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Das besondere Grab der Lucie Silex

Bombennacht am 13. Februar 1945 in Dresden: Das Kriegsgrab einer prominenten Britin in Kreischa erzählt eine erschütternde Geschichte.

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Der Autor Matthias Schildbach vor Lucie Silex´ ungekennzeichneter Grabstelle in Kreischa, in der Hand ihre Begräbniskartei.
Der Autor Matthias Schildbach vor Lucie Silex´ ungekennzeichneter Grabstelle in Kreischa, in der Hand ihre Begräbniskartei. © Matthias Schildbach

Von Matthias Schildbach

Kreischas Kriegsgräberstätte wächst. 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges nimmt die Anzahl der Kriegsgräber auf dem dortigen Friedhof zu. Erst 2019 kamen zwei unbekannte deutsche Soldaten hinzu. Die Landesdirektion Sachsen ließ sie durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge aus einem Feldgrab hierhin umbetten. Das Einzelgrab des Kruzianers Siegfried Berndt, über dessen Schicksal die SZ am 13. Februar 2021 berichtete, wurde im vergangenen Jahr als anzuerkennendes Kriegsgrab beantragt. Diese Häufung nahm die Friedhofsverwaltung zum Anlass, noch einmal alle verfügbaren Unterlagen zu prüfen, ob noch mehr Kriegsgräberstätten vorhanden sind.

Ein Begräbnis wirft Fragen auf

In der auffällig stark gefüllten Begräbniskartei des Jahres 1945 fand sich ein ungewöhnlicher Hinweis. Die britische Staatsbürgerin Lucie Hardinge-Tapp, verehelichte Silex, geboren 1906 in Leigh on Sea in der Grafschaft Essex, verstorben am 14. Februar 1945 in Dresden, Pfotenhauerstraße 90. Nach der Bergung in Dresden beerdigt auf dem Friedhof Kreischa am 8. Juni 1945.Der Sterbeort ließ sich schnell identifizieren, es war die Dresdener Frauenklinik. Die Überführung der Toten ausgerechnet nach Kreischa löste Befremden aus. In jenen Tagen war es nicht ungewöhnlich, dass beim Beräumen von Trümmern immer wieder Leichname zum Vorschein kamen. Doch diese wurden auf den städtischen Friedhöfen in Sammelgrabanlagen bestattet und nicht in Einzelgräbern im Dresdner Umland.

Die karge Spur führte zu einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie Englands. Lucie war die Tochter von Cecile Hardinge-Tapp und Rose Derouet. Als Lucie geboren wurde, lebte die Familie im gehobenen Badeort Southend-on-Sea an der Themsemündung. Ihr folgten noch zwei Geschwister, 1908 Kathleen und 1909 der Bruder Gordon.

Die Familie lebte im mondänen Luxus der „Belle Époque“, der sogenannten „schönen Zeit“, die in Großbritannien die ausgehende viktorianische Ära eingeläutet und der Erste Weltkrieg jäh beendet hat. Der Vater hatte als Händler gehobener Weinsorten und Spirituosen mit einem Geschäft im Zentrum Londons ein Vermögen gemacht. Die Sommerzeit verbrachte die Familie in Nizza oder Cannes am Mittelmeer, sie genossen das Leben in vollen Zügen. Die Hardinges besaßen ein eigenes Schiff, einen Frachtensegler, der zur Jacht umgebaut worden war.

Heirat mit deutschem Journalisten

Im Mai 1926 lernte Lucie in einem Londoner Hotel den Deutschen Karl Silex kennen. Silex war Korrespondent der Berliner Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ), einer der renommiertesten Zeitungen der damaligen Zeit. Der aus Stettin stammende Pfarrerssohn hatte sich im Ersten Weltkrieg zum Kommandanten eines Minensuchbootes emporgedient, später nach dem Ökonomie-Studium in Berlin nach seiner Promotion 1921 die Journalistenlaufbahn eingeschlagen.

Karl Silex erinnerte sich in seiner Autobiografie „Mit Kommentar. Lebensbericht eines Journalisten“, die 1968 erschien: „Abends machte [ein älterer Herr] mich mit seiner Frau, einer gebürtigen Französin, und seiner Tochter bekannt, die er frisch von der Schulbank weg nach Brüssel in ein Pensionat bringen wollte, wo höhere Töchter den letzten Schliff erhielten und dazu noch ihr Französisch verbesserten. Der alte Herr ahnte nicht, dass er schon im Januar des nächsten Jahres mein Schwiegervater sein würde.“ 1927 heirateten Lucie und Karl in der St.-Martin-Kirche in London. Mit den finanziellen Möglichkeiten ausgestattet, lebte das Paar Silex über Monate in einem Hotel, bis sie sich im zentralen Distrikt South Kensington in London ein eigenes Haus leisteten.

Eine Engländerin in Deutschland

Als in Deutschland Hitler an die Macht kam, änderte sich auch für Lucie und Karl Silex das Leben. Gerade, als Lucie ihr erstes Kind erwartete, war Karl von seinem Arbeitgeber zur Übernahme der Chefredaktion zurück nach Berlin berufen worden. „Meine Mitteilung von unserer bevorstehenden Übersiedelung nach Berlin löste bei ihr einen Schock aus, von dem sie sich in diesen kritischen Wochen nicht erholt hat. Bei dem Gedanken, unter dem Hitlerregime leben zu müssen, fürchtete sie das Schlimmste für uns und das erwartete Kind.“

Am 3. Juli 1933 erlitt Lucie eine Fehlgeburt. Monatelang blieb sie in einem Londoner Krankenhaus. Ihre Eltern holten sie zu sich zur Erholung an der See. Erst 1934 folgte sie ihrem Mann nach Berlin. Die Ehe erholte sich nicht mehr von den Erschütterungen dieser Jahre, 1935 wurde sie geschieden. Lucie behielt ihre durch die Heirat erworbene deutsche Staatsbürgerschaft.

Karl Silex, Lucies Ehemann, 1943 bei der Ableistung des Wehrdienstes in Kapitänsuniform.
Karl Silex, Lucies Ehemann, 1943 bei der Ableistung des Wehrdienstes in Kapitänsuniform. © privat

Karl Silex indes machte weiter Karriere. Er gehörte dem „Führerrat der Deutschen Presse“ an, bis 1943 blieb er Chefredakteur der DAZ. 1943 bis 1945 leistete er als Korvettenkapitän Kriegsdienst. Nach dem Krieg gründete er 1949 die Wochenzeitung Deutsche Kommentare, die er bis 1957 herausgab. 1955 bis 1963 war er Chefredakteur des Berliner Tagesspiegels. Karl Silex starb 1982 in Köln als hoch angesehener Journalist der Bundesrepublik Deutschland, er galt als „letzter deutscher Chefredakteur der alten Schule“.

Stille Jahre

Über den Verbleib Lucies nach der Scheidung von Karl Silex gibt es keine Informationen. Wie Karl in seinen Memoiren schrieb, blieb sie in Deutschland. Mit Karl, der in jener Zeit unter renommierter Adresse auf der Rauchstraße in Berlin im Regierungsviertel wohnte, hatte sie eine Einführung in die High Society der Reichshauptstadt und der deutschen Aristokratie gefunden. Erst für 1945 gibt es durch die im Kreischaer Kirchenarchiv gefundene Beerdigungskartei Informationen.

Lucie lebte zu Beginn des Jahres 1945 auf Schloss Frauenhain bei Riesa. Die letzte Besitzerin des Adelssitzes vor Kriegsende war Veronika von Globig-Weißenbach. Veronikas Mutter war eine geborene Freiherrin von Kapp-her auf Lockwitz, somit bestanden verwandtschaftliche Beziehungen dahin. Verheiratet war Veronika mit Carl Franz Clemm von Hohenberg, einem in den USA tätigen Bankenmagnaten und deutschen Abwehr-Agenten, dessen Biografie ein Buch zu schreiben wert wäre.

Welchen anderen Grund sollte es für Lucie Silex geben, als dass sie mit der gleichaltrigen Schlossbesitzerin befreundet war und dort für die Zeit des Krieges eine Unterkunft gefunden hatte? Das mitten in der sächsischen Provinz gelegene Schloss Frauenhain war vor Bombenangriffen relativ sicher, die einsame Landschaft bot Gelegenheit, die Zeit bis zum bitteren Ende abzuwarten. Ob Lucie wieder zu einer Liebe gefunden hatte, ist unbekannt. Eine Liaison im späten Winter 1944 hatte jedoch Folgen hinterlassen: Lucie erwartete ein Kind.

Die Frauenklinik auf der Pfotenhauerstraße in Dresden, wo Lucie Silex bei einem Bombenangriff starb.
Die Frauenklinik auf der Pfotenhauerstraße in Dresden, wo Lucie Silex bei einem Bombenangriff starb. © Repro: Matthias Schildbach

Vielleicht war die Schwangerschaft nicht ganz unproblematisch oder Lucie bestand auf einer ärztlichen Betreuung aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen durch den Verlust ihres ersten Kindes. Anfang Februar 1945 begab sie sich in die Frauenklinik auf die Pfotenhauerstraße nach Dresden. In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar schlugen Sprengbomben durch die Decken der Klinik, und da, wo die Mütter in den Sälen lagen, detonierten die Volltreffer. Lucie überlebte diese Nacht nicht.

Die standesamtlichen Unterlagen der Stadt Dresden weisen große Lücken aus jenen chaotischen Tagen in der Stadtgeschichte auf. Wegen dieser fehlenden Dokumentation und verbrannten Standesamtsunterlagen ist nicht nachzuvollziehen, ob Lucie bereits entbunden hatte, ob das Kind mit ihr starb oder als eines der vielen namenlosen Kinder evakuiert wurde – und überlebte.

Tragödie der Frauenklinik an der der Pfotenhauerstraße

Als Dresden durch die Bombenangriffe im Februar 1945 schwer zerstört wurde, kamen nicht nur die obdachlos gewordenen Stadtbewohner nach Kreischa. Verletzte wurden im Sanatorium behandelt und die schwer zerstörte Frauenklinik von der Pfotenhauerstraße wurde hierher ausgelagert. Das Tragische: Die noch getrennt untergebracht gewesenen Mütter-Schlafsäle hatten Volltreffer abbekommen, über ihnen waren die Betondecken auf die Frauen gestürzt, für die es keine Rettung mehr gab. Die Neugeborenen waren in getrennten Kellern untergebracht worden, sie konnten zu einem Großteil gerettet werden.

Noch in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 kamen Dutzende Neugeborene auf Lkws in Kreischa an, begleitet von Krankenschwestern. Hochschwangere und Wöchnerinnen folgten mit Evakuierungstransporten. In den folgenden Wochen verstarben viele der unschuldigen Kinder an den Folgen von Frühgeburt, Kreislaufschwäche, Ernährungsstörungen und Lungenentzündung.

Wer nahm sich Lucies Leichnams an?

Veronika von Globig-Weißenbach, die Schlossherrin auf Frauenhain, hatte nichts mehr von ihrer Freundin Lucie in Erfahrung bringen können. Wahrscheinlich hatte sie über ihre Verwandten, der Familie von Kapp-her auf Lockwitz, noch Kontakte geknüpft und Vorkehrungen für den Fall getroffen, falls Lucie geborgen würde. Als sich die Rote Armee im Mai 1945 Frauenhain näherte, flüchtete sie. Ihr Schloss wurde 1946 für „die neue Zeit“ als unnütz empfunden und abgerissen, die Gräber der Adelsfamilie geschändet und geplündert.

Die Familie von Kapp-her blieb in Lockwitz, als der Krieg zu Ende ging. Umso bitterer war ihr Schicksal, das sie in den kommenden Wochen erleiden musste.

Die Adelsfamilie bekam auf ihrem eigenen Besitz einige Zimmer zugewiesen. Die volljährigen Töchter mussten im eigenen Betrieb ohne Bezahlung arbeiten, Richard Freiherr von Kapp-her suchte Arbeit. Die Schlossherrin Martha von Kapp-her verdiente sich etwas durch Puppen nähen dazu.

In dieser Zeit des Umbruchs erreichte wohl die Nachricht von der Bergung von Lucies Leichnam die Kapp-hers. Es ist schlüssig, dass sich die Familie um Lucies würdevolle Bestattung bemühte. Unbekannt bleibt jedoch, warum eine Bestattung in Lockwitz nicht infrage kam. Man wich ins nahegelegene Kreischa aus. Am 8. Juni 1945 wurde Lucie Silex in aller Stille begraben. Richard und Martha von Kapp-her wurden mit ihren Kindern im Oktober 1945 auf die Insel Rügen deportiert, bevor sie in den Westen entkommen konnten.

Anonymes Grab

Lucie Silex’ Grab war nie gekennzeichnet. Sie lag neben anderen durch den Krieg verstorbenen Menschen: hoch betagten Flüchtlingen, gefallenen Soldaten, einem hingerichteten polnischen Kriegsgefangenen. Während der Recherchen zu Lucies Biografie konnten Kontakte zu den Familien Hardinge-Tapp in England und zur Familie Silex in Deutschland hergestellt werden. Man erinnerte sich dort an ihren Namen und dass es sie gegeben hat. Fotografien existieren lange nicht mehr. Das Wissen um Lucie aus eigenem Erleben ist verloren gegangen. Lucie Bethane Hardinge-Tapp Silex wurde durch die Bomben ihres eigenen Vaterlands getötet.

Autor Matthias Schildbach zeigt auf die ungekennzeichneter Grabstelle vor Lucie Silex in Kreischa.
Autor Matthias Schildbach zeigt auf die ungekennzeichneter Grabstelle vor Lucie Silex in Kreischa. © Matthias Schildbach

Mit den Besonderheiten ihrer Biografie und ihres Schicksals steht ihr Grab symbolhaft und mahnend für das Verderben, das der Krieg anrichtet. Die Anerkennung ihrer Grabstätte als dauerhaftes Kriegsgrab ist beantragt, eine Genehmigung seitens der Landesdirektion steht noch aus.