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Sternstunde vor 70 Jahren: Die ersten Menschen auf dem höchsten Punkt der Erde

Plötzlich ging es nicht mehr höher: Am 29. Mai 1953 erreichen zwei Menschen den Gipfel des Mount Everest. Skeptiker stören sich danach am Beweisfoto, den beiden Gipfelstürmern ist das egal.

Von Jochen Mayer
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Ganz oben! Der neuseeländische Bergsteiger Edmund Hillary (r.) und Sherpa Tenzing Norgay sind die ersten Menschen auf dem 8.848 Meter hohen Mount Everest.
Ganz oben! Der neuseeländische Bergsteiger Edmund Hillary (r.) und Sherpa Tenzing Norgay sind die ersten Menschen auf dem 8.848 Meter hohen Mount Everest. © dpa

Eine Sternstunde der Menschheit ist dieser 29. Mai 1953. Erstmals standen zwei Menschen auf dem Mount Everest, dem höchsten Berg der Erde. „Es war 11.30 Uhr“, datiert Sir Edmund Hillary in seiner Autobiografie „Die Abenteuer meines Lebens“ den historischen Moment, als sie an jenem Sehnsuchtsort in der Todeszone angekommen waren, wo es nach jeder Richtung bergab ging – und nur noch Luft gab.

Die ausgestreckte Hand des Neuseeländers ignorierte jedoch der nepalesische Sherpa Tenzing Norgay, sie fielen sich stattdessen in die Arme, umschlangen sich heftig. Die Menschheit hatte vor 70 Jahren an jenem 29. Mai zwei neue Helden und einen weiteren weißen Fleck erobert, den höchsten Punkt der Erde, 8.848 Meter hoch.

Die Erstbesteigungen der Achttausender war ein Prestigekampf der Nationen. Die Briten hatten sich den Höchsten ausgeguckt. Schon 1924 gab es einen ernsthaften Gipfelversuch, als George Mallory mit Andrew Irvine am 8. Juni zu einem Höhenrekord aufbrachen. Seit damals ist ungeklärt, ob sie beim Rückweg vom Gipfel starben oder beim Aufstieg. Am 1. Mai 1999 wurde die Marmorleiche Mallorys gefunden. Sie lag auf 8.250 Metern Höhe.

Tendenz im ewigen Streit der Experten: Höhenrekord, auf jeden Fall grandiose Leistung. Den Gipfel aber können sie wohl nicht erreicht haben. In den damaligen Nagelschuhen hätten sie nicht über die alpine Barriere kommen können. Die Kamera mit dem möglichen Gegenbeweis liegt im ewigen Eis. Es bleibt eine schaurig-rätselhafte Geschichte.

Eine furchteinflößende Felsstufe trägt jetzt Hillarys Namen

1953 fühlten sich die Briten dann unter Zeitdruck. Sie brauchten ein Erfolgserlebnis und schickten mehrere Teams in Wellen nach oben. Charles Evans und Tom Bourdillon brachen als erstes auf. Doch ihre neuen Sauerstoffgerätschaften funktionierten nicht. Bourdillon wollte zwar den Gipfel erzwingen, doch Evans ahnte, dass die Kräfte nicht für den Rückweg reichen. Der Flaschensauerstoff hätte nur für ein Drittel der Zeit genügt. Erst ein letztes Argument überzeugte: „Wenn du weitermachst, Tom, wirst du Jennifer nie wiedersehen.“ Der Gedanke an seine Frau überzeugte mehr als der Selbsterhaltungstrieb.

Der hagere Edmund Hillary und sein einheimischer Träger, der Sherpa Tenzing Norgay, standen als zweites Team bereit. Ihre Trümpfe: Sie waren kräftig, gut akklimatisiert und sie setzten auf ihre alten, vertrauten Sauerstoffgeräte. Eine furchteinflößende Felsstufe meisterte Hillary, indem er sich zwischen einem Spalt aus Eis und dem Gestein nach oben zwängte – die nach ihm benannte Hillary-Stufe, bekannter als Hillary Step. Es war die Schlüsselstelle beim Aufstieg, an der sich Jahrzehnte später Tragödien abspielten.

Hillary und Norgay mussten zwar noch ewig Stufen schlagen auf den letzten Höhenmeter, in die noch nie ein Mensch vorgedrungen war. Doch plötzlich ging es nicht mehr höher. „Wir schauten uns staunend um. Mit ungeheurer Befriedigung stellten wir fest, dass wir auf dem höchsten Punkt der Erde standen“, beschrieb Hillary.

Die Route bei der Erstbesteigung des Mount Everest im Mai 1953.
Die Route bei der Erstbesteigung des Mount Everest im Mai 1953. © dpa Grafik

Sherpa Norgay hatte sehr gehofft, bei der Erstbesteigung dabei sein zu können. Er fühlte sich als der Stellvertreter für seine Landsleute, der zum Wohnsitz der Götter aufbrechen durfte, zu Chomolungma, der Königsmutter. Der Blick über die Gipfel verschob alle bekannten Proportionen. „Das gewaltigste Gebirge der Erde schien nur noch eine Reihe kleiner Hügel unter dem endlosen Himmel zu sein“, beschrieb Norgay das zuvor von noch keinem Menschen erblickte Panorama.

„Es war eine Aussicht, wie ich sie noch nie erlebt hatte: wild, wundervoll und erschreckend zugleich. Aber Angst fühlte ich nicht. Dazu liebte ich die Berge zu sehr. Ich liebte den Everest zu sehr. In diesem großartigen Moment, auf den ich mein ganzes Leben gewartet hatte, schien mir mein Berg kein lebloses Etwas aus Fels und Eis, sondern warm, freundlich und lebendig.“

Eine Viertelstunde blieben beide oben. Der Sherpa grub ein Loch in den Schnee, legte etwas Schokolade und weitere Esswaren hinein. Geschenke an die Götter. Hillary drückte ein Kruzifix in den Schnee. Der Vatikan bedankte sich später mit einem Medaillon für die Geste. Für das Beweisfoto trat Hillary ein paar Meter nach unten, um den Gipfel in den Sucher zu bekommen.

Danach wird gestritten, wer als Erster ganz oben stand

Norgay schwang den Eispickel mit daran befestigten Flaggen über den Kopf. „Es kam mir nicht in den Sinn, mich von Tenzing knipsen zu lassen“, erklärte Hillary später. „Vermutlich hatte er noch nie in seinem Leben Aufnahmen gemacht, und der Gipfel des Everest war kaum der geeignete Ort zu einem Lehrgang in Fotografie.“ Noch Jahrzehnte später nörgelten Skeptiker daraufhin aber wegen der fehlenden Fotonachweise vom Besteigungserfolg für Hillary.

Geradezu kleinlich mutet der Streit an, wer als Erster ganz oben stand. „Es ist eine Menge Unsinn darüber geredet worden, wer von uns als Erster oben gewesen ist“, gab der Sherpa mal zu Protokoll. „Es ist eine so überflüssige Frage.“ Er antwortete trotzdem: „Hillary betrat den Gipfel als Erster. Ich folgte ihm nach. Wir waren beinahe gleichzeitig oben.“

Am heiligen Ort der Götter nahm Hillary die Sauerstoffmaske ab und holte Luft. „Ich hatte bewiesen, dass ein Mensch auch hier oben ohne zusätzlichen Sauerstoff atmen konnte. Das hatte man vorher nicht mit Sicherheit sagen können“, sagte Hillary, was 25 Jahre später Reinhold Messner und Peter Habeler bestätigen konnten. Sie erreichten 1978 als Erste den Gipfel des Mount Everest ohne Unterstützung von künstlichem Sauerstoff.

Der Sonnenuntergang färbt den Gipfel des Mount Everest. 1953 standen erstmals zwei Bergsteiger auf dem Dach der Welt.
Der Sonnenuntergang färbt den Gipfel des Mount Everest. 1953 standen erstmals zwei Bergsteiger auf dem Dach der Welt. © Xinhua

Die Erstbesteiger wurden weltberühmt. Doch ihre Leistung wäre nicht möglich gewesen ohne zahllose Helfer, die Sherpas, das Team, das zusammen mit einer sinnvollen Taktik den Gipfelmarsch möglich machte. Hillary wurde geadelt, Norgay nicht. Rechtzeitig und passend zur Krönung von Königin Elizabeth II. in London war die Erfolgsmeldung eingetroffen.

Trotz aller Begeisterung um seine Leistung blieb der Everest-Sir bewusst auf dem Teppich. „Seit ich als Erster auf dem Gipfel des Mount Everest stand, haben die Medien mich als Helden behandelt“, formulierte der Neuseeländer. „Ich selbst aber halte mich für einen Menschen mit durchschnittlichen Fähigkeiten. Was ich erreicht habe, verdanke ich meiner lebhaften Fantasie und meiner großen Ausdauer.“

Größere Befriedigung als der reine Gipfelerfolg gab ihm das, was er anschließend für seine Freunde im Himalaya tun konnte: „Auch das waren große Herausforderungen, wenn auch ganz anderer Art: der Bau von Flugplätzen, Schulen und Krankenhäusern und die Renovierung entlegener buddhistischer Klöster. Das sind die Dinge, an die ich mich immer erinnern werde.“

Die Sächsische Zeitung berichtete damals zeitversetzt

Vor Tenzing Norgays Tod 1986 kamen sich die beiden noch einmal nahe. Hillary wirkte als Neuseelands Botschafter in Indien und kümmerte sich um seinen kranken Ex-Partner. „Es war eine Symmetrie: Am Tiefpunkt seines Lebens erschien der Mann, der auch auf dem Höhepunkt seines Lebens neben ihm gestanden hatte. Der Kreis schloss sich“, schrieb Tenzings Enkel Tashi über diese Begegnungen.

Die Sächsische Zeitung meldete in der Ausgabe vom 8. Juni die Erstbesteigung im Sportteil – zeitversetzt sozusagen. Dabei war die Erfolgsnachricht schon am 2. Juni in England eingetroffen. Unter der Überschrift „Die elfte Expedition bezwang den Mount Everest“ wurde verkündet, dass „wie aus London bekannt wird“ eine große bergsteigerische Leistung gelungen sei.

„Nach hartem, opferreichen Kampf gegen die Naturgewalten – eisige Winde und starke Schneestürme toben den größten Teil des Jahres um die Bergspitze – mussten seit 1921 zehn Expeditionen ihre Versuche abbrechen und umkehren.“ Dabei kursieren unterschiedliche Zahlen über die Everest-Expeditionen. In Reinhold Messners Everest-Chronik gelang im 16. Anlauf die Erstbesteigung, dabei rechnete der Südtiroler drei nicht genehmigte Anläufe mit ein.

Im SZ-Text, der weder eine Quellenangabe noch einen Autorennamen hat, wurde auf die zurückliegenden Erfahrungen „im 32-jährigen heldenhaften Ringen der Bergsteiger“ sowie die Ausrüstung verwiesen, was zum Erfolg beitrug: Spezialkocher aus Aluzylinder mit Schraubdeckel; eine zehn Meter lange spezielle Aluleiter, mit der der Khumbu-Eisbruch überwunden werden konnte. Die Detailbeschreibung der Bergschuhe bekam beachtliche 16 Druckzeilen. Sogar ein kleiner Minenwerfer sei dabei gewesen, „mit dem drohende Lawinen abgeschossen wurden“. Schon immer rankten sich Legenden und Mythen um die höchsten Berge.

Das wichtigste Ereignis war der Höhen-Weltrekord im Sportteil damals nicht. Viel mehr Platz bekam das Studentensportfest zum 125-jährigen Jubiläum der Technischen Hochschule, der heutigen TU Dresden. Die Leichtathleten bestritten im Harbig-Stadion das Hauptprogramm. Das Leben ging überall weiter, auch wenn der höchste Punkt der Erde erklommen war.