Sport
Merken

Meinung zur WM in Katar: Kritisch hingucken ist besser als Boykott

Die Fußball-WM in Katar ist ein Fehler und längst ständige Gewissensfrage. Das Turnier nun aber zu ignorieren, wäre genauso falsch.

Von Tino Meyer
 4 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Die WM in Katar ist kritisch - doch der Boykott hilft niemandem, kommentiert der Chef der SZ-Sportredaktion Tino Meyer.
Die WM in Katar ist kritisch - doch der Boykott hilft niemandem, kommentiert der Chef der SZ-Sportredaktion Tino Meyer. © Martin Meissner/AP/dpa

Was ist das für ein Land, in dem Homosexualität verboten ist und eine Frau ihren Ehemann um Erlaubnis fragen muss, wenn sie arbeiten oder verreisen möchte? Hier darf kein sportliches Großereignis stattfinden! Wenn das gilt, hätte Olympia 1972 nicht nach Deutschland vergeben werden dürfen.

Und ja, die Konstellation vor 50 Jahren lässt sich sehr wohl mit der Ausgangslage für die am Sonntag beginnende Fußball-Weltmeisterschaft in Katar in Verbindung bringen. Hat die junge, 1971 gegründete, aufstrebende Nation nicht auch die Chance verdient, sich mit einem Sportevent der Weltöffentlichkeit zu präsentieren wie es damals das neue, nach dem Zweiten Weltkrieg im Aufbruch befindliche Deutschland für sich in Anspruch nahm?

Der Vergleich ist natürlich nicht ganz stimmig – wie so vieles, wenn wir über dieses Fußballturnier reden, das ohne jeden Zweifel der Sündenfall schlechthin ist und das, gerade deshalb, vielleicht sogar den Wendepunkt zum Besseren markieren könnte. Schlimmer jedenfalls als Katar, so die landläufige Meinung über die WM in der Wüste und dann noch mitten im Winter, kann es nicht werden.

WM in Katar: Fußballverbände wehrten sich als erstes

Mein Problem ist weder die Wüste noch der Winter, und auch nicht Katar an sich. Dass es dort eine andere Sicht auf Frauen und Homosexuelle gibt, hätte man nicht erst wenige Woche vor WM-Beginn wissen können. Und auch, unter welchen Arbeitsbedingungen nicht nur Fußballstadien erreichtet werden. Oder sind auf den Baustellen der supermodernen Hotels, Museen und Einkaufszentren keine Wanderarbeiten beschäftigt? Und wo war der Aufschrei, als 2015 die Handball-WM in Katar stattfand und vier Jahre später die Leichtathletik-WM?

Mein Problem sind Institutionen wie der Fußballweltverband Fifa. Eines ist mal klar: Das Emirat hat sich regulär um diese WM beworben, denn das ist selbst Nationen ohne große Fußballtradition erlaubt. Die Scheichs haben daraufhin, auch das weder neu noch verboten, Unmengen von Geld investiert: in Infrastruktur und fürs Image; vor allem aber – da wird es kriminell – um die WM zu erhalten und dann auch zu behalten.

Proteste gab es ja sofort nach der Vergabe 2010, allerdings nicht von Menschenrechtsorganisationen. Fußballverbände und -vereine wehrten sich, wenn auch zaghaft, gegen den ursprünglichen Termin im Sommer mit bis zu 50 Grad Celsius und erst recht gegen die daraufhin ins Spiel gebrachte Verlegung in den Winter. Die Kataris regelten das schließlich auf ihre Weise: mit Geld. Davon haben sie mehr als genug, genauso wie Gas. Weshalb nach der deutschen Wirtschaft nun inmitten der Energiekrise auch die deutsche Politik offensiv wie nie Geschäfte macht mit dem Land, das von manchen als Schurkenstaat bezeichnet wird.

Russland widerlegt die These von Veränderung

Klingt irgendwie nach Doppelmoral, finde ich. Überhaupt ist diese WM zur ständigen Gewissensfrage geworden. Für mich steht fest: Schuld daran hat die Fifa, konkret die 24 inzwischen mehrheitlich angeklagten oder mit Sperren belegten Männer des Exekutivkomitees. Sie hätten die WM niemals nach Katar vergeben dürfen. Auch wegen der klimatischen Verhältnisse, die Sport unter normalen Bedingungen unmöglich machen. Vor allem aber aufgrund der Menschenrechtslage. Bis auf Katar und die Fifa sind sich zumindest darin jetzt alle einig.

Die steile These, mit einem solchen Großereignis würde die ganze Welt auf das Ausrichterland blicken und sich schon allein deshalb etwas ändern, stimmt eben nicht – wie die Fußball-WM vor vier Jahren in Russland beweist. Sie hat noch nie gestimmt, siehe Olympia 1936 in Berlin. Der Logik folgend müsste Nordkorea der nächste Ausrichter sein.

Ehrlich: Ich freue mich auf die WM

Diese Fußball-WM nun aber boykottieren? Auf keinen Fall. Auch das lehrt die Geschichte, so etwas hilft niemandem. Ebenso wenig wie das Tragen einer bunten Kapitänsbinde oder die eingeschränkte Berichterstattung vom Turnier. Statt wegzugucken wollen wir als SZ besonders genau hinsehen und dieser in vielerlei Hinsicht tatsächlich besonderen WM mit journalistischen Mitteln begegnen. Das ist unsere Verantwortung.

Eines hat Katar jedenfalls geschafft: dass ich nicht zu den 77 Prozent der Deutschen gehöre, so die Zahl der aktuellsten Umfrage, deren Interesse an der WM gesunken ist. Im Gegenteil, noch nie habe ich mich im Vorfeld so intensiv mit dem Austragungsort beschäftigt, nicht mal als ich im Februar vor Ort von den Olympischen Winterspielen in Peking berichtet habe.

Soll ich ehrlich sein? Irgendwie freue ich mich jetzt sogar auf diese WM. Und ich habe nachgeschlagen: Erst 1994 wurde im Grundgesetz festgeschrieben, dass Deutschland die Gleichberechtigung von Mann und Frau fördert – und dass Homosexualität nicht mehr strafbar ist.

Mail an Tino Meyer