SZ + Pirna
Merken

Die Pirnaerin, die gegen die Triage kämpft

Carola Nacke verklagte mit acht anderen die BRD. Das überraschende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes verändert das Leben vieler.

Von Heike Sabel
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Carola Nacke mit ihrem Sohn Cornelius. Für ihn, aber nicht nur für ihn kämpft sie seit Jahren.
Carola Nacke mit ihrem Sohn Cornelius. Für ihn, aber nicht nur für ihn kämpft sie seit Jahren. © Jenny Klestil

Carola Nacke kocht ihren Kaffee immer noch mit Elbwasser. Soll heißen, sie ist bescheiden, kämpferisch und bodenständig geblieben, obwohl sie seit Ende Dezember in ganz Deutschland bekannt ist.

Die Pirnaerin gehörte zu den neun Personen, die die Bundesrepublik vor dem Bundesverfassungsgericht verklagten. Das Gericht gab ihnen Ende Dezember recht. Der Gesetzgeber, also der Bundestag, hat das Grundgesetz verletzt, weil er nicht dafür sorgte, dass niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird. Das Wort, das dafür seit zwei Jahren in aller Munde ist, lautet Triage. Dieses Urteil sorgte für bundesweite Aufmerksamkeit. Auch Carola Nacke gab Interviews. Sie ist die einzige Ostdeutsche unter den neun Klägern.

Als sie nach Neujahr mit ihrem Sohn von Rostock nach Dresden mit dem Zug fuhr, schaute sie eine Bahnmitarbeiterin so an. "Dann grinste sie und sagte, Sie sind doch die Mutti aus dem Fernsehen." Ja, das ist Carola Nacke. In Holland erschien auch ein großer Artikel über sie unter der Überschrift, die Frau hinter der Geschichte. Nach wie vor gibt es Leute, die sie auch in Pirna ansprechen. "Ansonsten aber geht mein Leben normal weiter", sagt die 56-jährige Pirnaerin.

Triage in Krankenhäusern ist nicht neu

Die Klage, das Urteil, die brachten Aufmerksamkeit. Nun aber geht es darum, dranzubleiben. Der Bundestag hat vom Gericht die Aufgabe bekommen, unverzüglich gesetzliche Änderungen zu beschließen. Unverzüglich klingt zwar nach schnell, hat aber keinen Termin. "Schnell ist da alles wieder im alten Fahrwasser", sagt Carola Nacke. "Wir haben zudem die Sorge, dass man uns übergeht, wieder über uns redet, statt mit uns, auch das ist Diskriminierung." Triage ist kein Corona-Thema, es hat es schon vorher gegeben. "Nur hat es da die Gesellschaft so nicht wahrgenommen, mit Corona ist es ganz anders hochgeploppt", sagt Carola Nacke.

Denkpause für Facebook-Schreiber

Carola Nacke weiß, sie hat sich nicht nur Freunde gemacht. Den Schreiber eines Posts auf Facebook hat sie gemeldet, er hatte danach vier Wochen Zeit zum Nachdenken, sagt sie. Er hatte die Behinderten als "Krüppelbrigade" bezeichnet, für die er nun seine Gesundheit opfern müsse. Carola Nacke wird nicht müde, immer wieder zu erklären, worum es geht. Um eine gleichberechtigte Chance auf eine medizinische Behandlung für alle. Das klingt so einfach und selbstverständlich.

Carola Nacke erzählt ein aktuelles Beispiel aus Pirna. Eine 80-jährige Frau, die freitags mit Corona in die Klinik kam und sonnabends wieder nach Hause geschickt wurde. "Da soll der Pflegedienst nun eben jeden Tag kommen, hieß es salbungsvoll", sagt Carola Nacke. Wenn sie jemandem erklären soll, was Triage und das Urteil des Gerichtes bedeuten, erzählt sie das. "Es geht bei dem Urteil nicht nur um Behinderte, sondern auch um Ältere und chronisch Kranke und damit einen großen Anteil der Menschen in Deutschland."

Jetzt müssen die Experten arbeiten

Carola Nacke und ihr Sohn Cornelius gehören auch dazu. Cornelius ist schwerbehindert, Carola leidet an mehreren Erkrankungen, die sie jedoch nicht vom Kämpfen abhalten. "Nach den jetzigen Gesetzen, unter Beachtung der Gebrechlichkeits- und der Komorbiditätsskala hätten wir keine Chance auf einen Platz im Krankenhaus." Als Komorbidität versteht die Medizin eine oder mehrere Störungen oder Erkrankungen, die zu einer Grunderkrankung hinzukommen.

Ärzte müssen immer dann, wenn es nicht ausreichend Betten im Krankenhaus und insbesondere auf Intensivstationen gibt, entscheiden, wen sie behandeln und wen nicht. Eine Entscheidung, um die sie keiner beneidet und die ihnen klare Gesetze einfacher machen sollen. Doch wie sollen diese künftig aussehen, damit sie allen die gleiche Chance geben? "Da müssen sich die Experten Gedanken machen", sagt Carola Nacke. Jeder, der, wenn die Betten nicht reichen, keines bekommt, wird es für sich als Benachteiligung sehen.

Gleichberechtigung statt Vor- oder Nachteil

"Wir sind so was von wachsam, es geht um nicht weniger als die Menschenrechte", sagt Carola Nacke. Im Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht der Bundesrepublik Deutschland nämlich auch eine Verletzung der UN-Behindertenrechtskonvention festgestellt, weil Behinderte im Falle eine Triage nicht wirksam vor einer Benachteiligung geschützt werden. "Wir wollen nicht bevorteilt werden, aber eben auch nicht benachteiligt, sondern gleichberechtigt behandelt."

Sie kämpft in mehreren Gruppen, Verbänden, Vorständen. Im Landeselternrat kümmert sie sich um Inklusion. Wenn sie da Behördenvertretern gegenübersitzt, zieht sie alle Register, kennt alle Gesetze und gibt nicht auf, bevor sie für die, die ihr vertrauen, etwas erreicht hat. Einer der jüngsten Fälle: Ein Schulbegleiter für ein Mädchen in Corona-Zeiten. "Eltern lassen sich oft zu etwas überreden, was sie nicht wirklich wollen oder was nicht wirklich gut für die Kinder ist", sagt Carola Nacke. "Ich weiß, wofür ich kämpfe", sagt sie.

Das macht sie seit Jahren jeden Tag - auch für ihren behinderten Sohn Cornelius. Der hat sich heute Fleischklößchen gewünscht. Carola Nacke muss noch rasch zum Fleischer gehen.