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Für ihn ist Dresden-Gorbitz einer der besten Orte der Welt

Der Stadtteil Gorbitz am Rand von Dresden gilt oft als Problemviertel. Jürgen Czytrich kennt die Vorzüge des Viertels. Aber verrät sie lieber nicht allen.

Von Karin Großmann
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Jürgen Czytrich  ist überzeugt, am besten Ort der Welt zu arbeiten.
Jürgen Czytrich ist überzeugt, am besten Ort der Welt zu arbeiten. © Foto: SZ/Veit Hengst

Demnächst will er die Balkons zählen. Jürgen Czytrich ist sich ziemlich sicher, dass Gorbitz mehr Balkonfläche pro Einwohner hat als jedes andere Dresdner Viertel. Es wäre nicht der einzige Spitzenplatz.

„Gorbitz ist auch der essbarste Stadtteil“, sagt er und meint die Grünfülle zwischen den Häusern. Hier gibt es die größte Tempo-30-Zone. Die höchste Dichte an Nistkästen. Und wenn Metropolen wie Amsterdam, Shanghai, Paris über die 15-Minuten-Stadt diskutieren, in der die Dinge des Alltags wie Einkauf, Schule, Arzt, Sportplatz und Nahverkehr in einer Viertelstunde erreichbar sein sollen, dann könne man sich in Gorbitz entspannt zurücklehnen, meint Czytrich: „Das haben wir schon.“

Einen besseren Werbeträger gibt es nicht

Das Bild, das er zeigt, unterscheidet sich von den üblichen. Abgehängtes Viertel, krimineller Hotspot, Ghetto, nichts davon kommt bei ihm vor. Fragt man ihn nach dem größten Problem, sagt er: „Das sind jene, die ahnungslos oder absichtsvoll von außerhalb über Gorbitz schimpfen, als wüssten sie genau, was hier los ist.“ Auch das Argument, dass hier mehr Menschen als anderswo in schwierigen sozialen Verhältnissen leben, lässt er nicht gelten. „Wenn es in Gorbitz Armut gibt, dann hat die Armut einen der besten Orte der Welt gefunden.“

Einen überzeugenderen Werbeträger kann sich der Stadtteil am südwestlichen Rand von Dresden nicht wünschen. Im Freundeskreis nennt man den 63-Jährigen mit Hut und Dreitagebart Mister Gorbitz. Er selbst nennt sich den Meist-Erzählenden. Regelmäßig führt er Besucher, Architekturstudenten, neue Lehrer herum. Ansässigen zeigt er, was sich im Stadtteil verändert. Fährt mit ihnen in die Landesbibliothek, ins Volkskunstmuseum, auf den Weißen Hirsch oder in andere Viertel. „Wenn dann einer sagt: Dort möcht ich nicht wohnen, das ist doch alles viel zu eng, und bloß die paar Bäume …, dann bin ich glücklich.“

  • Die Stiftung Lichtblick hilft in Not geratenen Menschen in unserer Region, die keine andere Unterstützung finden.
  • Spenden auf das Konto bei der Ostsächsischen Sparkasse Dresden, BIC: OSDDDE81, IBAN: DE88 8505 0300 3120 0017 74
  • Oder online über: www.lichtblick-sachsen.de/jetztspenden

Jeden zweiten Freitag bietet Jürgen Czytrich solche Touren an. Das hat sich herumgesprochen. Zwischen zwanzig und sechzig Leute sind immer dabei. Treffpunkt und Ziel veröffentlichen die „Gorbitzer Nachrichten“. Czytrich bringt alle zwei Monate ein neues Blatt heraus. Das jüngste informiert über die Tour ins Chemnitzer Archäologiemuseum, über Weihnachts-Werkstatt, mobile Bürgersprechstunde und Nachbarschaftssonntag. Auflage: 12.500 Stück. Für jeden Briefkasten eines.

Czytrich gehört zum Omse-Verein und kümmert sich um Soziokultur im Quartier. Das heißt: niedrigschwellige Angebote für ein Neben- und Miteinander auf engstem Raum. Seit 2015 wird der Raum enger. Die Vonovia übergab der Stadt wenig sanierte Wohnungen für Geflüchtete. Sie treffen sich auch bei Festen mit Einheimischen. „Das ist wunderbar, keinem wird auf die Nase gehauen.“ Neulich, sagt Czytrich, hat er gelernt, 50 Bratwürste auf einmal zu braten. Trotz aller Mühe bleiben Konflikte nicht aus. „Wenn alle flüchten würden, die Grund dazu hätten, fragt man sich schon: Wie soll das gehen? Auch Ratlosigkeit und Überforderung auszuhalten, üben wir hier“

Ein Anlaufpunkt für sozial benachteiligte Familien

Seit 17 Jahren organisiert er das Westhangfest. Mal wird zusammen gekocht, mal Sport getrieben. Was es bei diesem Jahresfest nicht gibt, sind Biermeile und Prominenz: „Wir feiern uns selbst“, sagt Czytrich, „deshalb wird unser Fest auch nicht abgesagt wie zuletzt in Dresden Hechtfest oder Elbhangfest.“ Er beschreibt es als ein Klassentreffen aller Bürger, das von Vereinen, Vermietern, Handel und der Stadt gestaltet und finanziert wird. Eintritt frei.

Mancher Gast beim Klassentreffen ist mit Gorbitz alt geworden. Die erste Großplatte wurde im August 1981 gesetzt. Doch von Anfang an war nicht vom Wohnen in der Platte die Rede, sondern vom Leben in der Landschaft. „Und so ist es gekommen“, sagt Jürgen Czytrich. „Das verraten wir aber keinem. Sonst kommen die Gentrifizierer wie in der Neustadt und vertreiben die Ansässigen.“

Er nennt Gorbitz einen guten Platz zum Nisten. Das liegt nicht nur an den rund tausend Nistkästen im Revier. Auch drumherum gibts viel zu entdecken. In der Kümmelschänke hat Ende der Achtziger alles begonnen. Einige Enthusiasten belebten den Gasthof neu, richteten Werkstätten ein, sanierten benachbarte Dreiseithöfe. Heute ist der Omse-Verein Anlaufpunkt für sozial benachteiligte Familien und wird von Lichtblick unterstützt. Omse betreibt eine Schule, fünf Kitas und einen Familientreff in Gorbitz. Häufig übernehmen Vereine Aufgaben, für die der Staat zuständig ist. Czytrich sagt: „Wir engagieren uns aus Lust und Leidenschaft. Wir haben das super geschafft in all den Jahren, und ich liebe es.“

So können auch Sie Lichtblick helfen

  • Die Stiftung Lichtblick der Sächsischen Zeitung startet dieses Jahr die 28. Spendensaison für in Not geratene Menschen in unserer Region, die keine andere Unterstützung finden.
  • Spenden können Sie online unter www.lichtblick-sachsen.de/jetztspenden oder direkt auf das Konto bei der Ostsächsische Sparkasse Dresden, BIC: OSDDDE81, IBAN: DE88 8505 0300 3120 0017 74
  • Hilfesuchende wenden sich bitte an Sozialeinrichtungen ihrer Region wie Diakonie, Caritas, DRK, Volkssolidarität, Jugend- und Sozialämter.
  • Erreichbar ist Lichtblick telefonisch dienstags und donnerstags von 10 bis 15 Uhr unter 0351/4864 2846, [email protected]; Stiftung Lichtblick, 01055 Dresden. Mehr Informationen: www.lichtblick-sachsen.de