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Politikpsychologe: Proteste gegen Rechts können Neubeginn für etwas Großes werden

Hunderttausende sind am Wochenende in ganz Deutschland für die Demokratie auf die Straße gegangen. Weitere Demonstrationen sind angekündigt. Was folgt daraus? Wird die Zustimmung für die AfD bei Wahlen sinken? Ein Politikpsychologe hat Antworten.

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Zahlreiche Menschen nehmen an einer Demonstration gegen Rechtsextremismus teil - auf Plakaten sind die Schriftzüge "AfD wählen ist so 1933" und "Menschen sind Ausländer irgendwo. Rassisten sind Arschlöcher überall." zu lesen.
Zahlreiche Menschen nehmen an einer Demonstration gegen Rechtsextremismus teil - auf Plakaten sind die Schriftzüge "AfD wählen ist so 1933" und "Menschen sind Ausländer irgendwo. Rassisten sind Arschlöcher überall." zu lesen. © Moritz Frankenberg/dpa

Magdeburg. Die anhaltenden Massenproteste gegen Rechtsextremismus in Deutschland bieten nach Ansicht des Politikpsychologen Thomas Kliche Potenzial für grundlegende politische Änderungen. Die Proteste unterschieden sich deutlich von früheren politischen Bewegungen, sagte der Professor für Bildungsmanagement an der Hochschule Magdeburg-Stendal der Deutschen Presse-Agentur. Die aktuellen Proteste könnten auch eine Antwort auf die in der Gesellschaft vorhandene Polarisierung sein und dazu beitragen, die politische Mitte zu stärken und neue Parteien entstehen lassen.

Wie bewerten Sie die aktuelle Welle von Massenprotesten gegen Rechtsextremismus und die AfD in Deutschland?

Das kann ein Neubeginn für etwas sehr Großes werden. Die ruhigen Zeiten sind leider vorbei, wir müssen den Kampf aufnehmen. Und das fühlen sehr viele, die aber in den Parteien und Verbänden keine Heimat haben. Daraus können neue politische Kräfte entstehen.

Welche psychologischen Faktoren führen dazu, dass sich so viele Menschen an den Demonstrationen beteiligen?

Erstens demokratischer Ekel, ein politisches Grundgefühl: Das reicht jetzt! Da hoppeln Neonazis und Rechtsextreme bis weit in die CDU im Land herum und fantasieren brutale Gewalt aus. Zweitens eine Enttäuschung von den Ergebnissen der Demokratie in letzter Zeit: alles zäh, langsam, verworren, wirkungsschwach. Drittens ein Vertrauensverlust in die Berufspolitik: Die bekommt die Probleme nicht auf die Reihe, nuschelt und taktiert vor sich hin. So fahren wir gegen die Wand.

Inwiefern unterscheiden sich die aktuellen Proteste von früheren Bewegungen gegen Rechtsextremismus?

Das sind keine Inseln mehr. Der Kampf gegen Rechtsextreme war bislang vermeintlich ein Luxusthema für politische Pessimisten. Diese neue Bewegung ist breit, bunt, vielfältig, spontan, und Demokratie ist ihr ein Kernanliegen. Und sie tritt auch erstmal ohne klare Handlungsziele auf, also ganz anders als Interessengruppen wie etwa die Bauern, die für ihren Geldbeutel kämpfen, oder die Parteien, denen es immer auch um Ämter geht.

Wie könnte ein solches Ziel formuliert werden, um die Bewegung zu stärken?

In drei Stufen: vernetzen, verhandeln, vermitteln. Der Kern der Sache ist ja: Die Gesellschaft muss jetzt reparieren, was die Parteien seit über zehn Jahren verschlampt haben, wenn auch mit Unterstützung der veränderungsängstlichen Mehrheiten: Wir haben echte, große Baustellen, aber keine wirklich guten, übergreifenden Lösungsprogramme.

Demokratie wird nur Bestand haben, wenn sie Lösungen für die historischen Herausforderungen liefert: Klima und Artenvielfalt, also die Neugestaltung von Energie, Verkehr, Landwirtschaft, sodann Bildung und auch soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, also mehr Gleichheit. Die vielen Organisatorenkreise und Initiativen, die Parteien, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, ja die ganze Zivilgesellschaft kann erstens mal Foren bilden, um kooperationsfähig zu bleiben. Die sollten dann lösungsorientierte Kernpunkte eines Transformations- und Demokratieprogramms aufstellen.

Thomas Kliche ist Politik- und Gesellschaftspsychologe. Er hat die Professur für Bildungsmanagement an der Hochschule Magdeburg-Stendal inne. Kliche arbeitet und forscht zudem zu Prävention und Gesundheitsförderung.
Thomas Kliche ist Politik- und Gesellschaftspsychologe. Er hat die Professur für Bildungsmanagement an der Hochschule Magdeburg-Stendal inne. Kliche arbeitet und forscht zudem zu Prävention und Gesundheitsförderung. © Benjamin Zibner/dpa

Erleben wir aktuell eine Polarisierung in der Gesellschaft oder schaffen es die Proteste, dem entgegenzuwirken und die politische Mitte stattdessen zu stärken?

Die Polarisierung ist ja ohnehin vorhanden, sie wird jetzt deutlicher. Eskalation durch Tabubrüche, Provokation und Drohungen war bislang eine Strategie der AfD. Diese Glasglocke wird jetzt zertrümmert. Damit wird auch der Selbstmythos der AfD geschleift, sie sei das Volk, sie wird als überhebliche, aggressive Minderheit kenntlich gemacht.

Welche Auswirkungen kann der Protest auf die bevorstehenden Wahlen in Deutschland haben?

Kurzfristig erhöht er die Wahlbeteiligung für die demokratischen Parteien. Langfristig wächst aber die Einsicht, dass diese Parteien seit 20 Jahren genauso den Kopf in den Sand gesteckt haben wie die Mehrheit der Bevölkerung, so dass die Parteien ersetzt oder erneuert werden müssen: Wenn aus den Protesten also eine soziale Bewegung entsteht, wird es auch neue Parteien geben – eine konfliktbereite grüne, eine integrations- und handlungsfähige linke, eine wertetreue sozialdemokratische Partei.

Sehen Sie Unterschiede bei den Protesten zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern?

Massive. Die Zivilgesellschaft ist im Westen weit stärker. Trotzdem sind im Osten in vielen Städten, auch kleineren, demokratische Kundgebungen zusammengekommen. Das ist ein starkes Zeichen, dass sich die Demokraten nicht einschüchtern lassen werden, sondern kämpfen. Und da die Parteien im Osten eine relativ dünne Personaldecke haben, sind die Aussichten mittelfristig gerade im Osten gut, dass der Einfluss der Bürgerschaft auf die Parteien wächst, und damit auch der Druck auf inkompetente oder karriereverliebte Galionsfiguren in Berlin. (dpa)