Ein Dickkopf in der Backstube

Es sind nur ein paar Worte, die wie von gestern klingen. Aber für Bäcker Marlon Gnauck bedeuten sie das Morgen: „Ihr Brot schmeckt wie in meiner Kindheit“, meint ein Kunde. Kein Wunder, denn Gnauck hat seine kleine Bäckerei in Ottendorf-Okrilla umgestellt: weg von Fertigbackmischungen, weg von Geschmacksverstärkern, chemisch modifizierten Stärken oder Mehlen. Der 40-Jährige ist einer von ganz wenigen Bäckern in Sachsen, die für ihre Brote alte Getreidesorten verwenden. Doch das Zurück in die Zukunft war ein harter und auch riskanter Weg.
Ohne chemische Hilfsmittel
Er beginnt im Biosphärenreservat Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft, knapp 20 Kilometer von Bautzen entfernt. Diplomagraringenieurin Eva Lehmann erforscht dort seit Jahren, welche regionalen Getreidesorten früher in Sachsen gewachsen sind. „Sie wurden verdrängt von Hochleistungssorten, die mithilfe von künstlichen Düngern und Pflanzenschutzmitteln mehr Erträge bringen und sich leichter verarbeiten lassen“, sagt sie. Damit gehe aber nicht nur die Vielfalt in der Landwirtschaft und auf unseren Tellern verloren. Lehmann: „Alte Getreidesorten sind oft auch besser an örtliche Bedingungen angepasst, sind toleranter gegenüber Schädlingen und Krankheiten und kommen ohne chemische Hilfsmittel aus.“ 2007 startete deshalb unter ihrer Federführung im Biosphärenreservat ein Projekt, das durch den Klimawandel zusätzliche Bedeutung erfährt: die Rückkehr alter Sorten auf Felder, in Mühlen und in die Backstuben.
Auf der Roten Liste
Lehmanns Recherchen haben ergeben, dass bis in die 1950er-Jahre auch in Sachsen zwei Getreidesorten besonders beliebt waren, weil sie mit trockenen und sandigen Böden zurechtkamen, wie sie zum Beispiel in der Lausitz zu finden sind: Jägers Norddeutscher Champagnerroggen und der Alte Pommersche Dickkopf. Beide stehen auf der Roten Liste der gefährdeten einheimischen Nutzpflanzen in Deutschland. Doch woher das nötige Saatgut nehmen, da es nur noch begrenzt in Genbanken und Zuchtanstalten zu finden ist? Ein Verein in Brandenburg, der sich schon länger mit alten Getreidesorten befasst, konnte helfen.
„Die nächste Schwierigkeit bestand darin, hiesige Landwirte für den Anbau zu gewinnen“, sagt Lehmann. Denn wer verzichte schon freiwillig auf Ertrag und nehme dafür einen höheren Aufwand in Kauf. So zum Beispiel müssen die Mähdrescher für die Ernte extra eingestellt werden, da alte Sorten wie der Champagnerroggen zwei Meter hoch werden können.

Inzwischen wachsen im Biosphärenreservat bereits auf etwa 375 Hektar alte Getreidesorten. Mühlen in der Lausitz wie die Rätze-Mühle Spittwitz verarbeiten sie zu feinem Mehl. Um daraus Brote zu backen, bedarf es allerdings viel handwerkliches Geschick. „Ich habe lange experimentiert, weil mit dem Einzug der Fertigmischungen altes Fachwissen verloren ging“, sagt Marlon Gnauck. „Vor allem der Dickkopfweizen macht seinem Namen bei der Verarbeitung als dickköpfig alle Ehre. Er nimmt viel Feuchtigkeit auf, wird aber mit einem modernen Kneter immer weicher und läuft breit.“ Die Lösung sei wie früher: den Teig langsam und schonend kneten und die Ruhezeiten erheblich erhöhen. Gnauck: „Nach einer Nacht im Kühlschrank ist er dann stabil.“
Zeit ist Geld
Die Hemmschwelle, wieder so zu arbeiten, ist groß. Denn auch Bäcker haben gelernt, dass Zeit Geld ist. Heute kommen oft viel Hefe oder Säuerungsmittel in den Teig, damit er schnellstmöglich in den Backofen kann. „Ich finde das zu kurz gedacht“, sagt Marlon Gnauck, der seine Bäckerei in fünfter Generation führt. „Wenn ein Teig Zeit zum Reifen hat, entwickelt er den verloren geglaubten Geschmack. Und er baut Inhaltsstoffe ab, die inzwischen vielen Menschen zu schaffen machen.“ Gnauck ärgert sich über Bücher wie „Weizenwampe“ oder „Dumm wie Brot“, die angesichts von zunehmenden Unverträglichkeiten den Weizen- und damit Brotverzicht propagieren. Schuld sei nicht das Brot, sondern die Art zu Backen. Studien bescheinigen alten Getreidesorten wie dem Pommerschen Dickkopfweizen eine hohe Bekömmlichkeit und ernährungsphysiologische Qualität. „Sie können eine Alternative für Allergiker sein“, bestätigt Eva Lehmann.

Das ist aber nur ein Grund, warum Gnauck seine Brote nur noch mit Urgetreide bäckt. In Zeiten, wo selbst Aldi mit regionalen Bäckern kooperiert, will er sich qualitativ abheben. Brot soll nicht nur Grundnahrungs-, sondern auch Genussmittel sein, so wie hochwertiges Fleisch oder ein guter Wein. In einer Brotbroschüre kann jeder nachlesen, dass sein Landbrot zum Beispiel aus 70 Prozent Champagnerroggen und 30 Prozent Dickkopfweizen besteht und sonst nur Natursauerteig, Wasser und Salz drinstecken. Natürlich habe er die Preise an die etwas höheren Kosten anpassen müssen. „Aber wenn man Kunden die Besonderheiten erklärt, wertschätzen sie das in der Regel auch.“ Die Zeit für mehr Nachhaltigkeit auch beim Bäcker sei noch nie so günstig gewesen wie jetzt.
Landschaftspflegerin Lehmann sieht das ebenso. „Durch ihre tiefen Wurzeln können alte Getreidesorten Wasser und Nährstoffe aus unteren Erdschichten ziehen und damit auf Böden wachsen, die bislang für den Getreideanbau als ungeeignet galten“, sagt sie. Regionale Kreisläufe mit kurzen Wegen seien nicht zuletzt angesichts des Ukrainekriegs wünschenswert. Durch die naturverträgliche Bewirtschaftung werde auch der Erhalt bedrohter Ackerwildkräuter wie der Kornrade gefördert. Das Langstroh der alten Sorten könne für kleine Dächer verwendet werden.
Die Vorteile haben auch Sachsens Umwelt- und Landwirtschaftsministerium überzeugt. Laut Eva Lehmann will es den Anbau alter Getreidesorten ab 2023 fördern. „Das ist ein großer Erfolg“, sagt sie, „denn damit können Landwirte den Minderertrag kompensieren.“ Nun braucht es nur noch mehr Bäcker, die wie Gnauck mit Dickkopfweizen und Champagnerroggen backen. Denn was kann schöner sein als das Kompliment eines Mannes, den eine Scheibe Brot an eine Kindheit erinnert, in der die Natur noch Natur sein durfte.
- Veranstaltungstipp: 8. Juni, 14-16 Uhr Feldführung zu alten Getreidesorten, anschließend Vortrag zum Backen damit. Ort: Biosphärenreservatsverwaltung, Warthaer Dorfstr. 29 in 02694 Malschwitz OT Wartha. Anmeldung unter Telefon 035932/36510