bundeshauptstadt, die auch in Form von extremistischem Handeln hier einen besonderen Niederschlag findet.

Dem folgen Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und schließlich Sachsen. Insgesamt weist ein Ranking der „Extremismus-Belastung“ auf den acht vorderen Plätzen geschlossen die fünf östlichen Flächenländer und die drei Stadtstaaten aus, während sich alle acht westlichen Flächenländer in der unteren Hälfte des Rankings befinden.

Pauschalurteile verbieten sich

Hat der Freistaat folglich ein besonderes Extremismusproblem? Ja, das hat er – zudem wesentlich stärker durch Rechts- als durch Linksextremisten. Sowohl die meisten Einzelmerkmale als auch die Gesamtbilanz weisen eine weit überdurchschnittliche Belastung durch Demokratiegegner aus. Jedoch stellt dies kein isoliertes sächsisches Phänomen dar, sondern einen Teil spezifischer antidemokratischer Ausprägungen, die im gesamten Osten offenbar weiter verbreitet sind als in manchen westlichen Landesteilen.

Zugleich verbieten sich Pauschalurteile. Szene-Anhänger und deren politisch motivierte Straftaten stellen einen Bruchteil der Gesamtgesellschaft dar, ähnliches gilt für die Wahlerfolge „harter“ extremistischer Parteien (beim Grenzfall AfD sieht es freilich anders aus). Ein Vergleich der Bundesländer mag regionale Unterschiede offenlegen, zugleich überdeckt er aber möglicherweise lokale Differenzen. Unterscheiden sich Landeshauptstädte wie Dresden und Mainz tatsächlich stärker voneinander als jeweils im Vergleich zu den strukturschwachen Regionen wie der Oberlausitz und der Eifel im eigenen Bundesland?

Der Blick auf die Bundesländer mag ein erster Schritt hin zu einer stärkeren regional differenzierten Erforschung des Extremismus sein. Da Radikalisierung indes vordergründig im lokalen sozialen Nahfeld stattfindet, ist die tiefergehende räumliche Kenntnis über Ursachen, Verankerung und Reichweite politischer Extremismen unabdingbar – nicht zuletzt um von staatlicher Seite auf dieser Wissensgrundlage angemessen reagieren zu können.

Von den Verfassern ist gerade als Buch erschienen: Rechts- und Linksextremismus in den deutschen Bundesländern. Nomos-Verlag, 311 Seiten, 64 Euro.

Tom Thieme wurde 1978 in Karl-Marx-Stadt geboren. Er ist Professor an der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg/OL.

Reinhold Melcher wurde 1988 in Dresden geboren. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sächsischen Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung (SIPS) an der Hochschule der Sächsischen Polizei.