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Nach Bomben-Entschärfung in Dresden: Blindgänger werden gefährlicher

Sprengmeister Robert Ludewig hat am Sonnabend wieder eine Fliegerbombe in Dresden entschärft. Auch nach 78 Jahren sind die Hinterlassenschaften des Weltkriegs eine große Belastung.

Von Alexander Schneider & Juliane Just
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Sprengmeister Robert Ludewig hält den Zünder der Weltkriegsbombe in den Händen, die er am Samstag in Dresden entschärfen konnte.
Sprengmeister Robert Ludewig hält den Zünder der Weltkriegsbombe in den Händen, die er am Samstag in Dresden entschärfen konnte. © Christian Juppe

Dresden. Warum in Dresden Blindgänger vor allem freitagmittags gefunden werden, bleibt auch nach Jahrzehnten das gut gehütete Geheimnis von Baggerfahrern und Bauarbeitern.

Vergangenen Freitag war es wieder so weit. Gegen 13 Uhr wurde eine Fliegerbombe US-amerikanischer Bauart bei Bauarbeiten in der Südvorstadt gefunden. Der fünf Zentner schwere Metallzylinder steckte mit dem Heck nach unten unter der Zwickauer Straße, nur wenige Zentimeter unter der Fahrbahn. Fast 80 Jahre rollte der Verkehr über der scharfen Bombe, deren Entschärfung nun zu einer der größten Dresdner Evakuierungsmaßnahmen führen sollte.

Die Fachleute vom Kampfmittelbeseitigungsdienst der sächsischen Polizei stuften den Findling, der "nur" mit einem Heckzünder ausgestattet war, als gefährlich ein. Aufgrund seiner oberflächlichen Position setzten sie den Radius des Sicherheitsbereichs auf einen Kilometer an. Trotz der Gleisanlagen und der wenigen Wohnungen in unmittelbarer Nähe addierten sich die in der Zone betroffenen Bewohner auf rund 15.000 Menschen – ein Spitzenwert.

Weltkriegsbombe musste nicht sofort entschärft werden

Immerhin: Weil die Bombe bei ihrer Entdeckung nicht erschüttert worden war – eine auf Kampfmittel spezialisierte Firma hatten die Erdarbeiten begleitet – konnte Sprengmeister Robert Ludewig es verantworten, sie nicht sofort zu entschärfen, sondern erst am nächsten Tag. Nun waren 380 Polizisten sowie 140 Kräfte der Feuerwehren und Rettungsdienste im Einsatz.

Die betroffenen Anlieger wurden über soziale Medien, die Internetseite der Stadt, Warn-Apps und Handy-Alarme über die am Sonnabend geplanten Sperrungen und die Entschärfung informiert. Bis 9 Uhr sollten sie den Bereich verlassen haben. Viele nahmen sich für den Tag etwas vor.

Wer keine Ausweichmöglichkeit hatte, erhielt einen Platz in der wieder zur Notunterkunft vorbereiteten Messe. 412 Menschen sollten es werden, darunter auch einige liegende Patienten. Shuttlebusse der Verkehrsbetriebe pendelten im Viertelstundentakt. In den beiden Pflegeheimen durften Bewohner und Bedienstete bleiben, viele Firmen hatten ohnehin zu. Kurz: Angesichts der Anzahl Betroffener hielten sich die Auswirkungen in Grenzen.

Herausforderungen für Radio Dresden und das Dampflokfest

Herausfordernd war die Situation für das Team von Radio Dresden. Am Freitagabend war klar, dass das komplette Studio im Evakuierungsbereich liegt. "Wir mussten binnen kurzer Zeit ein großes Team für eine Berichterstattung außerhalb des Hauses aufstellen", sagte Programmchefin Andrea Krüger. Reporter, Moderatoren, Nachrichtensprecher, Onliner und Techniker tüftelten an Lösungen. Durch die Corona-Pandemie gab es bereits Optionen für das Homeoffice, doch auch mobile Studios wurden über Nacht aufgerüstet oder Räume bei anderen Lokalradios bezogen.

Ab 7 Uhr begann eine Spezialsendung auf dem Sender sowie eine Online-Liveberichterstattung, um die Hörer rund um die Uhr über den aktuellen Stand zur Bombe zu informiere. Krüger: "Wir haben kurzfristig viele Herausforderungen gelöst. Das war nur durch Teamleistung möglich."

Pech hatten Tausende Eisenbahnfreunde, denn auch das Gelände des Dampflokfests lag im Sicherheitsbereich. Die Bahnfans mussten die Entschärfung abwarten, ehe sie den Lokschuppen stürmen durften. Geschlossen bleiben musste offenbar auch die Dresdner Tafel in der Zwickauer Straße - mit Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung, wie in sozialen Medien berichtet wurde.

Unterdessen wurde bekannt, dass auch die Meldesysteme nicht alle erreichen können. Einsatzkräfte berichteten etwa, dass der erst im Herbst vergangenen Jahres eingerichtete Handy-Alarm, "Cell-Broadcast", nicht von allen Handybesitzern empfangen werden könne. Das sei die Entscheidung des jeweiligen Providers. Das Gleiche galt offenbar auch für die Nutzer von Warn-Apps wie "Nina". Dagegen waren auf der Internetseite der Stadt schnell und aktuell Informationen über die anstehenden Einsatzmaßnahmen und Notunterkünfte abrufbar.

Evakuierung: Manche hatten ihre Kinder "vergessen"

Auch Sprengmeister Ludewig musste sich in Geduld üben. Mit seiner zunächst mit einigem Optimismus für 11 Uhr angesetzten Entschärfung konnte er erst gegen 14 Uhr beginnen. So lange dauerte es, ehe die letzten Bewohner das Gebiet verlassen hatten. Manche hatten ihre Kinder "vergessen", oder ihre Medikamente. Manche wollten noch irgendwelche Papiere holen, was zu Diskussionen führte. Dann rief auch noch ein Pflegedienst beim eigens eingerichteten Bürgertelefon der Stadt an und meldete einen Patienten, an den offenbar keiner gedacht hatte – und so verstrichen die Stunden.

Für Ludewig war es der erste Einsatz, den er als Sprengmeister alleine verantwortete. "Mein Meisterstück", wie er sagte. Der 40-jährige Dresdner hatte den Zünder in knapp einer halben Stunde herausgeschraubt. Das Leitwerk der Bombe hatte den Heckzünder geschützt, er sei daher kaum deformiert gewesen: "Man muss auch mal Glück haben."

Der Sprengmeister warnt davor, dass noch immer mit vielen Blindgängern in Dresden gerechnet werden muss – und ihr Zustand angesichts der Zeit immer stärker verwittert, was die Gefahr, die von ihnen ausgeht, nicht verringere.

Vor sechs Monaten, beim letzten Entschärfungseinsatz in der Friedrichstadt, hatten Ludewig und seine Kollegen ferngesteuert den Zünder mit einem Wasserstrahl von der Bombe trennen müssen. Auch da war es jedoch möglich, dass sich die Betroffenen über Nacht auf die Maßnahmen einstellen konnten.

Die gut 3.000 Bewohner konnten an jenem 5. Oktober die Nacht noch zu Hause verbringen. Kitas und Schulen, Geschäfte und Gewerbetreibende kündigten ihre Schließung an, viele waren ohnehin auf Arbeit außerhalb des Gefahrenbereichs. Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten mussten nicht sofort einen nächtlichen Großeinsatz hochfahren. Auseinandersetzungen mit uneinsichtigen Nachbarn blieben allen erspart.

Damals wie auch an diesem Wochenende wurde größere Zeit, die allen bleibe, mit Art und Zustand von Bombe und Zünder begründet, vor allem, dass sie bei der Entdeckung nicht erschüttert worden seien. "Wenn es umsetzbar und zu verantworten ist, machen wir das auch", sagte Ludewig dazu.