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Jeder Schüler zählt

Um die 50.000 Jugendliche verlassen die Schule in Deutschland ohne Abschluss. Auch in Sachsen ist die Quote relativ hoch. Der zweite Bildungsweg kann neue Chancen bieten – doch er erreicht längst nicht jeden.

Von Annett Kschieschan
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Keinen Bock auf Schule? Dahinter stecken manchmal Mobbingerfahrungen, das Gefühl der Überforderung oder schwierige familiäre und soziale Verhältnisse. Oft steht am Ende der Schulabbruch.
Keinen Bock auf Schule? Dahinter stecken manchmal Mobbingerfahrungen, das Gefühl der Überforderung oder schwierige familiäre und soziale Verhältnisse. Oft steht am Ende der Schulabbruch. © AdobeStock

Mehr als acht Prozent der Jugendlichen in Sachsen verlassen die Schule ohne Abschluss. In Bayern sind es etwas mehr als fünf, in Bremen sogar rund zehn Prozent. Aber auch wenn die Zahlen je nach Bundesland variieren – das Problem bleibt gleich, denn ohne Schulabschluss bleiben viele Wege verschlossen. Das ist zuerst ein persönliches, aber durchaus auch ein gesellschaftliches Problem, denn wo Fachkräfte dringend gebraucht werden, kann man es sich nicht leisten, Bildungsbiografien mit 15 enden zu lassen. Und eigentlich gibt es genau dafür eine Lösung – den sogenannten zweiten Bildungsweg. Doch die Nachfrage danach sinkt bereits seit langem.

So lernten im Schuljahr 2022/2023 lernen an den insgesamt zehn Schulen des zweiten Bildungsweges in Sachsen 1.946 erwachsene Schülerinnen und Schüler – drei Prozent weniger als noch im Schuljahr davor. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes in Kamenz sinkt die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits seit 2006. Auch das ist kein exklusiv sächsisches Problem. Es ist viel mehr ein Problem für den Bildungsstandort Deutschland, dessen wichtigstes Kapital immer schon vor allem gut geschulte Menschen sind. Eben jene Fachkräfte, die überall gebraucht werden.

Weniger Zulauf zu Abendschulen

Vor diesem Hintergrund setzt sich unter anderem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft für die Stärkung des zweiten Bildungsweges ein. Er stehe noch immer zu wenig im Fokus, obwohl er eine – relativ – niedrigschwellige Möglichkeit bietet, fehlende Bildungsabschlüsse nachzuholen. „Sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler verlassen zurzeit unser Schulsystem ohne Abschluss, die Absolventenquoten mit mittlerem Abschluss und Hochschulreife sinken wieder. Sie brauchen diese kompensatorische Möglichkeit der Erwachsenenbildung, einen Abschluss gegebenenfalls später nachzuholen“, betonte etwa Ansgar Klinger, im GEW-Hauptvorstand zuständig für Berufliche Bildung und Weiterbildung, bei einer Fachtagung der GEW zum Thema. Individuelle Beratung kann helfen, die mögliche Scheu vor einem erneuten Schritt ins Bildungssystem zu überwinden. Denn nicht selten spielen auch psycho-soziale Gründe eine Rolle, wenn es um sogenannte Schulversager geht. Mobbing und körperliche Gewalt können ebenso ein Grund für das frühe Verlassen der Schule sein wie schwierige familiäre Verhältnisse.

In Sachsen versucht man, möglichst schon vor dem Ausstieg betroffener Schülerinnen und Schüler aktiv zu werden. Etwa über das Projekt „Produktives Lernen". Es wird an insgesamt neun Oberschulen im Freistaat angeboten und richtet sich an abschlussgefährdete Schüler der 8. und 9. Klassenstufe einer Oberschule. „Hier werden außerschulische Tätigkeiten an selbst gewählten Praxisplätzen mit dem Lernen an der Schule verbunden“, heißt es dazu aus dem Kultusministerium. Konkret lernen die Jugendlichen an zwei Tagen fächerübergreifend in der Schule und an drei Tagen im Rahmen eines Praxisprojektes, das zum Beispiel in einem Unternehmen, einer kulturellen Einrichtung oder einer Behörde angesiedelt sein kann. Ziel ist, früh eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen und jungen Leuten damit konkrete Perspektiven aufzuzeigen. Berufseinstiegsbegleiter sollen genau wie eigene Lerncamps zusätzlich individuell helfen, den frühen Schulabbruch zu vermeiden.

Assistenten und Praxisbegleiter

Man nehme das Thema sehr ernst. „Für uns zählt jeder Schüler und jede Schülerin. Klar ist aber auch, Schule kann nicht die alleinige Reparaturwerkstatt für die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen sein“, so Kultusminister Christian Piwarz mit Blick auf zunehmende Heterogenität der Gesellschaft. „Multiprofessionelle Team“ sollen hier Entspannung bringen. Insgesamt beschäftigt der Freistaat nach eigenen Angaben über 500 Schulassistenten. 230 Inklusionsassistenten helfen bei Förderung inklusiven Unterrichts. Gemeinsam mit der Arbeitsagentur werden zudem an mehr als 250 Oberschulen Praxisberater eingesetzt.

Auch der Freistaat setzt weiter auf den zweiten Bildungsweg, der an Abendoberschulen und Abendgymnasien berufsbegleitend oder in Vollzeit am Kolleg stattfinden kann. Je nach Voraussetzung kann dafür auch Bafög beantragt werden. Möglichkeiten, einen frühen Bruch der Bildungsbiografie zu vermeiden, gibt es also durchaus. Alle gefährdeten Jugendlichen damit zu erreichen, dürfte trotzdem schwer bleiben. Mit Blick auf den Fachkräftemangel ist man sich allerdings einig: Jeder Einzelne zählt.