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Krankenkassen wollen Gesundheitsdaten nutzen

Unser Gesundheitssystem soll weg von der Reparatur, hin zur Vorsorge. Digitalisierung hilft dabei. Wenn da nicht der Datenschutz wäre. Eine Analyse.

Von Katrin Saft
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Mithilfe von Big Data lassen sich präzise Voraussagen für das Risiko einer Erkrankung machen. Doch die meisten Gesundheitsdaten dürfen in Deutschland nicht genutzt werden.
Mithilfe von Big Data lassen sich präzise Voraussagen für das Risiko einer Erkrankung machen. Doch die meisten Gesundheitsdaten dürfen in Deutschland nicht genutzt werden. © Jürgen Lösel

Selten war die kollektive Stimmung der Deutschen so schlecht wie heute. Die nicht enden wollende Pandemie zehrt an den Kräften. Psychologen mahnen, mehr vorzusorgen und sich selbst etwas Gutes zu tun. Zwar bieten alle Krankenkassen Präventionskurse an, auch online im sicheren Zuhause. Doch die Botschaft scheint nicht so recht anzukommen. Depressionen nehmen zu, auch Einsamkeit, Bewegungsmangel, Alkohol- und Gewichtsprobleme.

Jeder weiß, dass Vorsorgen besser als Heilen ist. Aber schon vor Corona hielt sich die Lust darauf in Grenzen. Es sind die ohnehin Gesundheitsbewussten und die Selbstoptimierer, die entsprechende Angebote nutzen. Gerade mal 0,25 Prozent ihrer Ausgaben wenden die gesetzlichen Krankenkassen für Prävention und Gesunderhaltung auf. 7,52 Euro pro Versicherten schreibt der Gesetzgeber dafür vor – im Jahr!

Hinzu kommt, dass viele Menschen von den Angeboten der einzelnen Kassen gar nichts wissen. Die AOK Plus versucht zwar, ihre Kurse auf der Vorsorgeplattform Yuble zu bündeln. Doch nicht mal jedes Mitglied weiß, dass es dort zwei Angebote im Jahr kostenlos buchen kann.

Mit mehr Geld und Informationen allein ist es aus Sicht von AOK Plus-Vorstand Stefan Knupfer nicht getan. „Wir müssen das Gesundheitssystem in Deutschland völlig neu denken“, sagt er. Angesichts der immer älter werdenden Bevölkerung sei es nicht mehr zeitgemäß, ein System zu perfektionieren, das in seinem Wesen auf die Versorgung im Krankheitsfall ausgelegt ist. Knupfer: „Es geht heute darum, den Menschen ein langes, gesundes Leben zu ermöglichen: Weg von der Reparatur, hin dazu, dass Krankheiten gar nicht erst entstehen.“

Dafür müsse man Prävention viel größer betrachten – nicht mehr nur als Anhängsel, einseitig fokussiert auf Bewegung, Ernährung und Sucht, sondern als übergeordnetes Konzept in allen Lebensbereichen. Die sich rasant entwickelnden technischen Möglichkeiten würden das Handwerkszeug bieten, um gesundheitliche Probleme früher zu erkennen und damit besser und sanfter zu bekämpfen.

Wie ein solches präventives Gesundheitssystem aussehen könnte, haben Zukunftsforscher von 2b Ahead im Auftrag der AOK Plus untersucht. Demnach sollten sich künftig staatliche Maßnahmen an der Frage ausrichten, ob sie der Gesunderhaltung der Bürger dienen. Das beginnt beim Städtebau. Denn eine Betonsiedlung ohne Wiesen und Parks lädt auch nicht zur Bewegung ein.

Wo es keine öffentlichen Verkehrsmittel zu Naherholungsgebieten gibt, werden Menschen ohne Auto lieber zu Hause bleiben. Die Studienautoren Jacqueline Zimmermann und Jan Berger sprechen von einem „Rechtsanspruch auf Prävention“, der mit finanziellen Mitteln untermauert werden müsse. Denn Kommunen würden bei klammen Kassen zuerst an Dingen wie Radwegen oder Freiflächen sparen. Prävention sei also nicht nur als Verhaltens-, sondern auch als Verhältnisaufgabe zu verstehen – beispielsweise, indem regional auf weniger Belastungen durch Lärm und Feinstaub geachtet wird. Dazu brauche es die Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Akteure.

Die Datenrevolution im Gesundheitswesen hat längst begonnen

Die zweite Herausforderung sehen die Zukunftsforscher darin, Daten im Gesundheitswesen präventiv zu nutzen. Derzeit sind den Krankenkassen dabei strenge Grenzen gesetzt. Sie belohnen zwar schon sportliche Aktivitäten mit Boni. Doch wann wer wo joggen war, erfahren sie aus Datenschutzgründen nicht – dafür aber US-Konzerne wie Apple oder Google. Und die entwickeln daraus eigene Angebote mit oft intransparenten Algorithmen und undurchsichtigen Schutzbestimmungen.

Die Datenrevolution im Gesundheitswesen und damit der Wettbewerb um Patientendaten haben längst begonnen. Sensoren in smarten Uhren und Handys überwachen Vitalfunktionen, zeichnen Fitnesszustand, Kalorienverbrauch oder Schlaf auf. Mit der Menge und Vielfalt an medizinischen Daten wächst die Möglichkeit, Zusammenhänge und gesundheitliche Probleme zeitiger zu erkennen. „Durch die neuen Technologien haben wir den Diabetes erst richtig verstanden“, sagt Peter Schwarz, Professor für die Prävention an der Uniklinik Dresden.

„Früher haben Patienten ihren Blutzuckerspiegel fünf- bis siebenmal am Tag gemessen. Heute können wir mit smarten Geräten und Apps knapp 3.000 Messwerte täglich erheben und regelmäßig mit den Patienten kommunizieren.“ Das sei gerade bei langwierigen Krankheiten ein Vorteil.

Mithilfe von Big Data lassen sich auch präzise Voraussagen für das Risiko einer Erkrankung machen und Frühwarnsysteme entwickeln. Die Corona-Pandemie hat Harvard-Epidemiologe Michael Minas auf die Idee eines Infektions-Wetterberichts gebracht.

Möglich sei er durch Sequenzierung der Blutbestände in Blutdatenbanken, die ein genaues Bild von Virusinfektionen und Antikörpern in einer Population zeigen. Statt erst im Büro zu merken, wer mit Grippe krankgeschrieben ist, könnten solche Vorhersagen helfen, das eigene Verhalten rechtzeitig anzupassen.

Die Auswertung von Gesundheitsdaten würde zudem Prognosen erlauben, wie erfolgreich eine Behandlung verlaufen und wie lange die Nachsorge dauern wird, sagt Admir Kulin, Chef der digitalen Gesundheitsplattform m.Doc. Dank künstlicher Intelligenz können mit Daten gefütterte Diagnosegeräte lernen und den medizinischen Fortschritt voranbringen.

Die Zukunftsforscher halten es sogar für denkbar, durch umfassende Vermessung einen digitalen Zwilling des Menschen zu erschaffen, an dem Präventionsansätze, Trainingspläne, Diäten oder Medikamente auf ihre Wirkungsweise hin simuliert werden. Erst bei Erfolg würden sie dann angewandt.

Digitalisierung im Medizinbetrieb läuft nur schleppend

Solchen Szenarien gegenüber steht eine digitale Infrastruktur im deutschen Gesundheitswesen, die hinter anderen Ländern zurückbleibt. „Die Digitalisierung von Arztpraxen und Kliniken läuft nur schleppend, begleitet von einem Wust unterschiedlicher Speicherstandards“, heißt es im neuen „Health Data-Bericht“, den das Handelsblatt Research Institute herausgibt.

Zwar haben Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen bereits seit Anfang 2021 einen Anspruch auf eine elektronische Patientenakte, die sämtliche medizinische Informationen schnell abrufbar machen soll. „Doch im Prinzip ist das bislang noch eine bessere Dropbox, eine PDF-Ablage“, sagt AOK Plus-Vorstand Knupfer. Erst etwa drei Prozent der Ärzte könnten Daten, wie Laborbefunde, elektronisch hochladen.

Knupfer wünscht sich in Deutschland eine neue Datenschutzdebatte, die mit dem Tempo der digitalen Veränderungen im Gesundheitswesen Schritt hält. „Damit Menschen den Mehrwert nutzen können, den Prävention künftig bieten kann, muss es möglich sein, persönliche medizinische Daten anonymisiert zu teilen“, sagt er. „Die Hoheit über solche individuellen Daten soll auch in Zukunft bei den Menschen bleiben. Sie sollten aber selbst bestimmen können, wer sie wofür nutzen darf.“

Zudem müsse sich Datenschutz mehr an der Praxis orientieren. Schon heute verfügen die gesetzlichen Krankenkassen über Millionen von Abrechnungsdaten von Ärzten und Apotheken. „Wir wollen gar nicht mehr Daten, wir würden sie nur gerne besser nutzen dürfen, als es uns das Fünfte Sozialgesetzbuch erlaubt“, sagt Ulf Maywald, Bereichsleiter Arzneimittel bei der AOK Plus in Dresden.

„Als 2018 zum Beispiel einzelne Chargen eines Blutdrucksenkers verunreinigt waren, konnten wir in unseren Daten genau sehen, welche Mitglieder die problematischen Packungen bekommen hatten – und welche nicht. Wir hätten also die richtigen Laute warnen können.“ Da das gesetzlich nicht erlaubt sei, habe eine breite Rückrufaktion alle aufgeschreckt.

Krankenkassen dürfen keine Datenkraken werden

Vorstand Knupfer sieht seine Kasse perspektivisch in der Rolle eines Gesundheitslotsen, der Versicherten hilft, die für sie passenden Lösungen zu finden. Ein erster Schritt im Rahmen des bisher Möglichen ist ein neuer digitaler Gesundheitsassistent – eine App als Symptomchecker, die Dr. Google ersetzen soll, verknüpft mit Präventionsangeboten bis hin zur Videosprechstunde mit dem Arzt. Der Assistent ist seit Mittwoch in den App-Stores verfügbar.

Gesundheitswissenschaftler Professor Joachim Kugler von der TU Dresden sieht das Thema mehr Prävention durch Datenanalyse allerdings nicht ganz so euphorisch. „Es kommt immer darauf an, ob ich darauf vertrauen kann, dass die Daten zu meinem Wohl genutzt werden oder ob ich befürchten muss, dass sie irgendwann gegen mich verwendet werden“, sagt er. In den USA würde bereits mit einem Vorhersage-Modell gearbeitet.

Ein fiktives Beispiel: Jemand hat mit 35 Jahren hohen Blutdruck und nimmt die Tabletten dagegen nicht. Mit 45 erleidet er einen Herzinfarkt, treibt nach der Reha aber nicht vorsorglich Sport, wie die Kasse sieht, sondern raucht und hat Übergewicht. Mit 55 bekommt der einen Bypass, mit 65 ist er nur durch Herztransplantation zu retten. Doch es gibt zu wenige Spenderherzen. Kugler: „Liegt es da nicht nahe, dass derjenige das Herz erhält, der nachweislich mehr Vorsorge betrieben hat? Insofern dürfen Krankenkassen keine Datenkraken werden.“

Wie skeptisch die Deutschen beim Thema Gesundheitsdaten reagieren, hat die Diskussion um die Corona-Warn-App gezeigt. Sie fürchten, dass ihre Daten in die falschen Hände geraten könnten. Hinzu kommt die Angst vor Hackerangriffen. Zwar haben sich viele im Privatleben damit abgefunden, dass immer und überall Daten über sie gesammelt werden. Sie nutzen Siri und Alexa fürs smarte Heim, lassen sich maßgeschneiderte Shopping-, Musik- und Nachrichtenangebote machen.

Doch weil medizinische Daten ein besonders sensibles Gut sind, dürfte es bis zum individuellen Präventionsvorschlag noch ein weiter Weg sein. Die Lösung sieht m.Doc-Chef Admir Kulin darin, „eine gesunde Balance zwischen Datenschutz und Datennutzen zu finden.“ Gewinner könnten alle sein: die Menschen, wenn sie länger gesund leben können, die Versicherer, wenn weniger Leistungen eingefordert werden und der Staat, wenn die Ausgaben sinken.