Freischalten Freischalten Deutschland & Welt
Merken

Vom Sex der Algen

Was Nathanael Pringsheim um 1850 entdeckt, verblüfft die Fachwelt. Ein Nachfahre hat das nun aufgeschrieben.

Von Jana Mundus
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Mathematik und Biologie sind die Themen von Andreas Deutsch. Für ein Buch beschäftigte er sich nun mit Algenerotik.
Mathematik und Biologie sind die Themen von Andreas Deutsch. Für ein Buch beschäftigte er sich nun mit Algenerotik. © SZ/Veit Hengst

Sex unter dem Mikroskop. Was Nathanael Pringsheim da erblickte, hatte vor ihm noch nie jemand gesehen. Direkt vor seinen Augen fand der Befruchtungsakt der Mikroalge Vaucheria sessilis statt. In diesem Moment war der Naturwissenschaftler der erste Mensch auf der Welt, der einen Fortpflanzungsakt unter dem Mikroskop beobachtete. Nicht allein das war Mitte des 19. Jahrhunderts eine Sensation. Dass sich eine vermeintlich niedere Lebensform wie eine winzige Alge sexuell vermehrt, verblüffte die wissenschaftliche Welt und machte den jungen Forscher bekannt.

Mit nur 27 Jahren wird er wenig später jüngstes Mitglied in der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Gut 170 Jahre später stößt ein Dresdner Wissenschaftler in seiner Familiengeschichte auf Pringsheim, einen entfernten Verwandten. Andreas Deutsch, Professor und Abteilungsleiter am Zentrum für Informationsdienste und Hochleistungsrechnen der TU Dresden, ist fasziniert. Ihn fesselt die Lebensgeschichte des Vorfahren. Jetzt hat Deutsch sein unterhaltsames Buch über ihn veröffentlicht: „Urformen der Sexualität“.

Befruchtungsakt der Mikroalge Vaucheria sessilis, dessen Beschreibung Nathanael Pringsheim über die Grenzen hinaus berühmt machte. Die Zeichnung stammt von ihm selbst.
Befruchtungsakt der Mikroalge Vaucheria sessilis, dessen Beschreibung Nathanael Pringsheim über die Grenzen hinaus berühmt machte. Die Zeichnung stammt von ihm selbst. © Nathanael Pringsheim

Mit einem Schmuckkästlein seiner Tante in Bremen fängt alles an. Schon als Kind weiß Andreas Deutsch um die Bedeutung dieses Kleinods. Darin bewahrt die Tante wertvolle Erinnerungsstücke der Familie auf. Darunter befindet sich das Originalmanuskript für eine Grabrede. Kein Geringerer als Albert Einstein hat sie geschrieben und gehalten – zu Ehren von Rudolf Ladenburg. „Ladenburg war der Onkel meines Onkels“, erklärt Deutsch. Der Physiker studierte bei Wilhelm Conrad Röntgen, arbeitete mit dem späteren Nobelpreisträger Max Born zusammen, wanderte 1932 in die USA aus und wurde dort Leiter des Palmer Physical Laboratory an der Universität Princeton. In der neuen Heimat arbeitete er auch eng mit Albert Einstein zusammen.

Forscherleben zwischen den Stühlen

Die eigene Familiengeschichte lässt Andres Deutsch nicht mehr los. Vor fünf Jahren beginnt er, sich intensiver damit auseinanderzusetzen. Rudolf Ladenburg ist der erste Anker für seine Entdeckungsreise in die Vergangenheit. Stück für Stück recherchiert Deutsch die Verästelungen in dessen Familienstammbaum – und stößt auf Pringsheim. „Der Vater von Ladenburg war mit der Tochter von Nathanael Pringsheim verheiratet“, erklärt er. Pringsheim also. Andreas Deutsch weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu viel über den Botaniker. Schnell stellt er jedoch fest, dass dieser Bedeutendes geleistet hat.

„Er gehört zu den Begründern der modernen Naturforschung“, sagt der Professor. Biologie und Botanik existierten zu jener Zeit noch nicht als eigenständige akademische Disziplinen. Pflanzen interessieren den jungen Pringsheim, doch sein Vater besteht auf ein Medizinstudium. „Seinen botanischen Studien geht er deshalb unter dem Deckmantel der Medizin nach“, beschreibt es Deutsch und lächelt. 1848, mitten in Zeiten der Deutschen Revolution, promoviert er in Berlin zum Wachstum der gewöhnlichen Erbse.

Nathanael Pringsheim um 1860, als er in Berlin zum ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt wurde.
Nathanael Pringsheim um 1860, als er in Berlin zum ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt wurde. © Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Andreas Deutsch kann gut nachvollziehen, was seinen entfernten Verwandten an der Botanik reizte. Aufgewachsen in Wiesbaden, begeistert sich der heutige Dresdner schon früh fürs Grün, versucht sogar als Kind, fleischfressende Pflanzen zu züchten. Trotzdem studiert Deutsch später im Hauptfach Mathematik, im Nebenfach Biologie. Diese Kombination ist damals ein Novum. „Das musste ich sogar bei der Universität Mainz extra beantragen“, erinnert er sich. In Bremen promoviert er später in einer Forschungsgruppe, die sich mit Zellbiologie beschäftigt. Schimmelpilze stehen im Zentrum. Deutsch ist fasziniert von den Mustern und Formen der Biologie. Vom Regelmäßigen im fantastisch anmutenden Wunderwerk des Lebens.

Als Theoretischer Biologe beschäftigt er sich heute intensiv mit der Analyse biologischer Muster. Ihn interessiert, wie Krebserkrankungen entstehen, oder er untersucht die Mathematik von Pandemien. „Mathematik und Biologie – ich saß schon immer zwischen den Stühlen“, erklärt er. Genau dieser Umstand bringt ihn 2001 jedoch ans Zentrum für Informationsdienste und Hochleistungsrechnen. „Anwendungen auf großen Computern haben etwas mit Biologie zu tun.“ Wenn Superrechner rechnen, brauchen sie Algorithmen, die wiederum auf Modellen fußen. Es sind solche Modelle, für die Deutsch und sein Team Experten sind.

Lebensprinzip Fortpflanzung

Wer Andreas Deutsch zuhört, der spürt die Begeisterung für die Themen, die ihn bewegen. Der staunt über die Energie, mit der er schon über neue Buchideen spricht oder über die Musik, die er liebt und der er als Saxofonist nachgeht. Es ist diese Leidenschaft für eine Sache, die ihn auch beim Schreiben antreibt. „Ich habe für das Buch Dinge aufgeschrieben, die mich interessiert haben, Facetten aus seinem Leben aufgegriffen, die auch andere interessant finden.“ Er wollte keine wissenschaftliche Abhandlung schreiben und auch keine trockene Biografie. „Ich will, dass die Menschen Pringsheim kennenlernen.“

Dessen wichtigste Lebensleistung ist die seinerzeit überraschende Erkenntnis der Sexualität als allgemeines Lebensprinzip. Fortpflanzung, das wurde durch seine Arbeit klar, betrifft nicht nur „höhere“ Organismen. Er zeigte eine sexuelle Evolution auf, die in Zwischenstufen von Algen über Moose und Farne gewissermaßen aus dem Wasser kriecht und zu den heutigen Samenpflanzen führt. Damit nicht genug. Pringsheim rief mit dem Pflanzenphysiologischen Institut in Jena eines der weltweit ersten botanischen Institute ins Leben. Er war Mitinitiator der Deutschen Botanischen Gesellschaft, gründete Fachzeitschriften und ein meeresbiologisches Forschungsinstitut auf Helgoland.

Polyederstadium einer Grünalge der Gattung Hydrodictyon (Wassernetz). Im Inneren des Polyeders sind Sporen zu erkennen, aus denen asexuell neue Netze entstehen können. Nathanael Pringsheim zeigte, dass sich die Grünalge auch sexuell fortpflanzt.
Polyederstadium einer Grünalge der Gattung Hydrodictyon (Wassernetz). Im Inneren des Polyeders sind Sporen zu erkennen, aus denen asexuell neue Netze entstehen können. Nathanael Pringsheim zeigte, dass sich die Grünalge auch sexuell fortpflanzt. © Nathanael Pringsheim

Im Bücherregal von Andreas Deutsch stehen drei Bücher von Pringsheim. Es ist eine Sammlung seines Werks, die seine Nachkommen 1895 veröffentlichten. Ausgerechnet in seiner Heimatstadt Wiesbaden stößt Deutsch vor einiger Zeit auf die Originalausgaben. Vor allem die Schautafeln mit Pringsheims Handzeichnungen von dem, was er unter dem Mikroskop sah, ziehen ihn in ihren Bann. Kunst sei das, was Pringsheim da gemacht hat. „Oder Algenerotik“, sagt der TU-Wissenschaftler.

Im eigenen Onlineshop vertreibt Andreas Deutsch T-Shirts und Pullover mit Aufdrucken der Algen-Zeichnungen. Noch so eine Idee, die ihn begeistert hat. „Pringsheim hatte viel vor, mehr als er in einem Leben schaffen konnte“, sagt sein Nachfahre. Und man bekommt das Gefühl, dass vielleicht genau das zur familiären DNA gehört.

Andreas Deutsch:
Urformen der Sexualität. Wie Nathanael Pringsheim den Algen die Unschuld nahm.
GNT-Verlag,
260 Seiten, 160 Abb., 24,80 €