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Victor Klemperer, Dresden und der Judenhass - damals und heute

Dresden, Judenhass und Victor Klemperers Tagebuch: Wie der Antisemitismus von damals bis heute wirkt. Ein Gastbeitrag des Schriftstellers Renatus Deckert.

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Der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer wurde vor allem durch seine Tagebücher aus der NS-Zeit bekannt, die auch verfilmt wurden. Er starb 1960 in Dresden.
Der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer wurde vor allem durch seine Tagebücher aus der NS-Zeit bekannt, die auch verfilmt wurden. Er starb 1960 in Dresden. © picture alliance / dpa

In Victor Klemperers Tagebuch aus den Jahren 1933 bis 1945 gibt es unzählige Stellen, bei denen mir der Atem stockt oder ich unwillkürlich die Lippen aufeinander presse. Eine davon ist der Eintrag vom 24. Juni 1943. Zwar unterscheidet er sich kaum von anderen Passagen, in denen Klemperer festhält, wie andere auf seinen Judenstern reagieren. Und doch berührt er mich mehr als viele andere.

„Vox populi: Eine Gruppe radelnder Jungen, vierzehn bis fünfzehn Jahre, um zehn abends in der Wormser Straße. Sie überholen mich, rufen zurück, warten, lassen mich passieren. ‚Der kriegt einen Genickschuß ... ich drück‘ ab ... Er wird an den Galgen gehängt – Börsenschieber ...‘ und irgendwelch Gemauschel.“

Man sich kann die Bedrohung ausmalen, die Klemperer empfand: die verächtlichen Blicke der Halbwüchsigen, ihr antisemitisches Geplapper, die Mordfantasien. Doch was mich fast ebenso sehr verstört, das ist der Ort, an dem dies geschieht. Die Wormser Straße in Dresden: ich kenne sie gut. In einer der Altbauten, die dort den Krieg überstanden, wohnen heute meine betagten Eltern. Wann immer ich sie besuche und, von der Straßenbahn kommend, in die Wormser Straße einbiege, fällt mir dieser Tagebucheintrag ein.

Immer tiefere Höllenkreise

In Dresden bin ich geboren und aufgewachsen, und auch wenn ich schon lange anderswo lebe, begleitet mich diese Herkunft wie ein Rucksack. An manchen Tagen fühlt er sich so leicht an, als würde mir jemand zärtlich die Hand auf die Schulter legen; an anderen zieht mich sein Gewicht fast zu Boden. Wenn ich Victor Klemperers Tagebuch lese, wiegt meine Dresdner Herkunft zentnerschwer.

Es ist meine Stadt, in der Klemperer schon kurz nach der Machtübergabe an Hitler um sein Leben fürchtet. „Eine Explosion wird kommen – aber wir werden sie vielleicht mit dem Leben bezahlen, wir Juden“, notiert er am 3. April 1933. Doch statt einer Explosion vollzieht sich der Terror in einem von Jahr zu Jahr fürchterlicheren Crescendo. Klemperer hat seinen Dante gelesen: Ein ums andere Mal kommt er in seinen Aufzeichnungen auf das „Inferno“ zu sprechen und sieht die Juden in immer tiefere Höllenkreise hinabbefördert.

Als Student las ich das Tagebuch zum ersten Mal: mit heißer Stirn und einem bis heute anhaltenden Gefühl von Scham über das, was sich Jahrzehnte zuvor in meiner Stadt abgespielt hatte. „Warum lebst du noch, du Lump?!“, wurde Klemperer angeblafft: eine Beschimpfung unter vielen. Wie ignorant und empathielos, wie schäbig, ja abgrundtief böse sich viele Dresdner gegenüber ihren jüdischen Nachbarn verhalten hatten – es war kaum zu ertragen.

Dresden war keine "unschuldige" Stadt

Seither kann ich nur den Kopf schütteln, wenn von der „unschuldigen Stadt“ die Rede ist, die am 13. Februar 1945 „sinnlos“ in Schutt und Asche gelegt wurde. Eine Stadt kann nicht schuldig oder unschuldig sein; ihre Bewohner schon. Und eins ist klar: Die große Mehrheit der Menschen, die damals in Dresden lebten, hat den Charaktertest nicht bestanden.

Doch es gab auch andere Begebenheiten, und Klemperer notiert sie so akribisch wie die täglichen Beschimpfungen. Die grauhaarige Frau am Wasaplatz, die auf ihn zukommt, um ihm lächelnd die Hand zu schütteln: „Sie wissen schon, warum!“ Oder der Arbeiter auf dem Bahnübergang, der laut zu ihm sagt: „Kopf hoch! Die Lumpen sind bald zu Ende!“ Man glaubt, die Ermutigung zu spüren, die Klemperer aus jeder dieser Bemerkungen zog. Und man begreift, dass in Zeiten des Terrors eine kleine solidarische Geste nicht weniger wiegt als die großen Akte des Widerstands.

Seit einigen Jahren gehe ich an Schulen, um aus Klemperers Tagebuch zu lesen und über Judenvernichtung und Antisemitismus zu sprechen. Es war noch vor den Protesten der sogenannten Querdenker, bei denen sich erwachsene Menschen Judensterne an die Brust hefteten und eine Elfjährige erklärte, bei ihrer Geburtstagsfeier unter Corona-Regeln habe sie sich gefühlt wie Anne Frank. Schon vorher konnte man spüren, wie in diesem Land etwas zu bröckeln begann und sich ein gesellschaftlicher Konsens aufzulösen schien. Ich wollte etwas tun gegen die grassierende Geschichtsvergessenheit und gegen die Vogelschiss- und Schuldkult-Rhetorik der rechten Rattenfänger. Die Gleichgültigkeit gegenüber einem Antisemitismus, der sich achtzig Jahre nach Auschwitz unverhohlen äußerte, fand ich unerträglich.

„Wir sind die Letzten. / Fragt uns aus. / Wir sind zuständig“, heißt es in einem Gedicht von Hans Sahl, das mich nie losgelassen hat, seit ich es als Fünfzehnjähriger im Radio hörte. Die Letzten aber werden immer weniger. Wer wird zuständig sein, wenn niemand mehr da ist, um Zeugnis abzulegen? Wie gut, dass es heute so viele Menschen gibt, die sich zuständig fühlen. Ich ahne, warum. Es werden die gleichen Beweggründe sein, aus denen ich an manchen Tagen in aller Frühe in den Zug steige, nach Magdeburg oder Stendal, nach Braunschweig oder Bremerhaven, um an einer Schule von Victor Klemperer zu erzählen.

"Nie wieder!" heißt auch: aufklären

„Nie wieder!“ lautet die Forderung, die an Gedenktagen in aller Munde ist. Doch es genügt nicht, sie mit mahnendem Unterton auszusprechen. Es gilt, sie mit Leben zu füllen. Und das heißt: aufzuklären.

Dass es einer solchen Aufklärung bedarf, wird mir immer wieder bewusst. Da war der Schuldirektor, der mich fragte: „Victor Klemperer war also Jude. Aber seine Frau war Deutsche, oder?“ Ich sagte: „Auch Victor Klemperer war Deutscher.“ Oder der Schüler, der mich nach einer Lesung ansprach: „Woher wollen Sie wissen, dass das mit den Gaskammern wirklich stimmt?“ Und der junge Mann, der „für einen Freund“ fragte, was ich antworten würde, wenn er sage, er glaube das alles nicht?

Die Schüler, die heute vor mir sitzen, sind nicht viel älter, als die Jungen in der Wormser Straße waren, an jenem Sommerabend 1943. Was mag aus ihnen geworden sein? Hat man sie kurz vor Kriegsende noch mit Panzerfäusten losgeschickt? Kamen sie bei den Luftangriffen auf Dresden zu Tode? Oder überlebten sie und wuchsen später zu linientreuen Funktionären des kommunistischen Regimes heran?

Unwahrscheinlich, dass auch nur einer von ihnen noch am Leben ist. Wenn doch, würde ich ihn gern fragen, was er heute über sein damaliges Tun denkt. Ob ihm die Erinnerung daran nicht die Schamesröte ins Gesicht treibt? Womöglich würde er mit den Schultern zucken und das Ganze als Dummejungenstreich abtun. Oder würde er mir entgegnen, dass an Hitlers Furor gegen die Juden ja schon „etwas dran“ gewesen sei?

Doch was mich noch mehr interessiert: Was haben die Jungen von der Wormser Straße später ihren Kindern und Enkeln erzählt? Was haben sie ihnen vorgelebt und weitergegeben? Welches Wissen, welche Erfahrungen, welche Vorurteile? Und welche Brocken nie verdauter Nazi-Ideologie? Kaum zu glauben, dass die Welle des Rechtsextremismus, die schon bald nach 1989 durch Ostdeutschland rollte, aus dem Nichts kam.

Damals, als ich Victor Klemperers Tagebuch zum ersten Mal las, konnte ich mir nicht vorstellen, dass eines Tages im Land der Täter wieder Juden um ihr Leben fürchten müssten. Wahrscheinlich war das naiv – ja, ganz sicher war es das.

Es war ein paar Tage nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober, bei dem so viele Juden an einem Tag getötet wurden wie seit dem Holocaust nicht mehr, als mein Blick auf einen Tagebucheintrag fiel, dem ich bis dahin keine besondere Beachtung geschenkt hatte. Jetzt stockte mir der Atem, als ich unter dem Datum des 5. April 1942 las: „Die Gespanntheit der Situation und, dementsprechend, die Grausamkeit in judaeos nehmen täglich zu. Neueste Verordnung: Ein Judenstern ist an den Wohnungen der Juden anzubringen.“ Kurz zuvor hatte ich gehört, dass in Berlin Häuser, in denen Juden lebten, mit einem Davidstern markiert worden waren.

Ein Augenblick der Zuversicht

Bei der Lesung am anderen Morgen spürte ich, wie mir Klemperers Worte, die ich schon so oft vorgetragen hatte, noch näher gingen als sonst. Immer wieder erklärte ich, ordnete ein, schilderte, was mich besonders betroffen machte. Ich sprach darüber, was Juden weltweit gerade ertragen müssen und dass dies nichts anderes sei als blanker Antisemitismus. Ich hob den Händedruck der Frau am Wasaplatz und die Worte des Arbeiters hervor und sprach davon, wie wichtig es sei, auch heute Solidarität zu zeigen.

Als ich zu der Stelle kam, an der Klemperer das Erlebnis auf der Wormser Straße schildert, hielt ich einen Moment inne. Ich musste an die jüdischen Kinder denken, die heute Angst haben, zur Schule zu gehen, weil sie attackiert werden könnten wie vor achtzig Jahren Victor Klemperer.

Und wieder war es ein Zufall, der meinen Blick lenkte: diesmal auf den Tagebuch-Eintrag vom Vortag. Ich las: „Gestern Abend in der Wormser Straße radelt ein älterer Arbeiter – soweit ich das im Dämmerlicht erkennen konnte – hinter mir her, dicht an mich heran und sagt mit gutmütiger, väterlicher Stimme: ‚Es kommt auch schon mal wieder anders, nicht wahr, Kamerad? ... Hoffentlich recht bald‘ – worauf er im Bogen zurückfährt und in eine Seitenstraße biegt ...“

Anders als die erwähnten Solidaritätsbekundungen hatte ich diese Stelle nie vorgelesen. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, halb Dresden habe damals zu den Juden gestanden. Die Beschimpfungen und Bedrohungen, denen Klemperer ausgesetzt war, nehmen im Tagebuch einen ungleich größeren Raum ein. An diesem Morgen las ich sie. Und als in die Gesichter der Schüler blickte, die, wie mir schien, genauso bewegt waren wie ich selbst, spürte ich so etwas wie Erleichterung, Zuversicht – wenigstens für ein paar Augenblicke.

Unser Autor Renatus Deckert, geboren 1977 in Dresden, lebt als Schriftsteller in Lüneburg und schreibt den literarischen Newsletter „Wolken und Kastanien“. Dieser Text ist zuerst in der Süddeutschen Zeitung erschienen.