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Die Reform des ÖPNV – was kommt nach dem 9-Euro-Ticket?

Das neue Ticket kommt gut an. Diesen Schwung will Verkehrsminister Wissing nutzen, um das Ticketangebot im Nahverkehr zu modernisieren. Wie das aussehen könnte.

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Viele Reisende stehen auf dem Bahnsteig am Hamburger Hauptbahnhof. Reger Pfingst-Reiseverkehr hat für volle Züge gesorgt. Wie geht es nach dem 9-Euro-Ticket weiter?
Viele Reisende stehen auf dem Bahnsteig am Hamburger Hauptbahnhof. Reger Pfingst-Reiseverkehr hat für volle Züge gesorgt. Wie geht es nach dem 9-Euro-Ticket weiter? © Georg Wendt/dpa

Von Jana Kugoth und Caspar Schwietering

Nach dem Pfingstwochenende zieht die Nahverkehrsbranche – trotz teils chaotischer Szenen in ganz Deutschland – eine positive Bilanz. Am ersten Wochenende nach der Einführung des Neun-Euro-Tickets mussten zwar in Großstädten wie Köln, Hamburg oder Berlin zeitweise überfüllte Bahnsteige gesperrt werden.

Von 400 übervollen Zügen pro Tag, die keine Fahrgäste oder Fahrräder mehr mitnehmen konnten, berichtet Ralf Damde, der Vize-Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats DB Regio, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Doch solche Überlastungserscheinungen hatten die Verkehrsunternehmen offenbar schon eingepreist. Auf den Ansturm sei man sehr gut vorbereitet gewesen, erklärte der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) am Dienstag.

Auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) sieht das Ticket, von dem allein die Deutsche Bahn bereits über 6,5 Millionen Exemplare verkauft hat, schon jetzt als Erfolg. "Viele Menschen haben das Neun-Euro-Ticket auch am Pfingstwochenende gerne genutzt", sagte er am Dienstag und wies darauf hin, dass Pfingsten in jedem Jahr ein absoluter Höhepunkt des Ausflugsverkehrs ist.

Der große Zuspruch zeige: "Die Leute wollen Bahn und Bus", sagte Wissing weiter. Tatsächlich kam es auch ohne Neun-Euro-Ticket in den vergangenen Jahren regelmäßig zu überfüllten Zügen.

Was bezweckt Verkehrsminister Wissing mit dem Neun-Euro-Ticket?

Um seine Klimaziele einzuhalten, muss Wissing bis 2030 doppelt so viele Fahrgäste in Fernzüge und den Nahverkehr locken. Wissing hofft, dass bei einem einfacheren Tarifsystem und niedrigeren Preisen mehr Deutsche zu Bus und Bahn wechseln. "Menschen leben nicht in Tarifzonen, Menschen wollen von A nach B", sagte Wissing der Deutschen Presse- Agentur.

Das in ganz Deutschland gültige Neun-Euro-Monatsticket für den Nahverkehr soll nun als Blaupause dienen, um verkrustete Tarifstrukturen mit unzähligen Verkehrsverbünden aufzubrechen.

Volker Wissing (FDP), Bundesminister für Digitales und Verkehr, zeigt sein 9-Euro Ticket auf seinem Smartphone.
Volker Wissing (FDP), Bundesminister für Digitales und Verkehr, zeigt sein 9-Euro Ticket auf seinem Smartphone. © Britta Pedersen/dpa

Die nötigen Reformen müssten freilich die Länder umsetzen. Mit ihnen will Wissing im Herbst einen Modernisierungspakt für den ÖPNV schließen. Nur bei nutzerfreundlicheren Strukturen gibt es mehr Geld vom Bund für den Ausbau – so lautet sein Druckmittel.

Wie könnte eine Ticket-Reform aussehen?

Der Verkehrsminister hatte die Einführung des Neun-Euro-Tickets als "Feldversuch" bezeichnet. Es sei die Chance zu prüfen, inwieweit der Preis die Einstiegshürde für den ÖPNV sei oder es auf attraktivere Angebote ankomme. "So können wir wichtige Erkenntnisse gewinnen über genau diese Frage und unser ÖPNV-Angebot entsprechend ausrichten."

Eine Idee ist das 365-Euro-Jahresticket, wie es in Wien eingeführt ist. Wienerinnen und Wiener zahlen in der österreichischen Hauptstadt einen symbolischen Euro pro Tag und dürfen damit Bus und Bahn das ganze Jahr lang zum Festpreis nutzen. Auch mehrere Kommunen in Deutschland denken über die Einführung eines Ein-Euro-pro-Tag-Modells nach, aktuell gibt es das nur vereinzelt oder für bestimmte Gruppen wie Azubis.

Wie beurteilt die Branche die Forderung nach einheitlichen Tarifen?

Dass die aktuelle Tariflandschaft mit ihren komplizierten Strukturen "nicht mehr zeitgemäß" ist, gibt auch der VDV zu, der mehr als 600 Verkehrsunternehmen vertritt. Seit mehr als 15 Jahren bemüht sich die Branche darum, ein einfacheres System zu schaffen, um die Kleinstaaterei mit Hunderten Verbünden und Einzelunternehmen abzuschaffen.

Derzeit arbeitet sie an einer bundeseinheitlichen Plattform: Mobility Inside. Diese bietet bisher nur einige lokale Angebote in Verbünden wie Rhein-Main, Rhein-Neckar, München und Leipzig. In der App können Münchner bei einem Kurzbesuch in Leipzig nun auch dort Tickets kaufen und umgekehrt.

Zudem arbeiten einige Verbünde an einem einfacheren Abrechnungssystem. Anstatt sich mit komplizierten Tarifsystemen auseinandersetzen zu müssen, sollen Fahrgäste beim Einsteigen in Bus oder Bahn automatisch eingecheckt werden, auch der Ausstieg wird automatisch erfasst. Das System ermittelt dann die zurückgelegte Strecke und rechnet den günstigsten Tarif ab. Von einer bundeseinheitlichen Lösung, wie sie bis Ende August das Neun-Euro-Ticket bietet, ist die Branche jedoch weit entfernt. Zu den aktuellen Reformplänen von Verkehrsminister Wissing wollte sich der VDV auf Anfrage nicht äußern.

Und was ist mit dem Fernverkehr?

Wie Fernzüge in ein günstiges Abomodell für den öffentlichen Verkehr einbezogen werden können, ist in Deutschland bisher noch kaum diskutiert worden. Vorbild könnte auch hier Österreich sein. Im Oktober 2021 führte Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) das Klimaticket ein.

Für 1095 Euro im Jahr (umgerechnet drei Euro am Tag) können Nutzer:innen mit Bus und Bahn in ganz Österreich fahren – auch mit den meisten Fernzügen der ÖBB sowie der privaten Westbahn. Seit der Einführung des Tickets wird zwar auch in Österreich immer wieder über überfüllte Züge diskutiert. Doch aus der Sicht vieler Beobachter:innen überwiegt der Nutzen: Deutlich mehr Menschen sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs.

Was spricht gegen ein 365-Euro-Ticket?

Die deutschen Verkehrsunternehmen fürchten, dass Städte und Kommunen auf den Kosten sitzen bleiben. "Aktuell würden 365-Euro-Tickets die Verkehrswende eher ausbremsen als beflügeln", meint VDV-Präsident Ingo Wortmann. Vier Milliarden Euro würde der damit verbundene Einnahmeverlust betragen. Das Geld fehle dann, um die nötige Angebotserweiterung und das zusätzliche Personal und den Betrieb zu finanzieren.

Außerdem habe das Beispiel Wien gezeigt, dass der Umsteigeeffekt eher gering sei. Zwar habe sich die Zahl verkaufter Jahreskarten dort seither verdoppelt. Allerdings nicht durch Neukunden. Vielmehr haben mehr Menschen die preisgünstigere Jahreskarte erstanden, statt wie zuvor auf Einzeltickets zu setzen.

Verkehrswissenschaftler:innen weisen zudem darauf hin, dass das in Wien 2012 eingeführte 365-Euro-Ticket nur funktioniere, weil zehn Jahre zuvor begonnen wurde, in den Nahverkehr zu investieren. Beispielsweise gibt es dort eine U-Bahn- Steuer, deren Einnahmen in den Nahverkehr gesteckt werden. Darüber hinaus sind die Parkgebühren deutlich höher, in der Innenstadt zahlen Autofahrer:innen hohen Summen. Das macht die Fahrt mit dem privaten Pkw unattraktiver als hierzulande.

Die Fahrradmitnahme war am Pfingstwochenende besonders schwierig.
Die Fahrradmitnahme war am Pfingstwochenende besonders schwierig. © Thomas Banneyer/dpa

Fahren genügend Busse und Bahnen?

Das kommt sehr drauf an, wie die Erfahrungen mit dem Neun-Euro-Ticket zeigen. Seit dem 1. Juni sind in vielen Städten bis zu zehn Prozent mehr Fahrgäste mit Bus und Bahn unterwegs, erklärte der VDV.

Das bestehende Angebot habe dafür locker ausgereicht. "Der deutsche ÖPNV ist in den Großstädten und Ballungsräumen gut ausgebaut und entsprechend leistungsfähig, um solche zeitlich begrenzten Spitzenlasten abzufangen", sagte VDV-Präsident Wortmann. Die gute Bilanz der städtischen Verkehrsbetriebe erklärt sich aber auch mit coronabedingt weniger Fahrgästen im Vorfeld der Aktion.

Bei den Regionalzügen ist die Lage angespannter. In vielen Ballungsgebieten ist der Schienenverkehr bereits heute stark überlastet – etwa in Nordrhein- Westfalen. Die Bahn will die zentrale Pendlerachse zwischen Köln, Düsseldorf, Essen und Dortmund ausbauen, doch das gelingt nur langsam. Auch die Hauptbahnhöfe von Hamburg und Frankfurt gehören zu den größten Engstellen im Schienennetz. Hier sind aufwendige Tunnel geplant, bis diese fertig sind, dürften aber noch Jahrzehnte vergehen.

Der Fern- und Güterverkehr der Deutschen Bahn ist derzeit kaum für die Verkehrswende gerüstet. So waren die Intercity und ICE in manchen Maiwochen nach einer Auswertung des "Spiegel" zu nicht einmal 60 Prozent pünktlich.

Hauptproblem sind die vielen Baustellen, um das marode Gleisnetz zu reparieren. Da die Bahn in den nächsten Jahren noch mehr bauen will, kann sie mehr Züge für doppelt so viele Fahrgäste nur auf Kosten der Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit auf die Schiene bringen, wie auch Bahn-Chef Richard Lutz einräumte.

Wie geht es nach dem Neun-Euro-Ticket weiter?

Die überfüllten Züge am Pfingstwochenende haben die Debatte um einen dauerhaft günstigeren öffentlichen Nahverkehr deutlich angeheizt. Die Bundesländer erneuerten am Dienstag ihre Forderungen nach mehr Geld zum Ausbau des Angebots. "Wer dauerhaft will, dass mehr Menschen den klimaschonenden ÖPNV nutzen, muss für einen Ausbau der Infrastruktur und für zusätzliche Fahrzeuge sorgen", sagte Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann. Beides setze den politischen Willen und mehr Geld voraus.

"Deshalb war und ist es ein großer Fehler, dass die Bundesregierung und allen voran der Bundesverkehrsminister sich gegen eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel entschieden haben", sagte Hermann. Wissing hatte der Forderung seiner Länderkolleg:innen nach mehr Geld – auch zum Ausgleich der gestiegenen Energiepreise und höherer Personalkosten – kürzlich eine Absage erteilt, obwohl die Länder zeitweise damit gedroht hatten, die Einführung des Neun-Euro-Tickets zu blockieren.

Auch Mobilitätsforscher Andreas Knie betont: Für einen bleibenden Wandel seien drei Monate nicht ausreichend. Die Hoffnung sei, dass die Menschen nach dem Neun-Euro-Ticket eine Rückkehr zu den komplizierten Tarifstrukturen nicht mehr akzeptieren und dann neue Wege gefunden würden, sagte Knie am Dienstag im Inforadio des rbb.

Wichtig sei vor allem Einfachheit. "Das kennen wir vom Auto, da müssen wir auch nicht nachdenken, da fahren wir einfach, und so muss es auch im Nahverkehr und auch im Fernverkehr sein", sagte der Verkehrsforscher.