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Warum der digitalisierte Arzt in Sachsen noch Seltenheitswert hat

In der Praxis von Dr. Martin Deile in Dresden läuft so gut wie alles digital. So bleibe ihm mehr Zeit für seine Patienten, sagt er. Viele Kollegen sehen das anders.

Von Kornelia Noack
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Voll digital: Hausarzt Dr. Martin Deile setzt in seiner Dresdener Praxis auf moderne Technik.
Voll digital: Hausarzt Dr. Martin Deile setzt in seiner Dresdener Praxis auf moderne Technik. © Juergen Loesel

Die Praxis von Dr. Martin Deile wirkt aufgeräumt. Große Schränke vollgepackt mit Patientenakten sucht man vergebens, ein dickes Terminbuch auf dem Anmeldetresen fehlt. Auch die Tische in den Behandlungszimmern sind leer – bis auf einen Bildschirm, ein Kartenlesegerät und eine kabellose Tastatur.

Als sich der Hausarzt vor drei Jahren in Dresden niedergelassen hat, entschied er sich bewusst für einen Neubezug. 15 Praxen hatte er sich zuvor in der Stadt angesehen, die er alle hätte übernehmen können. „Viele sind irgendwann stehen geblieben. Ich wollte eine moderne Praxis ohne veraltete Infrastruktur“, sagt Martin Deile.

Dank Digitalisierung mehr Zeit für Patienten

Der Mediziner nahm einen Gründungskredit auf, investierte in digitale Technik und aktuelle Praxisverwaltungssoftware. Sein Ziel: Alltägliche Prozesse wie Rezeptverschreibungen und Terminvergaben sollten so weit wie möglich automatisiert werden. Außerdem wünschte er sich eine schlanke Verwaltungsstruktur. „Ich wollte mehr Zeit für die Patienten gewinnen. Das ist aufgegangen“, sagt Martin Deile heute.

Gemeinsam mit einem Assistenzarzt sowie einer Vollzeit- und einer Halbtagsschwester betreut der 41-Jährige rund 1.200 Patienten im Quartal. Der Durchschnitt in Sachsen liegt bei 1.100. Und da sind Praxen mit deutlich mehr Personal dabei.

Jeder dritte Hausarzt ist über 60 Jahre

Wie in anderen Bundesländern auch herrscht in Sachsen ein akuter Mangel an Hausärzten. Und es droht noch schlimmer zu werden. Von den derzeit rund 1.800 niedergelassenen Allgemeinmedizinern ist knapp ein Drittel über 60 Jahre, ein weiteres Drittel über 50 Jahre. Sie werden in absehbarer Zeit aufhören.

„Theoretisch heißt das für uns anderen Ärzte täglich mehr Patienten“, sagt Deile. „Mit veralteten Strukturen ist das kaum zu stemmen. Wir hängen jetzt schon der Digitalisierung hinterher und brauchen mehr junge, technikaffine Mediziner, um gegen den Ärztemangel ankommen zu können“, sagt Deile.

Große Skepsis gegenüber digitalen Lösungen

Nicht alle aber teilen diese Begeisterung – im Gegenteil. „Die Versorgung der Patienten wird sich durch die Digitalisierung verschlechtern“, sagt Sachsens Kassenärzte-Chef Klaus Heckemann. „Viele, vor allem ältere Ärzte, wollen sich die Technik nicht antun und schließen lieber ihre Praxis.“

Es gebe Ärzte, die ihre Zulassung aus eben diesem Grund zurückgegeben haben. Gerade in den ländlichen Regionen sei zudem fehlendes schnelles Internet ein Problem.

Anwendungen erfüllen Hoffnungen der Ärzte nicht

Bei der Digitalisierung geht es zum einen um Möglichkeiten, seine Praxis effizienter zu organisieren und die Kommunikation unter den Ärzten zu verbessern.

Zum anderen sind da die Anwendungen der Gematik, die nach und nach eingeführt wurden: E-Rezept, elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), elektronische Patientenakte (ePA) oder der eArztbrief. Die Gematik ist eine halbstaatliche Firma mit Vertretern vom Bund sowie Ärzte-, Klinik- und Kassen-Organisationen.

Das neue Praxisbarometer, das im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erstellt wurde, bestätigt Heckemanns Befürchtung. Demnach schätzen viele Ärzte den Einfluss des Technikfortschritts seltener positiv ein als in den Vorjahren. Lediglich noch 25 Prozent erwarten durch digitale Anwendungen Verbesserungen für ihr Praxismanagement. Darin spiegeln sich eine große Ernüchterung und unerfüllte Erwartungen, heißt es in dem Report. Als größte Hemmnisse werden die Fehleranfälligkeit und Sicherheitslücken genannt.

Der Konnektor - das Herzstück der digitalen Praxis.
Der Konnektor - das Herzstück der digitalen Praxis. © Juergen Loesel

Mit dem Konnektor auf die Datenautobahn

„Es gab noch nicht einen Tag, an dem unser System nicht funktioniert hat“, sagt dagegen Martin Deile. Das Herzstück seiner Praxis – ein kleines unscheinbares Gerät, das einem Modem ähnelt – steht in einem Schrank direkt neben der Anmeldung.

Der sogenannte Konnektor ermöglicht jedem Hausarzt die „sichere Anbindung an die geschützte Datenautobahn des Gesundheitswesens“, wie es vom Bundesgesundheitsministerium heißt. Oder anders: Er ist die Verbindung zur zentralen Telematikinfrastruktur (TI) der Gematik, die alle Beteiligten im Gesundheitswesen miteinander vernetzt.

„Hierüber wird beispielsweise beim Einlesen der Versichertenkarte geprüft, ob sie gültig ist, und die hinterlegten Stammdaten werden abgeglichen“, erklärt Deile.

Ohne Anbindung wird Honorar gekürzt

Theoretisch müssen alle Praxen einen Konnektor haben. Sonst drohen Honorarabzüge. Das Gerät kostet etwa 2.500 Euro. Ärzte bekommen das Geld erstattet. „Auf den Kosten für Software und die Betreuung durch eine Fachfirma bleiben die Ärzte sitzen“, sagt Heckemann. Das sei ein großer Kritikpunkt. Vor Kurzem ploppte zudem noch ein weiteres Problem auf: In den Konnektoren sind Chips verbaut, auf denen Zertifikate gespeichert sind. Diese liefen Mitte 2022 allesamt ab. Nun müssen Ärzte ihre alten Geräte gegen neue austauschen.

Inzwischen ebenfalls verpflichtend für alle Hausarztpraxen: Die Registrierung beim Dienst für Kommunikation im Medizinwesen – kurz Kim. Das funktioniert technisch wie ein E-Mail-Programm, nur mit dem Unterschied, dass jede Nachricht und jedes Dokument verschlüsselt und erst beim Empfänger wieder entschlüsselt wird.

„Künftig sollen alle Arzt- und Psychotherapiepraxen über Kim kommunizieren“, sagt Deile. Für einige Anwendungen ist das Programm ohnehin schon zwingend erforderlich, beispielsweise für den Versand einer eAU an die Kasse.

Digitale Kommunikation noch die Ausnahme

Wie Martin Deile mit Kim Zeit einsparen kann, erklärt er an einem Beispiel: „Ein Patient bringt von einem Facharzt einen ausgedruckten Arztbrief mit. Nun würde ich ihn mir anschauen, der Schwester geben, die ihn einscannt und in unserer digitalen Patientendatei ablegt. Besser ist doch aber: Der Facharzt lässt mir den Brief einfach über Kim zukommen. Ich schaue ihn mir auf dem Bildschirm an und ordne ihn mit einem Klick der Patientendatei zu“, sagt Deile.

Bislang sei er aber gerade mal mit etwa 25 Fach- und Zahnarztpraxen in Dresden und Umgebung über Kim vernetzt. Denn: Selbst wenn Praxen bei Kim registriert sind, bleibt es ihnen am Ende überlassen, inwieweit sie das Programm in ihre täglichen Abläufe integrieren.

Aufwand für Ärzte größer als der Nutzen

Damit Martin Deile alle Funktionen von Kim nutzen kann, hat er spezielle Kartenlesegeräte angeschafft. Pro Gerät benötigt er eine SIM-Karte, um sich bei der Gematik einzuwählen und eine SIM, die die Praxis identifiziert. „Will ich ein E-Rezept ausstellen, stecke ich zusätzlich meinen Heilberufsausweis ein, so kann ich meine Signatur digital setzen“, sagt Deile. Als Letztes wird jeweils die Versichertenkarte eingesteckt.

Es funktioniert gut, aber einfach ist anders. „Irgendwann wird es vielleicht so weit sein, dass digitale Anwendungen den Praxisalltag für Arzt und Patienten gleichermaßen erleichtern“, sagt Heckemann. Momentan sei aus seiner Sicht der Aufwand um einiges größer als der Nutzen.

Um zum Beispiel ein E-Rezept digital signieren zu können, benötigt Dr. Martin Deile einen Heilberufsausweis, den er in ein spezielles Kartenlesegerät steckt.
Um zum Beispiel ein E-Rezept digital signieren zu können, benötigt Dr. Martin Deile einen Heilberufsausweis, den er in ein spezielles Kartenlesegerät steckt. © Juergen Loesel

Viele unterschätzen Interesse der Patienten

Allerdings irren Ärzte, wenn sie glauben, dass Patienten nicht an der Digitalisierung interessiert seien. So zeigen verschiedene Befragungen, dass sich Patienten insbesondere die Möglichkeit wünschen, Termine über das Internet zu vereinbaren oder per E-Mail mit den Praxen zu kommunizieren. Auch das Bestellen eines E-Rezeptes über das Smartphone oder Online-Videosprechstunden würden viele in Anspruch nehmen.

Martin Deile stellt schon lange nur noch E-Rezepte aus. Einmal habe ein Patient am Abend ein Folgerezept angefordert. „Weil ich noch zufällig am Rechner saß, habe ich ihm sofort eine Verordnung aufs Handy geschickt, die er dann am nächsten Tag in der Apotheke einlösen konnte. Er musste dafür also nicht extra in die Praxis kommen“, sagt Deile. Das sei für ihn ein echter Fortschritt.

Verbesserungsbedarf ist erheblich

Sonst wird beim Besuch in Deiles Praxis aber deutlich: Die Digitalisierung hilft derzeit vor allem bei Organisation und Verwaltung. „Die Anwendungen der Gematik für Patienten sind noch nicht ausgereift“, so Deile. Zum Beispiel die elektronische Patientenakte.

Nicht einmal 20 seiner Patienten nutzen die Möglichkeit, in einer App Arztbriefe oder den Medikamentenplan zu hinterlegen. „Nicht selten sind das abfotografierte Dokumente. Das ist wie ein Ordner im Schrank, nur hat man die Infos immer auf dem Handy dabei“, sagt Deile. Das Ganze sei „eher eine PDFisierung und keine digitale Anwendung“. Sinn mache eine ePA erst, wenn alle Praxen zugreifen und sich darüber vernetzen könnten.

Auch bei der eAU sieht er Verbesserungsbedarf. „Wieso sende ich sie digital an die Krankenkasse, für den Versicherten und den Arbeitgeber muss ich sie aber noch ausdrucken?“

Und was, wenn die Technik doch mal zusammenbrechen sollte? „Wir haben drei Back-ups, eines davon außerhalb der Praxis“, sagt Deile. Damit könnten die kompletten Praxisdaten innerhalb von 30 Minuten wiederhergestellt werden. „Das ist schon ein klarer Vorteil gegenüber Papier.“

Digitales für den Patienten – was kann, was darf, was muss?

  • Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU): Seit Jahresbeginn sind Arztpraxen verpflichtet, die eAU über den Dienst für Kommunikation im Medizinwesen (Kim) an die Krankenkassen zu übermitteln. Arbeitgeber und Versicherte erhalten nach wie vor einen Papierausdruck. Erst ab 1. Januar 2023 sollen die Kassen die AU-Informationen elektronisch dem Arbeitgeber zur Verfügung stellen. Patienten werden vorerst weiter eine vereinfachte AU auf Papier erhalten.
  • Elektronischer Medikationsplan (eMP): Er beinhaltet Informationen über die Medikation von Patienten sowie Allergien und Unverträglichkeiten. Seit 2020 kann er angelegt und mit Einwilligung des Patienten auf der Versichertenkarte gespeichert werden. Der eMP erleichtert die Zusammenarbeit von Ärzten, Therapeuten und Apothekern und hilft, Wechselwirkungen zu vermeiden.
  • Elektronischer Arztbrief (eArztbrief): Damit können Ärzte und Psychotherapeuten direkt aus ihrem Praxisverwaltungssystem medizinische Informationen wie Untersuchungsergebnisse, Befunde, Laborberichte oder Medikationspläne versenden und empfangen. Seit 1. April 2021 darf der eArztbrief nur noch über die Software Kim verschickt und abgerechnet werden. Der eArztbrief wird vom Arzt digital unterzeichnet.
  • Elektronische Patientenakte (ePA): Sie soll das zentrale Bindeglied zwischen Patient, Ärzten und Apothekern werden. Seit Anfang 2021 können Versicherte bei ihrer Krankenkasse eine ePA beantragen, die über eine App auf dem eigenen Smartphone funktioniert. Bei der AOK Plus in Sachsen haben das beispielsweise bereits 4.500 Versicherte getan. Mit der ePA ist es möglich, medizinische Dokumente zentral an einem Ort abzuspeichern. Patienten können medizinischen Einrichtungen dann eine Freigabe für ihre gespeicherten Daten erteilen.
  • E-Rezept: Während Apotheken seit dem 1. September dieses Jahres dazu verpflichtet sind, E-Rezepte einzulösen, läuft die Ausstellung der E-Verordnungen in Arztpraxen bislang auf freiwilliger Basis. Derzeit gibt es in Deutschland verschiedene Pilotprojekte zur flächendeckenden Einführung des E-Rezeptes. Diese ist dann für 2023 geplant. (kno)