SZ + Dresden
Merken

Vom Flüchtlingshelfer zum Geflüchteten

Statt sein bewegtes Leben zwischen Buchdeckel zu pressen, tritt der syrische Psychologe Motasem in Dresden lieber selbst als Buch auf. Wie das geht.

Von Nadja Laske
 6 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Psychologe Motasem Ballah Asasa kennt das Leben von vielen verschiedenen Seiten - aus eigener Erfahrung und durch die Erlebnisse seiner Klienten.
Psychologe Motasem Ballah Asasa kennt das Leben von vielen verschiedenen Seiten - aus eigener Erfahrung und durch die Erlebnisse seiner Klienten. © Sven Ellger

Dresden. Schriebe Motasem ein Buch über sein Leben, dann wäre es eins vom Neuanfang. Eine Geschichte über Verzweiflung, Mut, Hoffnung und die immense Kraftanstrengung, einen Weg aus der Ausweglosigkeit zu finden.

Wahrscheinlich würde die Erzählung nicht zuerst von ihm handeln. Sondern von den Menschen, denen er zur Seite stand, noch bevor er selbst Hilfe brauchte. Motasem Ballah Asasa hat in Damaskus Psychologie und Management studiert, und im Rahmen von UN-Programmen mit Flüchtlingen gearbeitet, die vor dem Krieg im Irak nach Syrien geflohen sind. "Meine Aufgabe war es, vor allem Frauen zu unterstützen. Dabei ging es um die Bewältigung von Fluchterfahrungen, das Thema Gleichberechtigung und die Frage, wie sie dazu beitragen können, sich und ihren Familien ein neues Leben aufzubauen", erzählt der 34-Jährige.

Dann kam das Jahr 2011 und die ersten Unruhen gegen die Diktatur des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Motasem ging zusammen mit Tausenden Landsleuten auf die Straße. Doch schon die Teilnahme an den Demonstrationen genügte, um in seiner Heimat politisch in Ungnade zu fallen. Die Lage spitzte sich für ihn so zu, dass er keine andere Lösung sah, als das Land zu verlassen und sich zunächst im Libanon, dann in der Türkei in Sicherheit zu bringen. Die Bilder der Verletzten und Toten, die von Regierungstruppen beschossen worden waren, nahm er in seinem Kopf mit.

Kinder ohne Hände, ohne Beine

"Meine Frau und ich hatten gerade erst geheiratet", erzählt er. Drei Monate nach seiner Flucht reiste sie ihm nach, und die beiden versuchten, eine neue Basis für ihr gemeinsames Leben zu finden. "Ich habe wieder begonnen, für Hilfsorganisationen zu arbeiten." Unter anderem für Ärzte ohne Grenzen stand er Männern, Frauen und Kindern psychologisch bei, die in Kriegshandlungen oder auf der Flucht schwer verletzt oder verstümmelt worden waren. "Da waren viele Kinder ohne Hände, ohne Beine", sagt er.

Doch die wirtschaftliche Lage blieb prekär. Ausreichend Geld konnte Motasem mit seiner Tätigkeit nicht verdienen, und finanzielle Unterstützung für Geflüchtete gab es damals in der Türkei nicht. "Deshalb haben wir uns entschlossen, in Großbritannien ein besseres Auskommen und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten zu suchen." Im Jahr des großen Aufbruchs von Millionen von Menschen aus Kriegsgebieten und wirtschaftlich aussichtslosen Regionen machten sich Motasem und seine Frau auf den Weg. Anders als beabsichtigt, wurden sie nach Deutschland geschickt und kamen 2015 nach Dresden.

Wieder ein Neubeginn. Wieder von null an. Fühlte sich Motasem in der Türkei mehr als Einwanderer, war er spätestens hierzulande genau so Flüchtling wie die Menschen, für die er in seinem Heimatland Syrien und später in der Türkei im Einsatz gewesen war. Aus einem Flüchtlingshelfer war ein Geflüchteter geworden.

Ausbildung zum Therapeuten zu teuer

So mühevoll es auch war, erneut alle Kräfte für den Start zu sammeln, so sehr konnte Motasem Ballah Asasa auch auf seine wertvollen Erfahrungen bauen. Er stellte sich kurzerhand in der Flüchtlingsambulanz vor, die damals im Universitätsklinikum Dresden zur Erstversorgung eingerichtet worden war. "Dort gab es wieder viele Flüchtlinge, die psychologische Unterstützung brauchten. Deshalb habe ich da eine Zeitlang ehrenamtlich als Sprach- und Kulturmittler gearbeitet."

An diese ersten Monate erinnert sich Motasem mit gemischten Gefühlen. "Ich war zwar einerseits froh, aber in Dresden habe ich mich anfangs nicht wohlgefühlt." Pegida machte Front gegen die Neuankömmlinge in der Stadt, Krawalle vor Flüchtlingsunterkünften häuften sich. Wie sollte er hier für sich und seine kleine Familie - sein ältester Sohn war schon in der Türkei geboren worden - eine Heimat finden?

Heute haben die positiven Gefühle Oberhand gewonnen. "Weil ich inzwischen so viele gute Freunde gefunden habe", sagt Motasem. Das sei das Wichtigste für ihn, neben der Gesundheit seiner Frau und der beiden Söhne, und gefolgt von der Erfüllung im Beruf.

Sein Psychologie-Studium wurde in Deutschland zumindest als Bachelorabschluss anerkannt. Als Therapeut kann er damit jedoch nicht arbeiten. Dafür braucht es eine weitere umfangreiche und kostspielige Ausbildung. Seine Anstellung bei einem freien Bildungsträger fiel Corona zum Opfer. Inzwischen jedoch hatte er über seine Frau Kontakt zum Dresdner Kaleb-Zentrum gefunden.

Mittler zwischen den Kulturen

"Im Juli 2020 habe ich mich selbstständig gemacht und wurde von vielen Freunden vor diesem Schritt gewarnt", erzählt er. Das Risiko sei zu hoch, meinten sie. Mehr als ein Jahr später bereut er dieses Wagnis nicht. Unter den Besuchern des Zentrums in der Dresdner Neustadt, das Beratungen und interkulturelle Projekte anbietet, sind viele Frauen und Familien, die psychologische Lebenshilfe benötigen.

Wieder sitzen Menschen vor ihm, die ihre teils traumatischen Fluchterfahrungen bewältigen wollen, Ängste und Depressionen haben. Doch auch Konflikte in der Ehe, Schwierigkeiten mit der Erziehung ihrer jugendlichen Kinder, Homosexualität und Mangel am Selbstwertgefühl beschäftigen seine Klienten. "In den meisten Fällen geht es darum, diese Gesellschaft möglichst gut zu verstehen und darin zurechtzukommen. Dabei versuche ich ihnen zu helfen."

Nur zu gut weiß Motasem, dass das Miteinander in der Gesellschaft immer zwei Seiten hat und nicht allein von der Anstrengung der Migranten abhängt. Das hat ihn dazu bewogen, sich für ein besonderes Projekt zu engagieren.

Statt ein Buch zu schreiben, schlüpft er lieber in die Rolle eines Buches und wird Teil der "Lebendigen Bibliothek". Dabei erzählt er rund eine Viertelstunde lang aus seinem Leben und nimmt besonders das Thema Schubladendenken in den Fokus. Er habe helle Haut und rötliche Haare, seine Söhne sind Blondschöpfe. Er könnte aus Irland kommen - oder eben aus Syrien, heißt es in seinem "Klappentext" zum Projekt des Kaleb-Zentrums.

Mit welchen Vorurteilen haben Flüchtlinge in Syrien, in der Türkei und in Deutschland zu kämpfen? Warum gibt es Vorurteile überhaupt, und wie sollte man ihnen begegnen? Darum geht es in der Lebendigen Bibliothek allgemein und ganz speziell darum, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die sonst vielleicht nie miteinander geredet hätten. Am 27. November, 10 Uhr, lädt sie schon zum zweiten Mal in Dresden ein - dieses Mal ins Foyer der Städtischen Zentralbibliothek im Kulturpalast. Ganz verschiedene lebendige Bücher sind dabei, erzählen ihre Geschichten und beantworten Fragen: Eine Frau, die ihr Kind zur Adoption freigab. Eine Mutter, die ein Kind annahm. Eine Frau, deren Sohn im Koma liegt. Und eine junge Ägypterin, die versucht, ihren Platz zwischen den Kulturen zu finden.

Ihr Anliegen ist auch Motasems Thema. "Ich bin als lebendiges Buch dabei, weil ich den Austausch fördern will", sagt er. Botschafter sind wichtig, Mittler zwischen den Menschen noch mehr.