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"Wenn ich die Lage in der Ukraine für eine Sekunde vergessen kann, bin ich glücklich"

Wer hat 2022 im Landkreis Bautzen etwas Besonderes geschafft oder erlebt? Heute: Albina, die vor dem Krieg in der Ukraine floh und ein neues Zuhause in Cunewalde fand.

Von Tim Ruben Weimer
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Die 15-jährige Ukrainerin Albina Bakukha lebt mit ihrer Familie und ihrer Katze Asja in Cunewalde. Inzwischen liebe sie Deutschland, sagt sie. Das sah kurz nach ihrer Ankunft im März noch ganz anders aus.
Die 15-jährige Ukrainerin Albina Bakukha lebt mit ihrer Familie und ihrer Katze Asja in Cunewalde. Inzwischen liebe sie Deutschland, sagt sie. Das sah kurz nach ihrer Ankunft im März noch ganz anders aus. © SZ/Uwe Soeder

Cunewalde. Asja springt wie wild durch die Wohnung von Familie Bakukha. Die junge Katze mag keine Besucher und versteckt sich hinter einem an die Wand gelehnten Spiegel. Einmal habe sie sogar den Weihnachtsbaum umgerissen, erzählt Albina, die die Katze in diesem Jahr zu ihrem 15. Geburtstag geschenkt bekommen hat.

Den Weihnachtsbaum wollte ihr Vater Alexander eigentlich gar nicht aufstellen, weil er ihn zu sehr an die Heimat erinnert. "Es hatte sich für ihn zu sehr danach angefühlt, als wäre Deutschland unsere neue Heimat", erzählt Albina. "Mama und ich haben ihn dann doch überzeugt, und wir haben sogar genau die gleichen Christbaumkugeln gekauft wie in der Ukraine."

Die Familie feiert diesmal zweimal Weihnachten

Albina und ihre Eltern Alexander und Olga feiern in diesem Jahr zweimal Weihnachten. Heiligabend besuchten sie ihre deutschen Freunde und überreichten ihnen Geschenke - allen voran Thomas und Mandy, die der ukrainischen Familie die Wohnung ihrer ausgezogenen Kinder überließen. "Für mich sind sie wie eine echte, zweite Familie geworden", sagt Albina. Einen "zweiten Heiligabend" feiert sie, wie es in der Ostukraine Tradition ist, am 31. Dezember - allerdings nach dem julianischen Kalender. Das entspricht unserem 6. Januar.

"Wir feiern dann die ganze Nacht durch", erzählt die Teenagerin mit den rot gefärbten Haaren. Heiligabend schaut sie mit ihrer Familie die Weihnachtsansprache des ukrainischen Präsidenten Selenskyj und macht einen Videochat mit ihrem Bruder in Kiew - sofern bei ihm nicht wieder der Strom ausgefallen ist. In diesem Jahr ist das "deutsche" Weihnachten für sie jedoch wichtiger geworden. Zusammen mit den Russen erst im Januar Weihnachten zu feiern, fühle sich nicht mehr richtig an.

Albinas Schule in der Heimat fiel den Bomben zu Opfer

Seit der Krieg in der Ukraine ausbrach, schreibt Albina Tagebuch. Über ihre Flucht, ihr Ankommen in Cunewalde. 28 Seiten hat sie ins Handy oder ins Tablet getippt, es waren einmal mehr. "Ein paar habe ich wieder gelöscht, sie waren einfach zu traurig, zu wütend", sagt sie.

Schon 2014 bombardierten die Russen Häuser in Albinas Heimatstadt Mykolaiv in der Region Donezk im Donbas. Die rechte Seite des Flusses, genannt "Paradies-Stadt", sei nun wieder belagert, berichtet sie. Ihre Schule fiel den Bomben früh zum Opfer. Über Chat erreichten sie Bilder ihrer ehemaligen Klassenräume, in denen Bücher im Löschwasser schwammen.

Albina geht inzwischen in die neunte Klasse des Bautzener Schiller-Gymnasiums. Anders als die meisten anderen ukrainischen Schüler verließ sie schon bald die altersgemischte DaZ-Klasse, in der Deutsch als Zweitsprache gelehrt wird, und kam in eine normale, deutsche Klasse. "Ich fürchte mich vor den Tests, aber manchmal kann ich sie schon verstehen", sagt sie. Albina kann sich auf Deutsch unterhalten, geht es ihr um tiefere Gespräche, ist ihr Englisch aber lieber. "Und dabei habe ich Englisch vor zwei Jahren noch gehasst", erzählt sie.

"Ukrainer und Deutsche sind doch sehr unterschiedlich"

"Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, deutsche Freunde zu finden", sagt Albina. "Ukrainer und Deutsche sind irgendwie doch sehr unterschiedlich." Mit ihrem Klassenkameraden Nasar versteht sie sich gut, er ist ebenfalls Ukrainer. "Er ist immer gut drauf, auch wenn ich traurig bin, erzählt er einen Witz, und alles ist wieder gut." Manchmal male er im Unterricht etwas, was nur sie beide verstehen würden. "Er ist die einzige Person, mit der ich in der Schule jeden Tag Kontakt habe."

Allein 28 Stunden sitzen Albina und ihre Eltern im März im Zug durch die Ukraine. Als sie nach drei Tagen um fünf Uhr morgens an der deutsch-polnischen Grenze in Görlitz ankommen, haben sie kein Internet mehr, können sich nicht mehr bei Albinas Bruder in Kiew melden, der die Familie aus der Ferne nach Deutschland gelotst hat. Im Bahnhof warten sie auf die freiwilligen Helfer, die sie nach Cunewalde bringen. An jenem Tag hat Mutter Olga Geburtstag. "Sie hat ein sehr besonderes Geschenk bekommen", sagt Albina, "nämlich unser aller Leben."

"Nach der Flucht habe ich tagelang nur geschlafen"

"Ich habe am Anfang einfach nur geschlafen. Mein Leben war plötzlich so langsam geworden", erzählt Albina über die ersten Wochen in Cunewalde. "Eine Stunde hat sich wie fünf angefühlt." An einem Montagabend blieb sie auf dem Heimweg aus Bautzen im Bus im "Treffen der Russen" stecken, wie sie die Montagsproteste bezeichnet. "Ich hatte an meinem Schulranzen einen ukrainischen Aufkleber. Als sie den sahen, haben sie die Fahnen noch höher gerissen und ans Busfenster geklopft."

"Inzwischen interessieren mich diese Leute nicht mehr", sagt sie. "Es macht keinen Sinn, ihnen zu erklären, wie sehr mir das im Herzen wehtut. Manche Leute sind einfach Rassisten." Sie fühle sich mittlerweile in Deutschland wohl. "Ungelogen, ich liebe Deutschland. Mir ist das echt wichtig zu sagen, weil ich Deutschland anfangs gehasst habe. Ich war damals so wütend auf alles. Ich dachte, Deutschland wäre der Grund, warum ich die Ukraine verlassen musste. Aber immer, wenn ich jetzt die Situation in der Ukraine für eine Sekunde vergessen kann, bin ich glücklich. Die Tage sind wieder schneller geworden."

Nach dem Flucht-Tagebuch fängt sie nun ein neues an

Wenn Albina nach der Schule nach Hause kommt, liest sie Bücher, hört Musik oder schreibt an ihrem Tagebuch. Ihr blau gestrichenes Zimmer wirkt übersichtlich, außer Bett, Schreibtisch und einer Pflanzensammlung der Großmutter auf der Fensterbank findet sich kaum Einrichtung darin.

Ihr Flucht-Tagebuch hat sie abgeschlossen, nun fängt sie ein neues über ihr Leben in Deutschland an. Gleichzeitig engagiert sie sich im Bautzener Thespis-Zentrum. Dort organisiert sie zusammen mit anderen Ukrainern ein Filmprojekt über ihre Heimatstadt, die ungefähr so viele Einwohner wie Kamenz hat. "Ich habe mich natürlich gefragt, wie ich einen Film über die Stadt drehen kann, wenn ich nicht dort bin", sagt sie. Nun nutzt sie vor allem Archivaufnahmen, die die ehemaligen Bewohner der Stadt mit nach Deutschland gebracht haben.

Am meisten vermisse sie ihre beiden Katzen in der Ukraine, sagt sie. Asja, die sie in Cunewalde zum Geburtstag bekam, sei nun ihre fünfte Katze, erzählt sie, und bisher hätten alle die gleichen Farben gehabt: schwarz-rot-weiß gescheckt. "Für mich sind diese Farben ein Symbol für Glück."