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Neues aus der Staatskapellen-Historie: Warum sich die Stasi an den Kapellnazis die Zähne ausbiss

Zwischen Kunstanspruch und staatlicher Kontrolle: Zum 475. Jubiläum der Dresdner Staatskapelle wird erstmals die wechselvolle Geschichte des Orchesters in der DDR beleuchtet.

Von Bernd Klempnow
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Das erste Konzert in der wiedererrichteten, aber noch nicht wiedereröffneten Semperoper gab die Staatskapelle am 7. Oktober 1984. Es war die Festveranstaltung zum 35. Jahrestag der DDR. Wer dirigiert hat, ist laut Opernarchiv nicht mehr feststellbar.
Das erste Konzert in der wiedererrichteten, aber noch nicht wiedereröffneten Semperoper gab die Staatskapelle am 7. Oktober 1984. Es war die Festveranstaltung zum 35. Jahrestag der DDR. Wer dirigiert hat, ist laut Opernarchiv nicht mehr feststellbar. © HisHistorisches Archiv der Staatstheater/Erwin Döring

Es ist schon erstaunlich, wie die Sächsische Staatskapelle Dresden ihr 475-jähriges Bestehen in dieser Spielzeit feiert. Es gab und gibt Sonderkonzerte, Expositionen und neuen Publikationen, die an den 22. September 1548 erinnern, als im Auftrag des Kurfürsten Moritz von Sachsen die Hofkapelle gegründet worden war. Es gibt wieder neue Bücher, die das Orchester und seine Stardirigenten wie seit Jahrzehnten verklärend würdigen.

Es gibt aber auch die faszinierende Publikation aus dem Kamprad Verlag, die sich unter dem Titel „Goldglanz und Schattenwürfe“ mit der wechselvollen Geschichte des Orchesters in den vergangenen 100 Jahren beschäftigt. Und dabei erstmals die heiklen bislang nie kritisch hinterfragten Zeiten im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus beleuchtet. Die Beiträge von gut 60 Seiten zu jedem Komplex sind so spannend wie aufschlussreich. Auch, weil die damaligen Entscheidungen der Musiker in den Kontext eingeordnet werden und so ein recht plastisches Bild der Vergangenheit entsteht.

Entnazifizierung? Fehlanzeige!

Am Sonntag nun gab es in der Semperoper ein Podiumsgespräch zu den vier Jahrzehnten im sozialistischen System der DDR. Die These: „Zwischen politischer Vereinnahmung und staatlicher Kontrolle eröffneten sich in dieser Zeit unvermutete künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten.“

Die Staatskapelle und ihr Chef Fritz Busch (1. Reihe Mitte) 1927. Busch war von 1921 bis 1933 Generalmusikdirektor der Sächsischen Staatsoper und Staatskapelle.
Die Staatskapelle und ihr Chef Fritz Busch (1. Reihe Mitte) 1927. Busch war von 1921 bis 1933 Generalmusikdirektor der Sächsischen Staatsoper und Staatskapelle. © Historisches Archiv der Sächsis

Der Autor des DDR-Kapitels Friedemann Pestel diskutierte mit der Historikerin und Buchautorin von „Jenseits der Mauer“, Katja Hoyer, dem ehemaligen Leiter der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, Frank Richter, und Friedwart Dittmann, Cellist der Staatskapelle seit 1985 – moderiert vom derzeitigen Orchesterdirektor Christoph Dennerlein. Über das im Buch Publizierte hinaus gab es nicht viel Neues. Aber es vertiefte das erstmals wissenschaftlich Erforschte.

Es machte mit der sachlichen Beschreibung der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der jeweiligen Jahrzehnte – wie den Reparationsleistungen der DDR oder der Hallstein-Alleinanspruch-Doktrin der Bundesrepublik – die Wendungen und Möglichkeiten der staatlich getragenen Kapelle verständlicher. Teils noch nie gezeigte Video- und Audiobeiträge aus dem Archiv der Staatstheater illustrierten das Gesagte.

Die Dresdner Semperoper ist das Stammhaus der Sächsischen Staatskapelle Dresden.
Die Dresdner Semperoper ist das Stammhaus der Sächsischen Staatskapelle Dresden. © René Meinig

Interessant, dass die Runde nicht mit dem Kriegsende 1945 beziehungsweise der DDR-Gründung 1949 anfing, sondern bei den großen Umbrüchen davor ansetzte. Etwa bei der Ära des langjährigen Musikchefs Fritz Busch, der 1933 durch die Theaterfachgruppe der NSDAP aus dem Opernhaus vertrieben worden war. „Rasch und umfassend arrangierte“ sich die Kapelle danach mit dem NS-Regime.

Schon vor 1933 waren 20 der 175 Musiker Mitglieder der NSDAP. Ihre Zahl wächst auf nachweisbare 81 Parteigenossen an. Dieses Arrangement hat Folgen bis weit in die DDR-Zeit hinein, weil die meisten Dresdner Musiker die Entnazifizierung ziemlich problemlos überstanden – damit die „Spielfähigkeit“ des Orchesters nicht gefährdet wurde. Der letzte Altparteigenosse verließ 1971 die Kapelle.

Es ist nur eine These, aber die Vermutung liegt nahe, dass Stasi-Leute nicht wirklich Zugang zu dem Vorzeigeorchester fanden, weil die Altnazis unter den Musikern sie abblitzen ließen. Im Gegenteil, obwohl die Kapelle bei vielen politischen Veranstaltungen im Einsatz war, gingen ihre Mitglieder auf Abstand zum Staat und zur SED. So waren nur fünf von den 140 Musikern Mitglieder der SED, einige weitere waren Mitglieder in den Blockparteien. Gerade mal sechs IMs sind nachweisbar.

Wie ein Ausländer der Chef wurde

Auch bemerkenswert: Die Kapelle war ab den 1970er-Jahren bis zu 50 Tagen auf Reisen, um die DDR zu repräsentieren und Devisen zu erwirtschaften. Reisekader waren ab den 80er-Jahren fast alle Musiker, obwohl es immer wieder bei Reisen in den Westen zu „Republikfluchten“ kam.

Spannend sind die Hintergründe, warum die Kapelle immer wieder ihre Chefdirigenten verlor. Die Mehrzahl der Maestros ging nach Berlin oder ins Ausland, sodass durch diese Zwangslage das segensreiche Engagement eines Ausländers mit Herbert Blomstedt erst möglich wurde.

Solocellist Dittmann bilanzierte die DDR-Jahre als „Gemengelage von Taktieren, Kämpfen und Anpassen“. Wie es gelingen konnte, immer die Musikexzellenz zu wahren, dafür hat er eine Erklärung: „Man wird als Spitzenmusiker in den funktionierenden Organismus aufgenommen und dabei selbst gänzlich uninteressant.“

Buchtipp: „Goldglanz und Schattenwürfe: Die Sächsische Staatskapelle Dresden in den Jahren 1923 bis 2023“, Kamprad, 260 Seiten, 39,80 Euro