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Erste Görlitzer Rede wird zum Plädoyer gegen die Angst

Die ARD-Vorsitzende Patricia Schlesinger sprach in der Synagoge. Gegen die Sorgen der Menschheit ermutigte sie mit dem Beispiel ihrer Görlitzer Großeltern.

Von Ines Eifler
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Vor ihrer Rede schaute sich Patricia Schlesinger die sanierte Synagoge an, die ihr jüdischer Großvater, der Görlitzer Rennfahrer Artur Schlesinger, gekannt hatte.
Vor ihrer Rede schaute sich Patricia Schlesinger die sanierte Synagoge an, die ihr jüdischer Großvater, der Görlitzer Rennfahrer Artur Schlesinger, gekannt hatte. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Die große Unsicherheit, die im Moment die Gefühlslage so vieler prägt, der sorgenvolle Blick in die Zukunft, die Ungewissheit, worauf man sich noch verlassen kann: Patricia Schlesinger fasste dies alles in den einen Satz: "Wir haben Angst."

Damit begann die Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg und derzeitige ARD-Vorsitzende am Mittwochabend im gut gefüllten Saal des Kulturforums Görlitzer Synagoge ihre Rede – die erste in der neuen Reihe "Tacheles". Für diese Görlitzer Reden lädt der Förderkreis Synagoge in Kooperation mit der Stadt Görlitz jährlich prominente Persönlichkeiten ein, die zu einem Thema ihrer Wahl rund um Toleranz, Demokratie und Freiheit sprechen.

"Ist der Traum vom Frieden ausgeträumt?"

Patricia Schlesinger benannte "unsere Angst" konkreter als Angst vor einem Atomkrieg, Angst vor einer neuen Coronawelle, Angst vor Einschränkungen, die wir im Moment noch nicht überschauen können. Angst auch vor den Herausforderungen der Digitalisierung, die Deutschland völlig unterschätzt habe. "Wir waren nicht eingestellt auf Hetze und Lüge, Fake News und Shitstorms. Niemand ahnte, welche niederen Instinkte das Internet als paralleles Universum entblößt."

Damit einher gehe eine enorme Skepsis gegenüber dem Begriff Wahrheit, Wissenschaftsfeindlichkeit und Medienkritik sowie Spannungen und Polarisierungen in der Gesellschaft, die klarmachten, wie zerrissen die "Gemeinschaft der Wähler" tatsächlich sei. Doch die Wahrheit der Fakten preiszugeben, bedeute die Freiheit preiszugeben, das betonte Patricia Schlesinger mehrmals. Wenn nichts mehr wahr sei, könne niemand mehr die Macht kritisieren. Dafür seien Journalisten und Medien wichtig. Wo sie nicht mehr das Leben widerspiegeln, tun sich Lücken auf, in die soziale Netzwerke einspringen. Schlesinger zitierte Studien aus den USA, die einen Zusammenhang von Trumps Wahlerfolgen mit dem Niedergang der Lokalmedien herstellten.

Patricia Schlesinger, Intendantin des RBB und ARD-Vorsitzende, eröffnete am Mittwoch die neue Reihe der Görlitzer Rede "Tacheles", Sie ist die Enkelin des jüdischen Görlitzer Rennfahrers Artur Schlesinger.
Patricia Schlesinger, Intendantin des RBB und ARD-Vorsitzende, eröffnete am Mittwoch die neue Reihe der Görlitzer Rede "Tacheles", Sie ist die Enkelin des jüdischen Görlitzer Rennfahrers Artur Schlesinger. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

"Wenn man es recht besieht, ist überall Schiffbruch", zitierte sie den römischen Geschichtsschreiber Titus Petronius, der im ersten Jahrhundert lebte, als das römische Kaiserreich in der Krise war. Das Gefühl von "Schiffbruch überall" in unübersichtlichen Zeiten sei also mindestens so alt wie die Geschichtsschreibung.

"Wo es Schiffbruch gibt, muss es vorher ein Schiff gegeben haben", sagte Patricia Schlesinger. "Unser Schiff" sei ein weitgehend friedliches Europa gewesen, der Glaube an eine tragfähige europäische Sicherheitsarchitektur, die von Norwegen bis Malta und von Portugal bis Russland reicht. "Ist der Traum vom Frieden ausgeträumt? Waren wir zu naiv?"

Angst bringt nicht weiter

Dass Angst niemanden weiterbringt und man die Hoffnung auf einen guten Ausgang nie aufgeben darf, wussten schon ihre Görlitzer Großeltern, deren Geschichte Patricia Schlesinger in ihr Plädoyer für Toleranz, Empathie, Zivilcourage, Anstand und Verantwortung eines jeden Einzelnen für das Gemeinwesen immer wieder einwob.

Erst als 22-jährige Studentin habe sie erfahren, dass ein Teil ihrer Familie im Holocaust umgekommen war. Als sie ihrer Großmutter erzählte, sie wolle nach Israel fahren, sagte diese: "Du weißt schon, dass wir dort Verwandte haben?" Sie wusste es nicht. Sie war 1961 in Hannover geboren worden, dahin war ihr Vater in den 1950ern aus der DDR geflohen. Ihre Großeltern, Artur und Grete Schlesinger, aber lebten in Görlitz. Zwei bis dreimal im Jahr konnte die Enkelin sie in ihrem Haus in der Rosa-Luxemburg-Straße besuchen, das die beiden erstaunlicherweise 1942/43, mitten im Krieg, gebaut hatten.

Artur Schlesinger, gebürtiger Zittauer, KFZ-Ingenieur, war vor dem Zweiten Weltkrieg Vertreter der Adlerwerke in Görlitz und ein begeisterter Rennfahrer gewesen. Sein Autogeschäft betrieb er in der Berliner Straße 46. Und er war Jude, einer der vielen, die im Ersten Weltkrieg fürs Deutsche Reich gekämpft hatten. Am 9. November 1932 gaben er und die nicht-jüdische Fabrikantentochter Margarete Lehmann einander das Ja-Wort.

Jüdischer Großvater hatte immer wieder Glück

Ein Zauber, sagt die Enkelin, habe über dieser Verbindung zweier Menschen gelegen, die völlig verschieden in Herkunft, Erziehung, Alter und Lebensform waren. Artur war ohne Vater aufgewachsen, ein Lebemann und Rennfahrer, der sich für Autos und Technik begeisterte. Die 16 Jahre jüngere Grete kam aus gut situierten Verhältnissen, lebte in einer Villa an der Rauschwalder Straße, war großbürgerlich, sehr behütet aufgewachsen.

Der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu bedankte sich bei Patricia Schlesinger für ihre Rede, die ein "würdiger Anfang" für die neue Veranstaltungsreihe im Kulturforum Synagoge sei.
Der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu bedankte sich bei Patricia Schlesinger für ihre Rede, die ein "würdiger Anfang" für die neue Veranstaltungsreihe im Kulturforum Synagoge sei. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Kurz nach dem 9. November 1938, dem sechsten Hochzeitstag der beiden, wurde Artur Schlesinger von der Gestapo verhaftet, weil in seinem Pass der von den Nationalsozialisten verordnete zusätzliche Vorname für männliche Juden "Israel" nicht eingetragen war. Seine Frau fragte immer wieder nach seinem Verbleib, ließ nicht locker, um ihn freizubekommen, und konnte schließlich einen Beamten bestechen. "Ich finde das mutig", sagte Patricia Schlesinger, "was wäre geschehen, wenn er das Geld nicht genommen hätte? Sie wäre vielleicht selbst verhaftet worden oder schlimmer."

Ebenso setzte sich ihre Urgroßmutter Rike Schlesinger für ihren Sohn ein. Sie "bekannte" beim Standesamt, Artur Schlesinger sei nicht der Sohn ihres verschollenen Ehemanns, sondern der illegitime Sohn eines Christen. Die Änderung wurde vorgenommen, somit galt Schlesinger als ein mit einer "Arierin" verheirateter Halbjude und stand nicht mehr so stark im Fokus der NSDAP.

Geschichte der Hoffnung

Seiner Mutter nützte die Notlüge nichts, sie wurde nach Theresienstadt deportiert und überlebte den Holocaust nicht. Deren Tochter, Artur Schlesingers Schwester, verheiratet mit einem Rabbiner, wanderte nach der Pogromnacht 1938 nach Israel aus – jene Verwandte, von denen Patricia Schlesinger als 22-Jährige erfuhr.

Bis heute lasse sich aus dieser Geschichte ihrer Großeltern, die anders als die der meisten jüdischen Familien glücklich ausging, etwas lernen. Zum einen, dass Geschichte nicht linear verläuft, sich manchmal überraschende Nischen auftun, und der Zufall, persönlicher Launen, unvorhergesehene Ereignisse von ebenso großer Bedeutung sind wie historische Gesetzmäßigkeiten.

"Für das Glück meiner Großeltern kam es auf jeden Einzelnen an, der ihnen geholfen hat", sagte Patricia Schlesinger. "Ihre Geschichte ist auch eine Geschichte der Hoffnung. Denn auch heute kommt es auf den Einzelnen an, auf Sie, auf mich, auf jeden, und das ist eine ziemlich große Verantwortung."