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Wie die Digitalisierung die Behandlung beim Zahnarzt revolutioniert

Ab Donnerstag findet in Leipzig der bundesweit größte Kongress für digitale Zahnmedizin statt. Ein Vorreiter über die Vorteile neuer Verfahren und warum sie sich so schwer durchsetzen.

Von Katrin Saft
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Zahnarzt Dr. Conrad Kühnöl plant am PC ein Implantat und sieht, wo die Nerven verlaufen.
Zahnarzt Dr. Conrad Kühnöl plant am PC ein Implantat und sieht, wo die Nerven verlaufen. ©  Ronald Bonss

Sachsen droht ein Zahnärzte-Mangel. Denn mehr als 1.000 Zahnärzte im Freistaat sind älter als 60 Jahre. Damit geht fast jeder Dritte in absehbarer Zeit in den Ruhestand. Doch Nachwuchs ist rar. „Nur jeder dritte Zahnarzt, der seine Praxis abgibt, findet auch einen Nachfolger“, sagt Dr. Thomas Breyer, Präsident der Landeszahnärztekammer Sachsen. „Damit verlieren wir jedes Jahr um die 100 Zahnärzte.“ Vor allem in ländlichen Regionen sei die Versorgung schon heute schwierig. Die Kammer fordert deshalb vom Freistaat eine Landzahnarztquote ähnlich der bei Ärzten.

Zahnarzt Dr. Conrad Kühnöl aus Dresden sieht zudem noch eine andere Lösung des Problems – in der konsequenten Digitalisierung der Zahnheilkunde. Was das bedeutet, darüber referiert er auf dem bundesweit größten Kongress für digitale Zahnmedizin, den die Deutsche Gesellschaft für computergestützte Zahnheilkunde vom 22. bis 24. Juni in Leipzig ausrichtet. Die SZ hat vorab mit ihm gesprochen.

Herr Dr. Kühnöl, die zahnärztliche Behandlung ist vor allem Handwerksarbeit. Wie kann denn da die Digitalisierung fehlende Zahnärzte kompensieren?

Ganz einfach: Wenn es in Sachsen bald weniger Zahnärzte gibt, müssen diese mehr Patienten behandeln. Dazu müssen sie effektiver werden, damit das in gleicher oder höherer Qualität funktioniert. Das geht aber nur mit anderen Technologien, mit Digitalisierung. Denn manuelles Arbeiten ist teuer geworden. Die Personalkosten, aber auch die Materialkosten sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Musste man 1991 für die Grundausstattung einer Zahnarztpraxis noch etwa 231.000 Euro investieren, so waren es 2020 im Schnitt schon 557.000 Euro – mehr als doppelt so viel. Auch, um wirtschaftlich überleben zu können, hilft also nur mehr Effektivität. Und die ermöglicht die Zahnmedizin 4.0.

Was verstehen Sie unter Zahnmedizin 4.0?

Der Begriff ist aus der Industrie entlehnt. Das Zeitalter 1.0 begann im 18. Jahrhundert mit der Erfindung der Dampfmaschine. 2.0 ist durch die Elektrifizierung im 19. Jahrhundert geprägt. Für die Zahnärzte bedeutete das zum Beispiel den ersten batteriegetriebenen Bohrer und das erste Zahnröntgen. 3.0 steht für die Digitalisierung einzelner analoger Prozesse. So wurde 1986 das erste digitale Röntgensystem für die Zahnheilkunde und 1988 der erste Kieferscanner vorgestellt.

Computergestützte Abrechnungssysteme sind heute Standard. Bei der Zahnarztpraxis 4.0. jedoch geht es um die intelligente Vernetzung aller Abläufe mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien. Digitale Prozesse werden mit maschineller Fertigung kombiniert. Ziel ist die Vollautomatisierung von Diagnostik, Monitoring und Therapie unter Einbeziehung künstlicher Intelligenz.

Das klingt sehr abstrakt. Können Sie das an einem Beispiel erklären.

Nehmen Sie die Zahnrestaurationen. Mit einem Oralscanner kann ich einen digitalen Abdruck des Gebisses erstellen und am Computer mit einem 3 D-Röntgenbild abgleichen. Virtuell am PC konstruiere ich dann passgenau zu den umgebenden Zähnen, zur Bisshöhe und Gelenkbewegung das Implantat. Wie die optimale Bohrschablone für die künstliche Zahnwurzel aussehen muss, bekomme ich gleich mit vorgeschlagen. Von der online geplanten Zahnkrone fertigt eine CNC-Fräsmaschine auf Knopfdruck einen Prototypen – und das ohne lästiges Abformen eines Abdrucks, der erst zum Zahntechniker geschickt werden muss.

Im Digitalzeitalter kann der Zahntechniker überall auf der Welt sitzen. Nachdem der Patient den Prototypen probegetragen hat, kann er bei Bedarf am Computer korrigiert werden. Dann wird der Datensatz an die Fräsmaschine gesendet und die Keramikkrone gefertigt. Der Patient spart mehrere Sitzungen.

Ein Oralscanner mit eingescanntem Gebiss.
Ein Oralscanner mit eingescanntem Gebiss. ©  Ronald Bonss

Nun sind Implantate aber nicht gerade das Standardprogramm beim Zahnarzt.

Durch gezielte Digitalisierung ist ein Paradigmenwechsel zu erwarten, der die Preise für Implantate im Verhältnis zu konventionellem Zahnersatz in neuem Licht erscheinen lässt. Aber auch Inlays, Kronen und Brücken bis hin zu kompletten Prothesen können mit speziellen CAD-Programmen (Computer Aided Design) am Bildschirm geplant, sofort mit dem Patienten besprochen und dank Computer-Aided-Manufacturing (CAM) direkt hergestellt werden. Die Qualität ist durch digitale Kontrollprogramme validiert und somit nachvollziehbar höher.

Indem quasi ein digitaler Zwilling vom Zahn-, Kiefer- und Gesichtsbereich des Patienten erstellt wird, eröffnen sich neue Möglichkeiten der Früherkennung krankhafter Prozesse, der Diagnostik und Verlaufskontrolle. Denn die einmal erhobenen Daten lassen sich wiederverwenden.

Wofür zum Beispiel?

Nehmen Sie mal an, Sie haben bei einem Fahrradunfall einen oder mehrere Zähne verloren. Da wir die Daten von Ihrem Gebiss digital da haben, können wir die Zähne genauso wie vorher rekonstruieren. Das schätzen nicht nur Blasmusiker, die sich danach nicht mehr umgewöhnen müssen. Oder zwei andere Beispiele: Sie haben das Gefühl, Ihre Zähne nutzen sich ab oder das Zahnfleisch geht zurück. Nach einem Scann kann ich die neuen Daten mit denen von vor ein, zwei Jahren matchen und sehe genau, was da passiert ist. Damit kann ich viel früher geeignete Gegenmaßnamen einleiten – vor allem dann, wenn diese Diagnostik in Dental 4.0 automatisiert erfolgt, bevor der Patient etwas merkt.

Und das ist für Patienten bezahlbar?

Ja, es wird sogar preisgünstiger. Denn die Digitalisierung 4.0 spart durch Automatisierung langwierige Arbeitsschritte und damit Zeit und Personal – heute der größte Kostenfaktor. Zudem wird gegenüber analogen Methoden bis zu 80 Prozent Material gespart. Diese Preisvorteile kann der Zahnarzt an die Patienten weitergeben. Und auch für ihn rechnet sich das, denn er kann in gleicher Zeit mehr Patienten behandeln.

Da haben Sie doch sicher die Anschaffungskosten für die digitale Vollausstattung nicht mit eingepreist?

Doch. Unsere Zahnarztpraxis 4.0 zum Beispiel ist schuldenfrei. Die Technik rechnet sich durch deutlich effektiveren Personaleinsatz recht schnell.

Was kostet denn die Grundausstattung für die Zahnarztpraxis 4.0?

Sie brauchen im Prinzip vier Komponenten: Scanner, 3 D-Röntgengerät, Laborprogramm und Schleifmaschine. Das gibt es insgesamt ab etwa 140.000 Euro. Nach oben hin ist da natürlich vieles möglich.

Und warum steigen dann noch vergleichsweise wenige Zahnärzte auf die Zahnarztpraxis 4.0 um, wenn sie so viele Vorteile hat?

Weil die nötige Ausbildung fehlt, wie die komplette Praxis auf digitale Arbeitsweise umgestellt werden kann. Einige Zahnärzte schaffen sich zunächst einzelne Komponenten in einem offenen System an. Doch da es mehrere Hersteller gibt, sind Geräte und Programme oft nicht kompatibel.

Ist denn so eine Umstellung bei laufendem Praxisbetrieb überhaupt denkbar?

Ja, es gibt zum Beispiel einen Masterstudiengang Clinical Dental CAD/CAM. Viele Zahnärzte haben Berührungsängste. Hier wäre mehr Hilfe wünschenswert, damit sie sich ausprobieren können – zum Beispiel durch die Landeszahnärztekammer.

Zur Person:

Dr. Conrad Kühnöl hat in Dresden Zahntechnik gelernt und bis 1991 als Zahntechniker gearbeitet. Bis 1996 hat er an der FU Berlin Zahnmedizin studiert und dort zum Thema Dentalkeramik promoviert. 1999 eröffnete er eine Niederlassung in Frauenstein, die er 2000 nach Dresden verlegte, inzwischen mit eigenem Dentallabor. 2010 bis 2013 Masterstudium an der Uni Greifswald Clinical Dental CAD/CAM.