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Sehnsucht nach Weihnachten: eine wahre Geschichte

Eine wahre Weihnachtsgeschichte, die von Einsamkeit, Baumärkten und einem seltsamen Tier handelt.

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© dpa

Von Bettina Ruczynski

Seit die Kinder aus dem Haus sind, haben wir zu Weihnachten eine neue Tradition erfunden: Kurz bevor alles für das Fest schließt, holen wir einen Baum. Und zwar nicht den Schönsten wie früher, sondern den einen, den keiner haben will. Den holen wir nach Hause und nennen ihn Herr Herkules, um sein Selbstbewusstsein aufzupäppeln. Herr Herkules wird fein geschmückt und braucht sich seines Daseins nicht zu schämen; im Gegenteil.

Letzte Weihnachten wollten wir, der Mann an meiner Seite und ich, auch mit diesem Ritual brechen und gründeten spontan das Team Keihnachtsbaum: Feste feiern ohne Baum! Doch wie so oft im Leben kommt es anders. Der Heilige Abend ist zwar noch Stunden fern, doch mich überkommt eine heftige Sehnsucht: Nach dem Duft von Tannenzweigen, die auch gern Fichte oder Kiefer sein können. Sehnsucht nach dem Duft von Weihnachten, die sich in einem zarten Ziehen in der Brust manifestiert. Der Gatte spürt zwar nichts, ist aber sofort bereit fürs Gartencenter, um auch diesmal Herrn Herkules zu finden.

Eine folgenreiche Begegnung im WC

Dort muss ich aufs Klo, was zu einer seltsamen, folgenreichen Begegnung führt: Im Dachgeschoss des Marktes war früher ein Restaurant, jetzt steht es leer. Das Treppenhaus, das hinauf führt, ist dunkel und notdürftig abgesperrt. Und genau dort, hoch droben im Finsteren, höre ich nach dem Gang zur Toilette ein helles Fiepen, das in kläglichem Jaulen mündet. Herkules und der Gatte müssen warten. Jetzt guck ich erst mal, wer da so jammervoll jault. Handy-Taschenlampe an, Treppe hoch und erschrocken innehalten sind eins: Vor mir im Dunkel lauert ein Tier.

Der seltsamste Hund, den je ein Mensch erblickt hat – von seinen Besitzern mal abgesehen. Das Tier ist so hässlich, dass es fast schon wieder schön ist: Ein kühner Mix aus Bisamratte, Waschbär und Flokati, wobei jener die letzte Wäsche nicht flauschig überstanden hat, sondern als struppige Drahtwolle aus dem Schleudergang kam. Das alles ist graubraun, so groß wie ein halber Labrador und steht auf Dackelbeinen. Dieser Hund hat definitiv was Besonderes – eine Laune der Evolution? Mit einer Leine ist er am Treppengeländer festgezurrt, was ihm nicht zu behagen scheint.

Als ich näher komme, knurrt er misstrauisch und wedelt gleichzeitig hoffnungsfroh mit dem Schwanz. Da ich an arger Tierhaarallergie leide, streichle ich ihn nicht, sondern rede sanft auf ihn ein. Was schon bei den Kindern selten funktioniert hat, klappt auch jetzt nicht. Der Hund winselt weiter. Was tun? Gleich macht der Baumarkt zu und erst nach dem Fest wieder auf. Wer hat das Tier warum in einer dunklen Ecke angebunden? Kommt da noch jemand und holt es heim zum Fest? Und falls nein, warum nicht? Vielleicht ist es ein Corona-Hund; im Lockdown angeschafft als Abwechslung gegen Langeweile. Und ist nun überflüssig, weil er so gar nicht niedlich ist. Oder im Weg, weil ein Flug gen Süden ansteht?

Hasso, Bello oder Waldi

Wie lange kann ein Hund ohne Futter und Wasser, gefesselt an ein Geländer, durchhalten? Soll ich ihm einen Vorrat samt Wasser besorgen und ihm fürs Überleben im dunklen, kalten Markt fest die Daumen drücken? Während wir und alle Welt Weihnachten feiern – das Fest der Liebe? Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort habe.

Wie oft in solchen Situationen hole ich erstens den Gatten und zweitens seinen Rat. Der hat inzwischen Herrn Herkules gefunden, es gelingt ihm außerdem, die Info-Frau des Baumarkts hinter ihrem Tresen hervor und hinauf zum Hund zu locken. „Was für eine Schweinerei!“ Die Frau ist entsetzt. Nicht über die Hässlichkeit des Hundes, sondern ob des hässlichen Plans, das Tier über die Feiertage in einem geschlossenen Laden ohne Futter und Liebe auszusetzen.

Erst mal warten wir ab, bis der Markt schließt und hoffen derweil auf das Gute im Menschen. Dass doch noch wer kommt, um seinen Hund zu holen. Während wir warten, überlegen wir, wie wir das Tier nennen können, man kann es ja schlecht mit „Du Hund“ anreden. Da die Zeiten vorbei sind, in denen Hunde Namen wie Hasso, Bello oder Waldi trugen, sondern heutzutage wie Menschenkinder Leni, Anton oder Heidi heißen, nennen wir das Tier einstweilen Tristan. Später werden wir feststellen, dass es sich doch um eine Isolde handelt. Aber das ist eine andere Geschichte. Als auch der allerletzte Kunde das Haus verlassen hat und keiner außer uns sich für das Hundeschicksal zu interessieren scheint, was traurig ist, beschließen wir spontan eine Adoption auf Zeit. Wir nehmen das Tier mit. Die Info-Frau ist froh, der Hund auch. Wir eher nicht.

Isolde geht es gut

Was soll ich sagen? Weihnachten ward lustig: Isolde pinkelt Herrn Herkules in der Stube ans Bein, nicht nur einmal. Er nimmt ihr nichts übel, weil sie so gut zu ihm passt. Ansonsten ist unsere neue Mitbewohnerin ebenso verfressen wie liebeshungrig. Dem Gatten weicht sie nicht von der Seite, gern liegt sie ihm zu Füßen, was ihm sehr gefällt. Mit mir fremdelt sie ein wenig, das beruht auf Gegenseitigkeit. Vor Möpsen und Männern mit Schnauzbart hat Isolde Angst. Schatten der Vergangenheit? Leider gewöhnt sich meine Allergie nicht an das Tier. Und dennoch feiern wir ein ganz besonders schönes Fest: Herr Herkules, Isolde, unser Weihnachtshund, der Gatte und ich.

Und genau das wünsche ich Ihnen und den Ihren auch – ob mit oder ohne Weihnachtshund oder Herrn Herkules: Ein frohes, friedliches Weihnachtsfest!

P.S.: Isolde geht es gut. Sie wohnt jetzt beim Bruder des Gatten und verträgt sich sogar mit dessen launischem Kater. Wenn wir zu Besuch kommen, freut sie sich sehr. Besonders über den Gatten. Ihre kaltherzigen Besitzer haben wir nie gefunden. Niemand hat sie je als vermisst gemeldet.