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„Um die Kohle abzulösen, brauchen wir Gaskraftwerke“

Patrick Graichen, neuer Manager der Energiewende im Bundeswirtschaftsministerium, zum Kohle-Aus, Atomkraft und Windrädern.

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Ein Absetzer verteilt den Abraum auf der Rekultivierungsfläche im Tagebau Nochten.
Ein Absetzer verteilt den Abraum auf der Rekultivierungsfläche im Tagebau Nochten. © www.imago-images.de

Als neuer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium gestalten Sie die Klima- und Energiepolitik. Betrachten Sie Atomkraft und Erdgas als umweltfreundliche Energieträger? Die EU-Kommission sieht es so.

Nein, Atom und Erdgas sind keine grünen Energien. Der Atommüll strahlt noch Jahrtausende und die Verbrennung von Erdgas verursacht Kohlendioxid-Emissionen. Ihre Einstufung als nachhaltige Übergangstechnologie in der sogenannten Taxonomie hätte es nicht gebraucht. Ich halte das für eine Verwässerung des grünen Labels für Finanzprodukte. Aber ich bezweifele gleichzeitig, dass es viele Finanzmarktakteure überhaupt nutzen werden.

Warum sind Sie skeptisch?

Das grüne Label für Finanzprodukte der EU soll es ja jetzt in zwei Abstufungen geben: „nachhaltig“ und „übergangsweise nachhaltig“. In der zweiten Kategorie sind dann Atom- und Gaskraftwerke enthalten. Ich bezweifle stark, dass Kunden, die Wert auf Nachhaltigkeit legen, in ihren Anlageprodukten Atom und Gas haben wollen. Insofern läuft das ohnehin weitestgehend ins Leere.

Haben Sie die Hoffnung, die Taxonomie (Klassifizierung) noch zu ändern?

Die Wahrscheinlichkeit ist gering, denn die dafür nötigen Mehrheiten im EU-Rat und im EU-Parlament kommen wohl nicht zustande.

Ist das der erste große Konflikt innerhalb der neuen Bundesregierung, in der die Grünen mit ihrer Energiepolitik an SPD und FDP scheitern?

Wir sind uns in der Bundesregierung einig: Atomkraft lehnen wir ab, und hier in Deutschland ist der Weg des Atomausstiegs klar geregelt. Bei Gas ist klar, dass fossiles Gas nur eine Übergangsfunktion hat und laut Taxonomie der Umstieg auf grünen Wasserstoff bis 2035 erfolgen muss. Viel wichtiger für unseren Weg in Deutschland ist aber, dass wir einen Anteil von 80 Prozent erneuerbarer Energie an der Stromproduktion bis 2030, die Beschleunigung des Netzausbaus und die Klimaneutralität bis 2045 erreichen.

Patrick Graichen (49) ist Ökonom und Politikwissenschaftler. Er leitete vor seiner jetzigen Tätigkeit die Organisation Agora Energiewende.
Patrick Graichen (49) ist Ökonom und Politikwissenschaftler. Er leitete vor seiner jetzigen Tätigkeit die Organisation Agora Energiewende. © BMWi / Susanne Eriksson

Halten sie es für möglich, dass die drei Atomkraftwerke Emsland, Neckarwestheim und Isar länger laufen als bis zum vereinbarten Abschaltungstermin?

Nein, die drei letzten AKW werden Ende 2022 abgeschaltet.

Entstehen in unseren Nachbarländern künftig neue AKW, eventuell mit dem Rückenwind der Taxonomie?

In Frankreich ist das sicherlich geplant. Ich nehme aber an, dass es bei einer überschaubaren Anzahl neuer Anlagen bleibt, einfach weil sie sehr teuer sind.

Erdgas ist ein fossiler Energieträger, der den Treibhauseffekt ebenfalls beschleunigt. Wäre es nicht besser, wenn alle verfügbaren Mittel ab sofort in kohlendioxidfreie Techniken wie Wind und Solar flössen?

Für den Ausbau von Wind und Solar werden wir gewaltige Anstrengungen unternehmen. Um die Kohlekraftwerke abzulösen, brauchen wir aber auch einige Back-up-Kraftwerke, die zunächst mit Gas und später mit grünem Wasserstoff betrieben werden. Sie springen dann ein, wenn Windräder und Solaranlagen nicht genug Strom liefern.

Wäre mit der neuen EU-Taxonomie garantiert, dass beispielsweise russisches Erdgas ab 2035 nicht mehr in hiesigen Pipelines transportiert wird?

Das ist nicht der Inhalt der Taxonomie. Die Taxonomie ist ein System zur Klassifizierung von Finanzprodukten – nicht mehr und nicht weniger. Wenn Gas-Pipelines bis 2035 vollständig auf grünen Wasserstoff umgerüstet werden, dann wären sie in dieser Logik als übergangsweise nachhaltig einzustufen.

Werden Sie versuchen, die Gasimporte aus anderen Staaten zu erhöhen, um nicht zu abhängig von Russland zu werden?

Am besten ist es, wenn wir das Erdgas aus vielen verschiedenen Quellen beziehen. Die Einfuhr aus den USA gehört ebenso dazu wie etwa aus Norwegen, Russland oder Nordafrika.

Halten Sie neben dem geplanten Flüssiggas-Terminal in Brunsbüttel weitere Gashäfen für nötig, um mehr verflüssigtes Gas aus den USA zu importieren?

Wir haben eine gute europäische Infrastruktur für den Flüssiggas-Import. Gegenwärtig ist diese ausgelastet.

Im Koalitionsvertrag ist viel davon die Rede, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Wie wollen Sie erreichen, dass bald zwei Prozent der Landesfläche für Windenergie zur Verfügung stehen?

Wir sprechen jetzt mit den Bundesländern. Klar ist, dass wir ein Gesetz brauchen, damit alle einen angemessenen Beitrag leisten.

Was bekommen die Bürger und Kommunen dafür, dass sie die vielen Windparks tolerieren?

Bereits jetzt erhalten die Kommunen eine Abgabe der Investoren für neue Windparks und Freiflächen-Solaranlagen. Laut Koalitionsvertrag wollen wir das auf bestehende Anlagen ausdehnen.

Seit Jahren geht der Ausbau der großen Nord-Süd-Stromleitungen nur schleppend voran. Dass die Trasse von Schleswig-Holstein durch Niedersachsen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg wie geplant 2026 fertig wird, ist unwahrscheinlich, oder?

Der Netzausbau ist entscheidend, und es ist ein misslicher Zustand, dass er sich seit Jahren verzögert. Zum Ausbaustand werden wir noch im Januar eine Bilanz ziehen. Aber es ist schon jetzt klar, dass wir hier eine Beschleunigung brauchen, das haben wir auf der Agenda.

Wie sieht der nächste Schritt zum Kohleausstieg aus?

Wir werden noch dieses Jahr die Voraussetzungen prüfen, wie ein Kohleausstieg bis 2030 ermöglicht werden kann – und uns dann zügig daran machen, diese Voraussetzungen zu erfüllen. Auch wird der steigende Kohlendioxidpreis ziemlich sicher die Dinge beschleunigen.

Wo sollen die Ersatzarbeitsplätze für die Lausitz herkommen?

Der schnellere Kohleausstieg beschleunigt auch den Strukturwandel. Und der wird neue Arbeitsplätze schaffen. In den Braunkohle-Tagebauen sollen beispielsweise Wind- und Solarkraftwerke entstehen. Entsprechende Technik- und Dienstleistungsfirmen werden sich ansiedeln, klimaneutrale Fertigung folgen. Gerade die Region um das Kraftwerk Schwarze Pumpe soll ein Energie- und Industriestandort bleiben. Wir laden die Landesregierungen und Kommunen ein, gemeinsam in diese Richtung zu arbeiten.

Erstmals leiten Grüne nun das Wirtschaftsministerium. Befürchten Sie, dass sie von einem skeptischen Beamtenapparat ausgebremst werden?

Keinesfalls. Hier im Haus erlebe ich eine große Bereitschaft, Aufbruchstimmung und hohe Loyalität zu den beschlossenen Zielen.

Das Interview führte Hannes Koch.