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Immer mehr verhaltensauffällige Tiere in sächsischen Tierheimen

Der Platz ist begrenzt und das Geld knapp, aber es kommen immer mehr verhaltensauffällige Hunde. Sachsens Tierheime sind am Limit, zum Beispiel in Freital und Horka.

Von Christina Wittig-Tausch
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Regina Barthel-Marr mit dem drei Monate alten Mischlingsrüden Rex. „Die Situation ist so angespannt bei uns wie nie zuvor“, sagt die Vorsitzende des Tierschutzvereins, der das Tierheim in Freital und ein weiteres in Reichstädt betreibt.
Regina Barthel-Marr mit dem drei Monate alten Mischlingsrüden Rex. „Die Situation ist so angespannt bei uns wie nie zuvor“, sagt die Vorsitzende des Tierschutzvereins, der das Tierheim in Freital und ein weiteres in Reichstädt betreibt. © SZ/Veit Hengst

Bruno ist gut drauf an diesem Tag. Gelassen sitzt der große Hund in seinem Zwinger im Freitaler Tierheim und hat keinen Blick für Besucher vor seiner Tür. „Nicht reinfassen!“, steht auf einem Schild. „Das ist selten, dass er so ruhig ist, wenn Fremde kommen“, sagt Heimleiterin Anja Witzmann. In solchen Fällen springt Bruno oft bellend und drohend gegen das itter.

Bruno lebt seit knapp einem Jahr in Freital. Er wurde vom Veterinäramt als „gefährlich“ eingewiesen. Sobald sich ein Mensch oder ein Tier näherte, tobte er. Inzwischen hat er sich mit viel Übung an den Maulkorb gewöhnt. Es gibt eine Klappe in seiner Tür. Dort legt er den Kopf hinein und bekommt den Maulkorb auf. Dadurch ist es möglich, Bruno medizinisch zu behandeln und mit ihm spazieren zu gehen. Bei diesen Runden geht es nicht nur um Bewegung, sondern um noch mehr Training.

Elf Monate, und Bruno hat es noch nicht geschafft auf die Galerie im Flur des Tierheims, wo Hunde zur Vermittlung angeboten werden. Anja Witzmann weiß nicht, was Bruno bisher in seinem Leben durchgemacht hat, wie er aufgezogen wurde. Das Freitaler Tierheim ist belegt bis auf den letzten Platz, und ständig sind da neue Anfragen, neue Tiere, neue Schicksale. Immer häufiger sind Hunde wie Bruno darunter. Diejenigen, die sie abgeben, beschreiben sie meist mit einem einzigen Wort: „verhaltensgestört“. Im Freitaler Tierheim sprechen sie lieber von „Hunden mit besonders vielen Baustellen“. Die Probleme entstünden durch die Menschen.

Bruno ist nicht der einzige Hund, der besondere Anforderungen stellt. Auf der Galerie findet sich auch das Foto von Terrier Dyrektor. Er ist seit 2013 im Heim, war zweimal vermittelt und kam wieder zurück. Wie alle Hunde hier lebt er in einem Zwinger mit Heizplatte, Auslauf und drei Spaziergängen pro Tag für Übungen und Spiele. Wenn es geht, auch mehr. Dyrektor ist meist anhänglich und kuschelig, aber wenn er unter Stress gerät oder eine Situation gar nicht mag, schnappt oder beißt er plötzlich zu. Auch nach der Hand, die ihn vielleicht zu lang gestreichelt oder nur eine Zecke entfernt hat.

Die Galerie im Flur des Freitaler Tierheims. Hier werden Hunde zur Vermittlung angeboten. Aber leider findet sich nicht für jedes Tier ein passender Besitzer.
Die Galerie im Flur des Freitaler Tierheims. Hier werden Hunde zur Vermittlung angeboten. Aber leider findet sich nicht für jedes Tier ein passender Besitzer. © SZ/Veit Hengst

Verhaltensauffällig. Das Wort geistert seit einiger Zeit umher. Es findet sich in Hilferufen der Heime und Tierschutzvereine, in offenen Briefen und Petitionen, die auf die angespannte Lage in den Tierheimen aufmerksam machen. Der Tenor ist immer gleich: explodierende Kosten, Personalmangel und zu viele Tiere – vor allem verhaltensauffällige Hunde, die lange in den Heimen bleiben und gezieltes Training brauchen, ein Training, das sachkundiges, erfahrenes Personal erfordert. Durch ehrenamtliche Helfer sei es nicht zu leisten.

Auch das Freitaler Tierheim hat einen dieser Briefe an die Bundesregierung unterschrieben. „Die Situation ist momentan so angespannt bei uns wie nie zuvor in der gut 30-jährigen Geschichte des Tierheims“, sagt Regina Barthel-Marr, die Vorsitzende des Tierschutzvereins, der das Heim in Freital und ein weiteres in Reichstädt betreibt. Die Einnahmen stagnieren. Zugleich steigen die Kosten vor allem für Löhne, Fahrzeuge, Energie, Müll, Versicherung, die Erhaltung der Gebäude und nötige bauliche Investitionen. Überdies mache sich die Gebührenerhöhung der Tierärzte bemerkbar: Letztes Jahr hat der Verein 78.000 Euro für Tierarztbehandlungen ausgegeben. Dieses Jahr waren es nur bis Juni 58.000 Euro.

Unüberlegte Anschaffungen in der Corona-Zeit

Von Frühjahr bis Herbst überschwemmen Katzen das Heim, weil zu viele Tiere nicht kastriert sind. Es kommen Tiere aus Beschlagnahmungen, aus schlechter Haltung, wo sie Vernachlässigung oder Gewalt erfahren haben. Neben den klassischen Fundtieren registriert das Heim immer mehr „Abgabetiere“, etwa von Menschen, die krank sind, ins Pflegeheim ziehen, ins Gefängnis müssen, sterben, aber auch von Menschen, die mit ihren Tieren, insbesondere Hunden, überfordert sind.

Viele davon wurden unüberlegt in der Corona-Zeit angeschafft, ohne sich bewusst zu machen, wie viel Zeit, Verantwortung und Geld dies erfordert. Bei vielen Hunden stellt das Tierheim Versäumnisse und Fehler in Erziehung und Haltung fest. Neben Zuwendung fehle es offenbar an Konsequenz, klaren Regeln und Wissen zur jeweiligen Rasse. Einmal rief eine Familie an. Sie hatten ihre Kinder regelmäßig auf dem Labrador reiten lassen. Dann begann der Hund, nach den Kindern zu schnappen. Für die Familie war dies ein Zeichen von Aggressivität. Der Hund kam ins Heim.

„Wir sind am Limit“, meint Anja Witzmann. Das betrifft nicht nur den Platz, sondern auch die Nerven. Die Tiere müssen rund um die Uhr an jedem Tag in zwei Schichten versorgt werden. Das Personal ist jedoch knapp. Es falle immer schwerer, gelassen zu bleiben, sagt Regina Barthel-Marr, die sich neben ihrer Arbeit als Geschäftsführerin eines Ingenieurbüros täglich vier bis fünf Stunden ehrenamtlich mit der Leitung der beiden Tierheime befasst. Manchmal melden sich Menschen nachts unter der Notrufnummer, um zu erzählen, dass sie mit ihrem Hund nicht klarkommen und das Tierheim ihn sofort aufnehmen soll. „Wenn ich sage, dass dies ein Telefon für Notfälle ist und sie bitte tagsüber anrufen sollen, werden manche aggressiv.“

Anja Witzmann beim Training mit Mischlingshündin Selma. Sie leitet das Tierheim in Freital, das bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Und ständig kommen neue Anfragen.
Anja Witzmann beim Training mit Mischlingshündin Selma. Sie leitet das Tierheim in Freital, das bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Und ständig kommen neue Anfragen. © SZ/Veit Hengst

Dass die Tierheime überhaupt noch arbeitsfähig seien, liegt nach Ansicht der Freitaler Tierschützerinnen vor allem an der guten Vernetzung untereinander. So sei es möglich, hier und da noch einen Platz für einen absoluten Notfall zu finden, in Sachsen oder anderen Bundesländern.

„Die Situation ist deutschlandweit katastrophal. Die Tierheime befinden sich in der schwersten Krise seit der Wiedervereinigung“, sagt Michael Sperlich vom Landestierschutzverband, der zudem beim Tierheim in Leipzig arbeitet. Auf SZ-Anfrage berichten die Veterinärämter der Landkreise Görlitz, Meißen und Bautzen, dass die Suche nach Plätzen für beschlagnahmte Tiere immer schwerer werde. Eine „angespannte Lage in den Tierheimen“ bestätigt auch das für Tierschutz zuständige Sächsische Sozialministerium.

Das einzige Heim in kommunaler Trägerschaft in Sachsen befindet sich in Dresden. 55 Tierheime werden von Vereinen betrieben. Die Kommunen zahlen sechs Monate einen bestimmten Betrag für die Aufnahme von Fundtieren. Bleiben die Tiere länger, müssen die Heime dafür selbst aufkommen. Die Unterbringung der Abgabetiere müssen sie voll finanzieren. Dies geschieht zu großen Teilen durch Spenden. „Allerdings merkt man, dass die Leute sparen müssen“, sagt Regina Barthel-Marr.

Sachsen fördert die Tierheime

Der Freistaat Sachsen gewährt Zuschüsse für Personalkosten oder Kastrationen von Katzen und fördert bis zu 90 Prozent bauliche Investitionen oder Sachkosten. Dieses und nächstes Jahr stehen jeweils 1,32 Millionen Euro zur Verfügung. Gerade wurden die Fördermöglichkeiten erhöht, damit, so Sozialministerin Petra Köpping, „die Tierschutzvereine handlungsfähig bleiben“ und „die Breite der Tierheimlandschaft in Sachsen“ erhalten bleibt.

„Wir freuen uns darüber“, sagt Regina Barthel-Marr, „aber angesichts der Gesamtausgaben der meisten Tierheime ist das ein Tropfen auf den heißen Stein.“

Kleine Tierfiguren und Schnapsfläschchen verkauft das Tierheim in Freital, um seine Einnahmen etwas aufzubessern.
Kleine Tierfiguren und Schnapsfläschchen verkauft das Tierheim in Freital, um seine Einnahmen etwas aufzubessern. © SZ/Veit Hengst

Als äußerst schwierig empfinden auch Rosemarie Zille und ihre Tochter Aimee die Lage. Die beiden leiten das Tierheim St. Horkano in Horka, einem Ort zwischen Görlitz und Niesky. Rosemarie Zille steht an einem großen Tisch und misst Futter für die Hunde ab. Sie hat keine Zeit, die Tätigkeit für ein Gespräch zu unterbrechen. Ihr Arbeitstag beginne um 8 und ende fast nie vor 20 Uhr. Um sie herum wuselt Hündin Trixie. Ihre Besitzerin kam mit ihr nicht mehr zurecht. Die Hündin bellte und fletschte durch den Maulkorb alles an, was sich ihr näherte, Hunde wie Menschen. Tierpflegerin Aimee Zille setzte sich mit Trixie immer wieder in ein großes Gehege. „Ich habe das getan, was ich in solchen Fällen immer tue: versuchen, ruhig zu bleiben, Sicherheit zu geben.“

Nach einer Weile hörte Trixie auf zu drohen. Sie war ruhig und friedlich, als Aimee Zille ihr den Maulkorb abnahm. Dabei ist es geblieben. Aber so schnell gehe es nicht immer. Genau wie die Kolleginnen in Freital beschreiben die beiden Frauen vom St. Horkano Fehler und Selbstüberschätzung beim Umgang mit Hunden als eine der wichtigsten Ursachen für die Misere. „Auch ich lerne immer noch dazu, aber ich habe über 30 Jahre Erfahrung“, sagt Rosemarie Zille. „Wenn ich einen Rat gebe oder auf Fehler aufmerksam mache, hören die Leute schnell weg oder werden aggressiv.“

Rosemarie Zille betreibt seit Ende der 80er-Jahre eine Tierpension. Nach der Wende wurde sie gefragt, ob sie auch beschlagnahmte Tiere aufnehmen könne. So entwickelte sich das Heim. Die Pension behielt Rosemarie Zille bei, weil sie immer auch Einnahmen für das Tierheim brachte. Nächstes Jahr aber werden Zilles die Pension drastisch reduzieren. „Wir schaffen das personell nicht mehr. Wir finden keinen ausgebildeten, belastbaren Tierpfleger.“

Im St. Horkano leben neben Vögeln, Kaninchen und zwei Pferden derzeit etwa 90 Katzen und ebenso viele Hunde, darunter einer, der ausrastet und nicht mehr versorgt werden kann, wenn mehr als ein Mensch an seinem Zwinger vorbeigeht. Ein anderer gehörte einem Kriminellen, der den Hund als Begleitung für seine Raubzüge abgerichtet hatte.

Ein paar Meter neben Mougly aus der Ukraine und dem alten Seppel, der viele Jahre als Kettenhund lebte, wohnt der pubertierende Egon. Er jagt zur Tür, als er Aimee Zille erblickt, mit wild wedelndem Schwanz, lässt sich kuscheln und hat augenscheinlich große Lust zu spielen. Egon hat die Statur eines Kalbs, einen großen, breiten Kopf und goldblondes Fell. Ein behindertes Paar, in einer kleinen Stadtwohnung lebend, hat ihn im Internet gekauft als zwölf Wochen alten Labrador. Der vermeintliche Labrador wuchs und wuchs und entpuppte sich als Kangal, eine Rasse, die gezüchtet wurde, um Schafherden vor Wölfen zu schützen. Die Betreuerin der Familie rief Tierheime an, aber fand keine Bleibe für den großen Hund. Jemand sagte ihr, sie solle über Einschläfern nachdenken. Dann gab ihr jemand die Telefonnummer des Heims in Horka.

Warteliste für große Hunde

Das St. Horkano ist eigentlich weit weg und hat eine Warteliste für große Hunde. Aimee Zille entschied dennoch, Egon aufzunehmen. So, wie sie im Sommer 60 Katzen aus einem Fall von Animal Hoarding, dem krankhaften Tierhorten, aufnahm. Oder den halb blinden Kater, für den der Männerumkleideraum umgenutzt wurde, weil sonst nichts frei war. „Was wäre, wenn ich diese Tiere ablehne? Was wird dann aus ihnen? Ich kann diesen Gedanken nicht ertragen“, sagt Aimee Zille.

Aber was, wenn sich kein St. Horkano oder sonst ein Heim findet? Wenn viele Tierheime aufgeben müssen? Was kann den Tierheimen und den Tieren helfen? Dazu schwirren die verschiedensten Vorschläge umher. Etwa, die Heime besser zu bezahlen, damit sie kostendeckend arbeiten können, indem man beispielsweise die Hundesteuer gezielt dafür verwendet. Oder, die Anschaffung von Tieren mit einem Sachkundenachweis zu verbinden. Der Vorschlag ist umstritten, weil niemand weiß, wer das kontrollieren soll. Vielleicht würden die Tierheime dadurch noch voller. Seit Jahren wird über eine bundesweite Kastrationspflicht für Katzen nachgedacht – und über mehr Kontrolle im Internethandel.

In den Tierheimen kämpfen sie derweil weiter. Die Freitaler Chefin Anja Witzmann hofft, dass sich die Bemühungen um Bruno oder Dyrektor auszahlen werden. „Jeder Hund hat es verdient, dass man ihm eine Chance gibt“, sagt sie.

Aimee Zille macht weiter, weil „es wichtig für die Tiere ist“. Für Egon hofft sie auf einen erfahrenen Hundemenschen mit Grundstück, viel Auslauf und einer Aufgabe. Kraft gebe ihr, dass sich doch oft manches zum Guten füge.

Sie erzählt von einem schwerkranken Boxer-Mastiff-Mix. Er hatte schlimme Räude und wollte in jede Hand beißen, die sich ihm näherte. Medikamente konnten nur mit einem Blasrohr verabreicht werden. Im Tierheim ging es ihm allmählich besser. Ein junges Paar sah den Hund, besuchte ihn regelmäßig, machte Spaziergänge. Sie sprachen intensiv mit den Heimleiterinnen. Schließlich nahmen sie den Hund auf. Einige Monate später bekam Aimee Zille ein Grußfoto von der Ostsee. Der Boxer lag mit seinen Menschen entspannt am Strand, ohne Maulkorb, gesund und friedlich. Es schien, als würde er lächeln.