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Leidenschaft fürs gute Sehen: Optikerin denkt auch mit 76 Jahren nicht ans Aufhören

Mit über 50 Berufsjahren gehört Ingrid von Bergen-Wedemeyer zu Sachsens dienstältesten Optikermeisterinnen. In ihr Geschäft in Bautzen kommen Kunden auch von sehr weit her.

Von Miriam Schönbach
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Ingrid von Bergen-Wedemeyer, die in Bautzen das Geschäft „Das gute Sehen“ betreibt, zählt zu den dienstältesten Augenoptikermeisterinnen in Sachsen.  Ans Aufhören denkt sie noch lange nicht.
Ingrid von Bergen-Wedemeyer, die in Bautzen das Geschäft „Das gute Sehen“ betreibt, zählt zu den dienstältesten Augenoptikermeisterinnen in Sachsen. Ans Aufhören denkt sie noch lange nicht. © Steffen Unger

Bautzen. Das Prozedere ist immer ähnlich. Ingrid von Bergen-Wedemeyer nimmt bedacht die neue Brille aus dem Etui und legt das Unikat auf ein Tablett mit Spiegel. „Setzen Sie bitte die Brille auf und schauen Sie in die Ferne“, fordert sie freundlich, aber bestimmt ihr Gegenüber auf. Auf der Bautzener Steinstraße rauscht an diesem Nachmittag bereits der Feierabendverkehr vorbei. Der Kunde kommt ursprünglich aus der Schweiz. Mit dem neuen Modell auf der Nase verlässt er „Das gute Sehen“ in Bautzen.

Vor 20 Jahren hat sich Ingrid Bergen-Wedemeyer mit dem Optikerladen selbstständig gemacht. Am 14. März 2004 begrüßte die heute 76-Jährige ihre erste Kundin, damals noch im Jahreszeitenhaus in der Inneren Lauenstraße. An diesen Augenblick erinnert sich die Selbstständige noch ganz genau. „Für mich ging damals ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Ich wollte nach 13 Jahren bei Fielmann etwas Eigenes machen“, sagt die Handwerkerin.

Anfangs gehörte der weiße Kittel zur Berufskleidung

Zwei Jahrzehnte später denkt sie noch nicht ans Aufhören. Denn der Beruf macht ihr so viel Spaß wie am ersten Tag. Gemütlich setzt sie sich in einen Sessel an den Tisch mit Blick nach draußen. Jedem Gast bietet sie einen Espresso mit einem Glas Wasser an. Auf dem Sofa steht eingerahmt die Urkunde zum „staatlich geprüften Augenoptikermeister“ vom 17. Juli 1972. Über fünf Jahrzehnte liegen zwischen jenem Tag und heute.

Ein Bekannter vermittelt ihr 1964 den Ausbildungsplatz beim Optiker Lenz. Sie lernt den Beruf von der Pieke auf, Brillengläser von Hand zu schleifen und mit der Bröckelzange in Form zu bringen, weißer Kittel inklusive. Jene Berufskleidung ist längst an den vielzitierten Nagel gehängt, die Leidenschaft für „gutes Sehen“ gibt die zweifache Großmutter zuweilen sogar an den Enkel weiter.

Brillen sind die Leidenschaft von Ingrid von Bergen-Wedemeyer. Vor 20 Jahren hat sie sich in Bautzen mit einem Optikerladen selbstständig gemacht.
Brillen sind die Leidenschaft von Ingrid von Bergen-Wedemeyer. Vor 20 Jahren hat sie sich in Bautzen mit einem Optikerladen selbstständig gemacht. © Steffen Unger

Von der Ausbildung in Bautzen macht sie sich auf Weg zu Optikermeister Erich Scholz (1900 – 1982) nach Zittau. Er ist eine Institution in der Stadt, Handwerksmeister durch und durch und lehrt sie die Leidenschaft für den Beruf und wie sich Glas in Form bringen lässt. Damals gibt es noch keine Formschablone, Augenmaß ist gefragt, um beispielsweise zwei identische Gläser für rechts und links in der Brille zu schleifen.

Von Zittau geht es nach Jena. An der Fachschule für Augenoptik absolviert sie dort ihre Meisterausbildung. Gut 30 Leute sind in der Klasse, die meisten von ihnen kommen aus Augenoptiker-Dynastien. Mit dem Abschluss in der Tasche kehrt die Liebhaberin klassischer Musik zurück in ihre Heimatstadt an der Spree. Bei einem Optiker ist keine Stelle frei, stattdessen heuert sie als Klinikoptikerin an. „In der Poliklinik machten wir Brillenbestimmungen und Sehtests vom Kind bis zum Senior. Wir haben die halbe Stadt versorgt und Erblindungen, schlimmste Verletzungen miterlebt, aber auch dass Patienten wieder besser schauen konnten“, erinnert sie sich.

Diese Zeit prägt Ingrid von Bergen-Wedemeyer. Ein jähes Ende bringt die Wende. Mit der Umstrukturierung des Gesundheitswesens werden auch die Zentren mit Fachärzten unter einem Dach abgewickelt. „Mein Chefarzt fragte mich damals: Haben Sie sich eine Arbeit gesucht – oder muss ich mich um Sie sorgen“, blickt die Bautzenerin zurück. Sorgen musste er sich nicht, beim Besuch der Fachmesse „Opti“ 1990 hatte die gut ausbildete Augenexpertin bereits Kontakte zum Brillenpapst Fielmann geknüpft.

Ihre Spezialität sind Brillenglasbestimmungen

Im Juni 1990 stellt sich Ingrid von Bergen-Wedemeyer beim Imperium-Gründer Günter Fielmann vor, ein gutes Jahr später eröffnet sie nach einer zweiten Schnellausbildung beim Filialisten in Sachen Gleitsichtbrille, Kunststoff-Gläser und Co. das Fielmann-Geschäft an ihren heutigen Laden-Standort. Sechs Augenoptiker werden angestellt, der Nachholbedarf der Ostdeutschen beim Thema Brille ist riesig, und die Werbung kennen auch alle: „Brille? Fielmann“.

Doch mit den Jahren wächst die Idee, noch einmal eigene Wege zu gehen. Bereut hat sie diesen Schritt nicht. Ihre Spezialität sind die Brillenglasbestimmungen, Handwerk eben. Mittels einer Messbrille oder einer speziellen Apparatur werden dabei verschiedene optische Linsen mit unterschiedlichen Stärken vor das Auge gehalten. Geduld gehört dazu, Können und Zuhören und zuweilen eine Tasse Espresso. Die weiteste Anreise in ihr Geschäft hat ein Amerikaner, den kürzesten Weg die Friseurin von nebenan. Es kommen Kinder genauso wie 85-Jährige, die sich nach dem „Guten Sehen“ sehnen.

Schaufenster als Werbefläche für altes Handwerk

Und wie geht es mit dem Laden in der Steinstraße weiter? „Ich schaue von Jahr zu Jahr und suche natürlich einen Nachfolger“, sagt Ingrid von Bergen-Wedemeyer und weiß , dass der Fachkräftemangel auch den Optikerberuf trifft. Deshalb stellt sie ihre Schaufenster anderen Handwerker quasi als Werbefläche zur Verfügung. Orgelbau Eule, Schneider, Orthopädie-Schuhmacher und Töpfer haben sich dort schon hinter Glas präsentiert. Ein Steinmetz oder ein Korbmacher fehlen noch in der Sammlung. Bei Interesse können sich Interessenten gern bei einer der dienst-ältesten Optikermeisterinnen Sachsens melden.