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Leipziger Forscher ist nach Überwinterung aus der Antarktis zurück

Ein ganzes Jahr hat der Leipziger Wissenschaftler Martin Radenz in der Antarktis verbracht. Jetzt ist er zurück. Erstmal berichtet er hier über seine Erlebnisse und was es bedeutet so fern, so allein zu sein.

Von Stephan Schön
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Ein Selfie aus der Antarktis. Ein Jahr lang war der Leipziger Wissenschaftler Martin Radenz in der Südpolarstation Neumayer. Dort hat er Atmosphärenmessungen gemacht, die es so vorher noch nie gab. Jetzt ist der Forscher zurück im Leipziger Institut.
Ein Selfie aus der Antarktis. Ein Jahr lang war der Leipziger Wissenschaftler Martin Radenz in der Südpolarstation Neumayer. Dort hat er Atmosphärenmessungen gemacht, die es so vorher noch nie gab. Jetzt ist der Forscher zurück im Leipziger Institut. © Martin Radenz / Tropos

Dieser Arbeitsweg ist einer der kürzesten, den Martin Radenz je hatte. Er lernte ihn lieben, und hassen. Keine 300 Meter lang ist der Weg zum Job. 300 Meter, die zu den spektakulärsten auf Erden zählen. Martin Radenz wohnte für ein Jahr in der deutschen Antarktis-Station Neumayer III. Seinen Forschungscontainer hatte er in Sichtweite. Jetzt ist er zurück in Leipzig. Sein Forschungslabor, der Container, ebenso.

Für Martin Radenz beginnen nun, nach einem Jahr am Südpol, wieder ganz normale Arbeitstage. Mit vielen Menschen. Bei lieben Freunden. Es gibt wieder frisches Gemüse. Kino, Partys und Musik. Okay, Videos gab es genügend in der Polarstation, Musik auch. Aber eben alles etwas einsam. Nur zehn Personen gehörten zum Überwinterungsteam am Südpol. Normalerweise haben bis zu 50 Forscher in der deutschen Neumayer III-Station Platz. Im antarktischen Winter bleibt jedoch nur eine kleine Gruppe dort zurück. Rettung, aus welchem Grund sie auch immer nötig werden sollte, die wäre nicht vor zwei Wochen am südlichen Ende der Welt. Und auch das nur mit einem gigantischen Aufwand und bei bestem Wetter. Also besser nichts passieren lassen. Fürs Winterteam um Martin Radenz war Rettung nicht nötig, und so kam er jetzt nach einem Jahr im Eis ganz normal zurück nach Sachsen.

Die deutsche Neumayer-Forschungsstation auf dem Schelfeis der Antarktis ist die Basis für die Überwinterung gewesen. Nur zehn Forscher gehörten dort zum Team, einer war Markus Radenz.
Die deutsche Neumayer-Forschungsstation auf dem Schelfeis der Antarktis ist die Basis für die Überwinterung gewesen. Nur zehn Forscher gehörten dort zum Team, einer war Markus Radenz. © Peter Frölich / AWI

Martin Radenz ist Atmosphärenphysiker und forscht am Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig. Tropos, so steht’s auch unübersehbar am großen Forschungscontainer, der mit ihm um die Welt gereist war. Der musste extremen Stürmen, eisigen Zeiten und Dunkelheit trotzen. Und überstand es. So wie der Wissenschaftler auch. Erstmals berichtete Martin Radenz am Wochenende darüber auf dem Dresdner Wissenschaftsfestival Spin2030. Dieses war ein Kulturschock für ihn: Nach einem Jahr im Eis und mit nur ganz wenigen Kollegen um sich, nun plötzlich wieder mitten unter hunderten Menschen mit viel Lärm. Der Schock ist ihm nicht anzumerken. „Es ist ja ehrlich gesagt schön, wieder zurück und unter Leuten zu sein.“ Jetzt nimmt der Forschungsalltag im Leipziger Tropos-Institut für ihn wieder Fahrt auf.

©  SZ-Grafik

Vor mehr als sieben Jahren begann das alles. Martin Radenz war damals in der Arktis unterwegs. Erstmals mit eben diesem Container für die Atmosphärenforschung. Der Eisbrecher Polarstern war auf Expedition. Mit dabei war auch die Sächsische Zeitung mehrere Wochen. Für Martin Radenz folgte die internationale Mosaic-Expedition, bei der Container ein Jahr mit der Polarstern in der Arktis driftete. Allerdings mit wechselnder Besatzung. Er selbst war in der arktischen Polarnacht an Bord. „Was wäre denn noch wissenschaftlich interessant, fragten wir uns danach. Und wir kamen wir relativ schnell darauf, dass das die Antarktis ist. Von dort gab es noch keine Langzeitmessungen dieser Art.“

Psychologischer Eignungstest auf dem Gletscher

Wer, wenn nicht er. Er kannte die Messgeräte schon gut, er kannte die Polarnacht, und bei ihm schien es auch familiär zu passen, für ein Jahr ins Eis zu verschwinden. „Ich hatte eine wahnsinnige Lust drauf.“ Nur, Lust und Wissen und Erfahrung reichen halt nicht. Als Überwinterer braucht man noch andere Qualifikationen. Menschliche vor allem. Psychologen haben sich das zehnköpfige Winterteam daher vorab ganz genau angeschaut. Im Hochgebirge beim Gletscherkurs, unter extremen Bedingungen. Wie reagiert wer? Wer hilft wem? Das war im Jahr vor Expeditionsbeginn, also im europäischen Sommer 2022. Immer wieder kommt es bei solchen Team-Tests vor, das einzelne Kandidaten abgelehnt werden.

Der tägliche Arbeitsweg von der Neumayer-Station zum Tropos-Forschungscontainer. Bei Sonne okay, bei Sturm und Finsternis ziemlich weit.
Der tägliche Arbeitsweg von der Neumayer-Station zum Tropos-Forschungscontainer. Bei Sonne okay, bei Sturm und Finsternis ziemlich weit. © Martin Radenz / Tropos

Martin Radenz jedenfalls hatte alle Test bestanden. Die anderen neun ebenso. Und wie er heute berichtet: „Wir waren ein Super-Team für die Überwinterung.“ Mit denen könnte er es sich schon vorstellen, nochmals unterwegs zu sein. Ob auch für ein ganzes Jahr? Radenz zögert. „Das ist schon sehr, sehr lang“, sagt er schließlich und lässt die Antwort offen.

In Gedanken scheint er zurück im Dezember 2022. Im Geiste steht da noch mal die Abreise bevor. Aus dem winterlichen Deutschland ins sommerlich eisige Südpolargebiet. Weit weg von Familie, fern von Freunden. Für ein ganzes Jahr. Ohne Chance auf einen Besuch. Nur mit der Aussicht auf den einen oder anderen Video-Call per Satellit. Er und Ronny Engelmann vom Tropos brechen am 13. Dezember 2022 schließlich auf, um im südpolaren Sommer die sächsische Atmosphärenstation in der Antarktis aufzubauen.

Die Anreise dorthin ist schon krass, logistisch aufwendig. Aus der Quarantäne heraus abgeschirmt von der Welt, jenseits der Menschenmassen auf den großen Flughäfen geht es nach Süden. Jegliches Risiko für Infektionen muss halt minimiert werden. Denn ist ein Virus erst einmal in der Station, Grippe, Corona oder was auch immer, dann wird es gefährlich.

Transport mit dem Schneemobil. Bei Sonnenaufgang nach der Polarnacht ein besonderes Erlebnis.
Transport mit dem Schneemobil. Bei Sonnenaufgang nach der Polarnacht ein besonderes Erlebnis. © Martin Radenz / Tropos

In einer Chartermaschine vom Norwegischen Polarinstitut bekommen die beiden Tropos-Forscher schließlich Platz. Mit der Boeing 737 von Bremen über Oslo nach Kapstadt. Dort im Quarantäne-Hotel wartet jeder für sich allein in seinem Zimmer auf das Wetterfenster für den Flug zur Landebahn auf dem Eis. Nicht bei der deutschen, sondern bei der norwegischen Station Troll befindet sich die. Wesentlich kleinere Polarflugzeuge vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) übernehmen dann die letzte Etappe. Mit Kufen unter dem Rumpf können die letztlich im festen Schnee bei Neumayer III landen. Auch die gehört zum AWI. Während die Norweger ihre Station auf dem Eis über dem kontinentalen Festland errichtet hatten, befindet sich die deutsche Südpolarstation auf dem Schelfeis. Sie schwimmt dort also auf der dicken Scholle. Daher ist sie für große Flugzeuge eben nicht erreichbar.

Fünf bis sieben solch interkontinentale Flüge gibt es pro Jahr von Europa zur norwegischen Station Troll. Zudem kommt jeden Sommer bei der deutschen Station ein Versorgungsschiff an die Eiskante. Meist ist es der Eisbrecher Polarstern. Zu dieser Zeit herrscht Hochbetrieb bei Neumayer. Die Kabinen der Polarstation sind mit zwei bis vier Leuten belegt. An die 50 Personen arbeiten und forschen dann hier. Erst mit dem letzten Flugzeug vor dem Winter wird es wieder ruhig. Ronny Engelmann, der zweite Tropos-Forscher, ist nach dem Aufbau der Atmosphären-Station im Januar 2023 bereits wieder zurück in Leipzig. Martin Radenz indes bleibt fürs Tropos-Team vor Ort. Ein ganzes Jahr. Er soll die Technik am Laufen halten. Messen, versorgen und reparieren.

Weihnachten in der Polarstation: Ein klein wenig wie daheim und doch komplett anders. Martin Radenz hat zweimal Weihnachten dort verbracht.
Weihnachten in der Polarstation: Ein klein wenig wie daheim und doch komplett anders. Martin Radenz hat zweimal Weihnachten dort verbracht. © Dirk Heine

„Ehrlich, ein bisschen freut man sich dann auch insgeheim darauf, dass es endlich ruhiger in der Station wird. Und nicht mehr so eng ist“, gesteht er. Zehn Menschen sind dann fernab im Eis auf sich gestellt. Der Polarwinter 2023 beginnt für ihn. Schließlich kommt auch die Polarnacht Ende Mai. Der Arbeitsweg zum Container bekommt nun eine ganz neue Dimension. 300 Meter in der Dunkelheit, bei Schneesturm, eisigen 40 Grad minus und weniger. Durch den Wind wirkt die Kälte wie minus 50, minus 60 Grad. Der Weg ist kurz. Die Kälte aber beißt.

Täglich raus zur Messstation

Täglich muss Martin Radenz von der Station zu seinem Forschungscontainer. Eine Orientierungsleine weist ihm den Weg. Alle zehn Meter befindet sich eine Stange im Eis. Funkgerät und GPS sind am Mann selbst für diese kurze Distanz. „Wenn dann im Schneesturm nicht mal mehr die nächste Stange zu erkennen ist, wenn dieses dicke schwarze Seil nur wenige Meter vor dir irgendwo im Nichts verschwindet, dann musst du dich echt konzentrieren. Und gut festhalten.“ Meist geht Martin Radenz diesen Weg allein. Nur bei ganz extremer Witterung und mehr als 100 Kilometern pro Stunde Wind sind die Forscher draußen zu zweit unterwegs. Dann wird dieser kurze Arbeitsweg zu körperlichen Herausforderung. „Nein, passiert ist nie etwas.“ Aber auch er weiß, selbst kleine Fehler können unter solchen Bedingungen katastrophal enden. Da reicht ein Stolpern.

In diesem Forschungscontainer befindet sich das Labor Oceanet. Das Leibniz-Institut für Troposphärenforschung hat es gebaut in die Antarktis geschickt.
In diesem Forschungscontainer befindet sich das Labor Oceanet. Das Leibniz-Institut für Troposphärenforschung hat es gebaut in die Antarktis geschickt. © Ronny Engelmann / Tropos

Im Team hilft man sich gegenseitig. Die Meteorologen dem Atmosphärenforscher, dieser den Chemikern. Die haben ihre Messstation noch weiter weg von Neumayer. Um ja keine Verunreinigung durch die Station oder die Abgase der Schneemobile zu riskieren. Mehr als einen Kilometer weit entfernt befindet sich deren Messstelle. Selbst die Anwesenheit der Forscher könnte schon die Luft um die sensiblen chemischen Messgeräte verändern. Auf den Wind und demzufolge die Richtung der Annäherung kommt es daher an.

Der Wind hatte letztlich auch bestimmt, in welcher Richtung der Tropos-Container aufgebaut wird. Die Tür weist nach Westen und ist damit abgewandt von der stürmischen Ostseite. Sonst hätte Martin Radenz nur selten seinen Container öffnen können. Der ist vollgepackt mit Messtechnik. Ein Laserstrahl vom Lidar leuchtet grün in den Nachthimmel. Es analysiert anhand des reflektierten Lichts winzige Partikel bis in 25 Kilometer Höhe. Ein Wolkenradar gibt zudem Auskunft über die Beschaffenheit der Wolken bis in 15 Kilometer Höhe. Was ist darin? Wasser, Eis?

Ein absolut seltenes Bild: Vor den grünen Polarlichtern leuchtet der grüne Laserstrahl der Leipziger Wissenschaftler vom Tropos in den Nachthimmel über der Antarktis.
Ein absolut seltenes Bild: Vor den grünen Polarlichtern leuchtet der grüne Laserstrahl der Leipziger Wissenschaftler vom Tropos in den Nachthimmel über der Antarktis. © Martin Radenz / Tropos

Die polarerprobten Messgeräte machen aus diesem Container ein weltweit einzigartiges Atmosphärenlabor. Das Projekt nennt sich Coala und wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Die Daten von einem Jahr am Südpol sind bisher einmalig und wichtig. Denn welche chemischen und physikalischen Prozesse im Detail in der eisigen Hochatmosphäre der Antarktis ablaufen, ist bisher nur zum Teil verstanden. Wolken können beispielsweise kühlen, oder eben auch wärmen. Das hängt von ihrer Beschaffenheit ab. Wenn die Wissenschaft darüber mehr weiß, kann sie Wetter- und Klimamodelle verbessern.

Es ist inzwischen Juli 2023. Das Licht kommt an die Südpolarstation zurück. Die Wärme folgt erst Monate später. Dann sind es nur noch minus 20 Grad, wenn im antarktischen Sommer, im November also, die vielen Wissenschaftler in die Station einziehen. Im Dezember vergangenen Jahres ist Ronny Engelmann wieder mit dabei. Er baut den Leipziger Forschungscontainer zusammen mit Martin Radenz ab und macht in reisefertig für den Schiffstransport. Für die beiden Tropos-Forscher gibt es indes den schnelleren Luftweg zurück nach Sachsen. Wieder über die Station Troll.

Und nun? Für Martin Radenz beginnt zurück in Leipzig ein neuer, anderer Stress. Nein, nicht der deutlich längere Arbeitsweg durch den Leipziger Berufsverkehr ist dies. Es sind die Unmassen Daten, die von ihm möglichst schnell zu neuen Erkenntnissen geformt werden müssen. Für ein besseres Wissen von Wetter und Wolken.