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"Unterwegs nach Hause": Bautzener Fotograf legt Bilanz in Bildern vor

Seit 50 Jahren ist Jürgen Matschie mit der Kamera in der zweisprachigen Lausitz unterwegs. Für seine neue Retrospektive hat er Fotos ausgesucht, die Geschichten erzählen.

Von Miriam Schönbach
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Für seine Foto-Lebens-Essenz hat Jürgen Matschie mehrere Tausende Negative und Bilder gesichtet. Zu sehen ist seine Auswahl in den Buch "Unterwegs nach Hause".
Für seine Foto-Lebens-Essenz hat Jürgen Matschie mehrere Tausende Negative und Bilder gesichtet. Zu sehen ist seine Auswahl in den Buch "Unterwegs nach Hause". © Steffen Unger

Bautzen. Es ist diese eine Moment, den ein Fotograf für ein perfektes Bild abpassen muss. Am 1. Mai 1975 hält Jürgen Matschie genau einen solchen Augenblick auf dem Platz vor dem Bautzener Theater fest. Mit in die Luft gereckter Faust steht ein kleiner Junge dem Ernst-Thälmann-Denkmal gegenüber. Die Leute am Bildrand huschen gerade von der Mai-Demonstration nach Hause, deren Teilnahme verpflichtend für jeden DDR-Bürger war. Es ist dieser eine Moment, der aus einem fast zufälligen Schnappschuss ein Bild mit Geschichte macht.

Mit in die Luft gereckter Faust steht ein kleiner Jungen dem Ernst-Thälmann-Denkmal gegenüber. Das Bild entstand am 1. Mai 1975 auf dem Platz vor dem Bautzener Theater.
Mit in die Luft gereckter Faust steht ein kleiner Jungen dem Ernst-Thälmann-Denkmal gegenüber. Das Bild entstand am 1. Mai 1975 auf dem Platz vor dem Bautzener Theater. © Jürgen Matschie

Genau solches "Kopfkino" mit Emotionen und Erinnerungen möchte der Bautzener Fotograf beim Betrachter auslösen. Seit 50 Jahren befasst sich Jürgen Matschie mit dem Blick durch die Linse mit der zweisprachigen Lausitz im Wandel, ihren Menschen mit Umbrüchen und Neuanfängen. In dem neuen Fotoband „Duce domoj – Unterwegs nach Hause“ zeigt der 70-Jährige eine Auswahl der Arbeiten aus der Zeit von 1972 bis 2022. „Ich habe versucht, Bilder auszugraben, die Geschichten erzählen, die mit mir und der vergangenen Zeit zu tun haben“ sagt er.

Fotograf geht mit Retrospektive auf ganz persönliche Reise

Jürgen Matschie geht mit seiner Retrospektive auf eine sehr persönliche Reise. Schon auf den ersten Seiten findet sich ein inniger Moment der Eltern am Teich in Spreewiese. In dem kleinen Dorf wird Jürgen Matschie am 28. Februar 1953 geboren. Mit einer Pova Start geht er auf erste Motivsuche und dann auch mit einem Bekannten aus dem Dorf in die Dunkelkammer. Sie reproduzieren Fotos von Rockbands aus West-Büchern.

So nimmt die Lichtbild-Faszination ihren Anfang, immer häufiger ist Jürgen Matschie mit seiner Kamera unterwegs. Beim NVA-Wehrdienst 1972 findet er Gleichgesinnte in der Fotogruppe.

„Das Bildnis der kartoffelschälenden Großmutter 1974 wurde dabei eines der ersten Fotos, welche für Matschie langfristige Gültigkeit entfalten sollten: das bewusste Unterlassen fotografischer Inszenierung, die Abbildung in Schwarz-Weiß und der persönliche Bezug zur Lausitz“, schreibt Museologe Alexander Polk, der sich um die neue Matschie-Sonderausstellung im Sorbischen Museum kümmert, in der Neuerscheinung.

Fotos zeigen Veränderung von Bergbaulandschaften

Dessen erster Teil knüpft an Matschies ersten eigenen Bildband „Doma – Fotografien aus der Lausitz“ aus dem Jahr 1995 an. „Damals bin ich mit 100 Bildern und einer Idee in den Verlag gegangen. Ich habe meine Auswahl auf den Tisch gelegt und jeder, der hereinkam, begann, Geschichten zu erzählen. Das ist die Kraft eines dokumentarischen Bildes“, sagt der Fotograf im Rückblick. In diesem Augenblick weiß er, dass dieses Buch mit seinem Blick auf seine Heimat funktionieren wird. Seit 1988 arbeitet der „Erzähler über die Zeiten hinweg“ als freiberuflicher Fotograf mit ganz unterschiedlichen Auftraggebern.

In „Duce domoj – Unterwegs nach Hause“ legt er eine Auswahl dieser Arbeiten zwischen zwei Buchdeckel. Es finden sich neben den Erkundungen in den sorbischen Dörfern seriellen Arbeiten, wie zum Beispiel blasse Farbfotografien der Bergbaulandschaften vor und nach den riesigen Baggern.

In seinem Buch „Brunica - Leben mit der Braunkohle“ erzählt er 2011 noch in Schwarz-Weiß, was es heißt, am Lausitzer Grubenrand zu leben. Ganz unverstellt schauen die Porträtierten aus Spreewiese 2006 in die Kamera. Am Rand eines Tags des offenen Denkmals im Schloss entstehen diese Bilder im Dorfsaal, wo er frühere Portraits aus seinem Heimatdorf angeknipst an eine Wäscheleine zeigt.

Mehrere Tausende Negative gesichtet

Überhaupt faszinieren seine Streifzüge durch heimatliche Gefilde, wenig klischeehaft, mit dem Blick für den Moment, wie auf den abseits sitzenden Jungen ohne Pioniertuch bei der Zeugnisausgabe in Ralbitz 1981 oder den müden Arbeitern in der Brikettfabrik Knappenrode 1990. Eindrückliche Portraits und Landschaften finden sich auch im dritten Teil des Buchs, das über die Heimat nach Osteuropa führt. Für seine Foto-Lebens-Essenz hat der Chronist mehr mehrere Tausende Negative und Bilder gesichtet.

Ein Teil seines Vorlasses ging mit dieser Bestandsaufnahme im Februar 2023 an die Deutsche Fotothek. Mehr als 600 Fotografien aus allen Schaffensphasen sind so bereits über das Fototheksportal der Dresdener Institution online zugänglich. Die spätere Übernahme des gesamten Archivs ist bereits vertraglich vereinbart, auch Museen haben Bilder erworben. Die vergangenen 15 Jahren stellte sich der Bautzener als Herausgeber in den Dienst seiner Fotografen-Kollegen aus der Nieder- und Oberlausitz. Deren Nachlässe hat er für Bildbände im Domowina-Verlag editiert.

Buchpremiere findet in Spreewiese statt

„Das ist mein Rechenschaftsbericht. Jetzt gibt es nur noch Zugaben“, sagt Jürgen Matschie. Er habe viel gesehen, erlebt und sich zuweilen nicht getraut, auf den Auslöser zu drücken. „Ich inszeniere nicht, ich beobachte still – und im besten Fall wird dieses Foto zu einem Sinnbild der Zeit“. Seine Buchpremiere findet selbstverständlich in Spreewiese statt. Ganz bestimmt bringt er die Kamera mit – für ein vielleicht doch mögliches weiteres Kapitel unter der Überschrift „Unterwegs nach Hause“.

Die Buchpremiere „Ducy domoj – Unterwegs nach Hause“ findet am Dienstag, dem 3. Oktober 2023, 18 Uhr, im Schloss Spreewiese statt.
Vom 12. November 2023 bis zum 25. Februar 2024 zeigt das Sorbisches Museum in Bautzen die Sonderausstellung „Ducy domoj – Unterwegs nach Hause. Jürgen Matschie, Fotografien 1972 bis 2022“.