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Das 9-Euro-Ticket darf kein Strohfeuer bleiben

Das 9-Euro-Ticket ist eine tolle Werbung für Bahn und Bus. Nun kommt es darauf an, dass nach dem Sommer von der guten Idee auch etwas übrig bleibt. Ein Kommentar.

Von Karin Schlottmann
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Pfingsten könnte es in den Regionalbahnen noch voller werden als sonst.
Pfingsten könnte es in den Regionalbahnen noch voller werden als sonst. © dpa/Bernd Weissbrod

Wer hätte das gedacht: Ganz Deutschland freut sich über das 9-Euro-Ticket. Der Sommer steht vor der Tür, die Menschen wollen nach dem zweiten Corona-Winter endlich wieder raus. Da kommt der Billig-Fahrschein vielen gerade recht. Einmal mit der Bäderbahn nach Usedom, Urlaub am Bodensee, mit der Dampflok nach Oberwiesenthal – nicht nur Rentner und Studenten wollen das Reisen mit dem Regionalexpress neu entdecken. Hinzu kommt der psychologische Effekt: Nach drei Monaten ist die Aktion wieder vorbei. Wer will denn schon hinterher sagen müssen, er sei bei dem Spaß im Sommer 2022 nicht dabei gewesen?

Dabei steht die Tourismusförderung gar nicht im Vordergrund. Die Bundesregierung will zwei andere Ziele erreichen: Die Entlastung der Bürger von hohen Mobilitätskosten und die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs. Im Zuge der drastisch gestiegenen Spritpreise beschloss die Ampel-Koalition eine Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe. Um Bahnfahrer und andere Kunden des ÖPNV nicht zu benachteiligen, erfand die Regierung das 9-Euro-Ticket, obwohl die Preise in dieser Branche einigermaßen stabil geblieben sind. Sie verbindet damit wohl die Hoffnung, Autofahrer langfristig zum Umstieg zu bewegen. Dieses Ziel ist populär, aber immer noch unerreicht. Ein zusätzlicher Anreiz ist auch nötig, weil viele Fahrgäste seit Corona nicht wieder zurückgekehrt sind.

Alles besser als "Totenkopfpädagogik"

Nun ist es nicht die Aufgabe des Staates, seinen Bürgern den Urlaub zu subventionieren. Aber es ist gut möglich, dass die Aktion in der Verkehrspolitik einiges in Gang bringen könnte. Neben dem unschätzbaren Werbeeffekt setzt die Bahn darauf, herauszufinden, ob niedrige Preise einen Effekt haben auf das Verhalten ihrer Kunden oder ob es auf andere Faktoren ankommt, um die Auslastung zu steigern. Für die Ergebnisse der geplanten Auswertung interessiert sich man sich auch im Ausland, heißt es.

Eine clevere Idee, die der Bahn nach drei Monaten wertvolle Erkenntnisse bringen könnte, ist allemal besser als das, was der Verkehrspsychologe Wolfgang Fastenmeier "Totenkopfpädagogik" nennt: Mit Verboten und künstlich verknapptem Parkraum zu versuchen, die Bürger vom Auto wegzubringen. Wer die Menschen vor vollendete Tatsachen stelle, ihnen aber keine Alternative anbiete, schaffe Widerstand, warnt der Experte zu Recht. Eine Umfrage von Anfang Mai hat bestätigt, dass 70 Prozent der Bürger nach wie vor am liebsten mit dem Auto fahren. Deshalb tut eine Regierung, die deutlich mehr Menschen vom öffentlichen Nahverkehr überzeugen will, gut daran, sie nicht zu bevormunden, sondern ihre Wünsche zu berücksichtigen.

Immerhin hat sich die Bahn wieder ins Gespräch gebracht, mit all ihren schönen und hässlichen Seiten. Ob sich das Ticket indes zu einem "echten Knaller" entwickelt, wie der Bahnbeauftragte der Bundesregierung vermutet, wird sich zeigen. Der öffentliche Nahverkehr und insbesondere die Bahn haben deutliche Nachteile gegenüber dem Individualverkehr. Es ist in den Wagen häufig voll, eng und unbequem, das Warten nervt, für den Koffer ist häufig kein Platz, oft kommt der Zug nicht pünktlich an, der Anschlusszug fährt einem vor der Nase weg, bei Sturm bleibt der IC auf freier Strecke liegen, im Sommer geht die Klimaanlage kaputt. Und für all das müssen die Kunden auch noch viel Geld bezahlen.

Das 9-Euro-Ticket ist ein großes Experiment

Eine perfekte Welt gibt es bekanntlich nicht. Viele Menschen nutzen den ÖPNV trotz der häufig beklagten Mängel und noch mehr als bisher würden die Nachteile in Kauf nehmen, wenn es denn für sie überhaupt ein Angebot gäbe. Der öffentliche Nahverkehr ist vor allem ein Thema für die Menschen in großen Städten und Ballungsräumen. Doch auch Berufspendler, die täglich vom Land in die Großstadt fahren müssen, freuen sich über einen attraktiven Nahverkehr am Arbeitsort. Dass sie deshalb auf ihr Auto verzichten würden, ist realitätsfremd.

Kritiker meinen, das 9-Euro-Ticket werde die Probleme in diesem Sommer verschärfen. Die Aktion ist deshalb vor allem ein Experiment. In den 1990er-Jahren sorgte ein ähnliches Angebot für teils chaotische Zustände in den Zügen. Das Schöne-Wochenend-Ticket, mit dem bis zu fünf Personen für sehr wenig Geld quer durch Deutschland fahren konnten, sollte die leeren Regionalzüge an den Wochenenden füllen. Das Ziel wurde deutlich übertroffen.

Bestenfalls entsteht etwas Neues daraus

Bahn und Verkehrsverbünde verweisen darauf, dass sich in den vergangenen Jahren vieles verbessert habe. Die Anbieter und die Landesregierungen haben sich daher trotz aller Bedenken auf das Wagnis eingelassen. Es stimmt, die Aktion ist teuer und unvorbereitet. Aber mal ehrlich, ein Staat, der plötzlich einen Rabatt auf Spritpreise gewährt, darf sich diese PR-Aktion für den ÖPNV wohl leisten.

Ein niedriger Preis und ein bundesweit einheitliches, einfaches Angebot überzeugen offenbar, wie das 9-Euro-Ticket zeigt. Mit Jahres-Abo-Modellen haben Länder wie Österreich und die Schweiz bereits positive Erfahrungen gemacht. Aber ÖPNV und Bahn müssen ihre Fahrgäste vor allem schneller ans Ziel bringen als das Auto, wenn sie wettbewerbsfähig sein wollen.

Das 9-Euro-Ticket sollte kein Strohfeuer bleiben. Bestenfalls entsteht daraus für die Zukunft etwas Neues.

E-Mail an Karin Schlottmann