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Warum ich dafür bin, dass jeder sein Geschlecht ändern kann

Silvia Rentzsch engagiert sich im Verein Trans-Inter-Aktiv in Zwickau. Im Interview spricht sie über das neue Gesetz zur Selbstbestimmung, Angst vor zu frühen Entscheidungen und missbräuchlicher Nutzung.

Von Kornelia Noack
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Silvia Rentzsch ist Chefin des Vereins Trans-Inter-Aktiv in Mitteldeutschland.
Silvia Rentzsch ist Chefin des Vereins Trans-Inter-Aktiv in Mitteldeutschland. © Mario Dudacy/Verein Tiam e.V.

Nur zwei Minuten hat es gedauert, dann wurde aus einem 23-jährigen Schweizer eine Frau – zumindest auf dem Papier. Doch sein Plan, auf diese Weise der Wehrpflicht zu entgehen, ging nicht auf. Denn zu dem Zeitpunkt war der Mann bereits bei der Armee gemeldet. Was er nach eigener Aussage „halb aus Jux, halb aus Protest“ getan hat, hat einen ernsten Hintergrund. Seit 2022 kann in der Schweiz jeder unkompliziert seinen Geschlechtseintrag ändern. Helfen soll das trans Menschen, Intersexuellen und Nichtbinären.

In Deutschland hat die Ampelkoalition im Sommer 2022 die Eckpunkte und nun den Entwurf für das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt. Es soll das Transsexuellengesetz von 1980 ersetzen. „Für die Mehrheit unserer Gesellschaft ändert sich dadurch nichts, für eine kleine Minderheit jedoch sehr viel“, sagt Silvia Rentzsch vom Verein Trans-Inter-Aktiv in Mitteldeutschland (Tiam) mit Sitz in Zwickau. Sie hilft anderen trans- oder intersexuellen und nicht-binären Menschen, ihren Platz im Leben zu finden.

Frau Rentzsch, kann so etwas wie in der Schweiz bald auch bei uns passieren?

Nein. Zum einen kann jeder aus Gewissensgründen den Dienst an der Waffe verweigern. Zum anderen sieht das Gesetz eine Sonderregelung vor. Männer sollen im Verteidigungs- oder Spannungsfall nicht durch Änderung ihres Geschlechtseintrags einer möglichen Einberufung entgehen können.

Was wird sich durch das neue Selbstbestimmungsgesetz ändern?

Menschen, die ihren falschen Geschlechtseintrag korrigieren möchten, werden vom Staat noch immer so behandelt, als wären sie krank. Sie müssen dafür ein Gerichtsverfahren führen und sich psychiatrischen Begutachtungen unterziehen. Dabei werden sehr intime und entwürdigende Fragen gestellt, worunter die Betroffenen stark leiden. Das Selbstbestimmungsgesetz soll Menschen nun die Möglichkeit geben, ihren Geschlechtseintrag durch eine einfache Erklärung beim Standesamt zu ändern.

Haben die Mitarbeiter die Möglichkeit, die Erklärung zu hinterfragen?

Nein, das schließt das Gesetz ausdrücklich aus. Nur wenn offensichtlich falsch ist, dass der gewählte Geschlechtseintrag nicht der Geschlechtsidentität entspricht, kann das Standesamt eine Prüfung veranlassen. Das dürfte jedoch die Ausnahme sein.

Frei entscheiden, zu welchem Geschlecht man sich zugehörig fühlt: Das Familien- und Justizministerium rechnet mit etwa 4.000 Erklärungen pro Jahr.
Frei entscheiden, zu welchem Geschlecht man sich zugehörig fühlt: Das Familien- und Justizministerium rechnet mit etwa 4.000 Erklärungen pro Jahr. © 123rf

Welche Geschlechtseintragungen sind derzeit möglich?

Im Personenstandsregister kann man sich derzeit als männlich, weiblich oder divers eintragen. Keine Angabe einzutragen, bleibt ebenso möglich. Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung können übrigens schon seit 2018 Änderungen mit einer Erklärung beim Standesamt vornehmen. Allerdings wird dafür entweder ein ärztliches Attest oder eine Versicherung an Eides statt verlangt.

Das vereinfachte Verfahren soll auch für Jugendliche ab 14 Jahren möglich sein. Ist das nicht zu früh?

Kinder und Jugendliche können schon jetzt nach dem Transsexuellengesetz ihren Geschlechtseintrag ändern lassen. Das wissen nur viele nicht. Künftig müssen für Kinder bis 14 Jahre die Sorgeberechtigten die Erklärung abgeben. 14- bis 17-Jährige brauchen dafür die Zustimmung des Sorgeberechtigten oder, wenn diese fehlt, die Zustimmung durch das Familiengericht. Für uns viel wichtiger ist jedoch: Auch Kinder und Jugendliche müssen sich nicht mehr psychiatrisch begutachten lassen.

Und falls sie später doch feststellen, dass die Erklärung zu früh war?

Dann können sie als Erwachsene den Eintrag wieder ändern. Änderungen des Geschlechtseintrags und auch des Vornamens können mehrmals vorgenommen werden. Dazwischen muss aber immer mindestens ein Jahr ab Rechtskraft liegen. Ausgenommen von dieser Frist sind Kinder und Jugendliche, um die Hürde einer erneuten Änderung zu minimieren, falls sie in ihrem sozialen Umfeld mit unangenehmen Konsequenzen konfrontiert sind.

Oft folgen der offiziellen Geschlechtsänderung angleichende Operationen. Diese sind aber in der Regel nicht mehr rückgängig zu machen?

Dass das neue Gesetz nichts zu körperlichen Anpassungen sagt, ist Absicht. Es freut uns, dass diese Forderung angenommen wurde. Denn das eine ist ein Verwaltungsvorgang, das andere sind medizinische Eingriffe. Darüber sollte nicht der Staat entscheiden. Das ist Sache von Ärzten, Eltern und den Menschen selbst.

Im Umkehrschluss heißt das, dass eine geschlechtsangleichende Operation nicht für die Änderung des Geschlechtseintrags nötig ist.

Das ist jetzt auch schon so. Im Jahr 2011 hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil gesagt, dass nicht der Körper und seine Merkmale bestimmen, zu welchem Geschlecht man sich zugehörig fühlt, sondern die Psyche und Geschlechtsidentität wichtige Faktoren sind.

Was kritisieren Sie am neuen Gesetz?

Dass es noch ganz viele offene Fragen hat und versucht, rechtliche Sachverhalte zu regeln, die bereits klar geregelt sind. Nicht nachzuvollziehen ist zum Beispiel, dass die Änderung des Geschlechtseintrags erst nach drei Monaten in Kraft treten soll. Das ist zu lange und spiegelt nur die Bedenken des Staates wider, dass gesunde Erwachsene nicht in der Lage sind, eine höchstpersönliche Erklärung abzugeben. Wenn jemand heiratet, ist die Ehe ja auch nicht erst drei Monate später gültig.

Eine besondere Rolle fällt intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen zu. Was sagt das Gesetz hier?

Intergeschlechtliche Menschen haben eigene körperliche Merkmale, die nicht in eine binäre Welt passen. Viele werden im frühesten Kindesalter auf Druck der Medizin nach Eindeutigkeit und Diskriminierungsfreiheit oder dem Wunsch der Eltern nach Eindeutigkeit operiert, so dass ihnen ein Geschlecht zugeordnet werden kann. Bislang war es so, dass ältere Kinder und Jugendliche den Eintrag beim Standesamt nach Vorlegen eines Attestes ändern lassen konnten, und die Eltern wurden darüber in Kenntnis gesetzt. Nach dem neuen Gesetz werden die 14- bis 17-jährigen Intergeschlechtlichen nun genötigt, ihre Eltern vor Gericht zu ziehen, wenn diese mit der Änderung nicht einverstanden sind. Das kann nicht der Wille des Gesetzgebers sein.

Kritiker befürchten, dass sich Männer zu Frauen erklären und zum Beispiel in Frauenschutzräume eindringen könnten. Wie schätzen Sie das ein?

Das sind Ängste, die nichts mit der Realität zu haben. Bei dem Gesetz geht es darum, Menschen in ihrer Geschlechtsidentität anzuerkennen. Transsexuelle werden schon heute in Frauenschutzräumen aufgenommen, weil sie schutzbedürftig sind. Diese Räume sind aber in der Regel nicht öffentlich bekannt, daher besteht hier keine Gefahr. Zumal jede der Einrichtungen erst ein Schutzbedürfnis feststellen muss, bevor ein solcher Zugang gewährt wird.

Wie ist es mit Frauen-Saunen oder Fitness-Studios?

Hier gilt das private Hausrecht. Das heißt, die Besitzer entscheiden im Rahmen der Gesetze weiterhin selbst, wer Zugang hat und wer nicht. Das soll jedoch nicht bedeuten, dass das Hausrecht genutzt wird, um Menschen, die einem binären Geschlechterbild nicht entsprechen, auszuschließen.

Wann rechnen Sie mit der Umsetzung des Selbstbestimmungsgesetzes?

Im besten Fall wird der Entwurf noch einmal überarbeitet. Nicht nur von uns, auch von Vereinigungen wie dem Kinderschutzbund, dem Deutschen Institut für Menschenrechte oder Paritätischen Wohlfahrtsverband gibt es Empfehlungen, die berücksichtigt werden sollten, etwa zur 3-Monate-Regelung. Im schlechtesten Fall geht der Gesetzentwurf so durch und wird im Bundesrat beschlossen. Dann werden erst wieder Gerichte entscheiden müssen, ob die Regelungen so anwendbar sind.