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"Kinder brauchen die Anerkennung der Eltern"

Die Betreuer im Kamenzer Louisenstift geben Kindern, denen das Wichtigste fehlt, Halt und ein neues Zuhause. Und müssen dabei selbst einiges aushalten.

Von Reiner Hanke
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Sarah Wuttke ist Teamleiterin in der Wohngemeinschaft für Jugendliche des Louisenstifts in Kamenz. Zu den Jugendlichen, die sie betreut, gehört die 15-jährige Hanna.
Sarah Wuttke ist Teamleiterin in der Wohngemeinschaft für Jugendliche des Louisenstifts in Kamenz. Zu den Jugendlichen, die sie betreut, gehört die 15-jährige Hanna. © Matthias Schumann

Kamenz. Hanna* ist ein eher leises Mädchen. Manchmal kann aber auch ein schlimmer Vulkan in der 15-Jährigen brodeln. Das hat mit ihrer Lebensgeschichte zu tun. In der frühen Kindheit hat sie viel Leid ertragen müssen, um nach etlichen Stationen ein Ersatz-Zuhause in der Kamenzer Wohngemeinschaft (WG) für junge Leute unter dem Dach des Louisenstifts zu finden.

An das richtige Zuhause gibt es wenig Erinnerungen und vor allem wenig gute. Hanna musste es mit vier Jahren verlassen. Beide Eltern waren drogensüchtig. Selbst in der Schwangerschaft kam die Mutter nicht davon los. Der Vater war ausgezogen. Die Mutter überließ das kleine Mädchen sich selbst. Der Hund habe mehr Beachtung und Liebe erhalten als das eigene Kind.

Es ist schwer nachzuempfinden, wie alleingelassen sich ein Kind fühlen muss ohne die Wärme, die es braucht. Es müsse nicht immer um körperliche Gewalt gehen, sagt Sarah Wuttke, die Teamleiterin der Wohngruppe in Kamenz: „Aber Kinder brauchen die Anerkennung der Eltern.“ Es sei furchtbar, wenn sie weggestoßen werden, das Gefühl haben, nicht gewollt oder nichts wert zu sein.

Einer der schlimmsten Momente: Wieder ins Heim!

Hanna fällt es nicht leicht, darüber zu sprechen. Das Jugendamt zog schließlich die Reißleine. Ein Kinderheim im Raum Dresden war die erste Station, dann eine Pflegefamilie am Stadtrand.

Dort erlebte das Mädchen einen der schlimmsten Momente im Leben, als es die Familie plötzlich wieder verlassen musste. Weil ein eigenes Kind unterwegs war, weil sie die Aufgabe nicht mehr stemmen konnte, weil Hannas manchmal ungezügeltes Temperament zu Konflikten geführt hatte. Viele Ausraster wegen banaler Sachen, ärgert sie sich heute. Schon bei dem Gedanken an den Tag steigen wieder Tränen auf. Damals waren es viele Tränen vor Verzweiflung: Wieder ins Heim!

Zuerst ins Louisenstift nach Königsbrück, dann nach Kamenz. Auch dort kochte die Wut öfter mal hoch. Solche Momente mit den Kindern auszuhalten, gehöre dazu, sagt Sarah Wuttke, auch wenn es nicht leicht sei.

Man müsse den Hintergrund sehen und verstehen. Kinder würden schlimme Erlebnisse ganz unterschiedlich verarbeiten, oft im Unterbewusstsein. Es erfordere manchmal viel Gelassenheit und Ruhe, um bestmöglich zu reagieren: „Erfahrungswerte machen viel aus und immer verständnisvoll, einfühlsam zu sein.“ Solche Wutausbrüche hätten tiefere Ursachen bei den Kindern, seien oft Ausdruck von Trauer.

Kann die WG das Elternhaus ersetzen?

Hannas Zuhause ist jetzt hinter den unscheinbaren gelben Wänden eines Mehrfamilienhauses in Kamenz. Aber kann es das Elternhaus ersetzen? Einerseits Ja, weil sie sich allen Betreuern anvertrauen könne, aber andererseits auch nicht wirklich, denn „sie sind halt nicht Mama und Papa“, sagt das Mädchen.

Das Louisenstift springt ein, wenn Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind, wie bei Hanna. Insgesamt gibt es derzeit sechs solche WGs der gemeinnützigen Gesellschaft mit etwa 50 Kindern und Jugendlichen. Vor 185 Jahren wurde das Stift schon als Kindereinrichtung gegründet.

Die Zimmer der Kamenzer WG sind identisch ausgestattet, schlicht mit Möbeln in Weiß und Schwarz – mit Bett, Schrank und Regal. Einfach, um keinen Jugendlichen zu bevorzugen. Eigene Akzente dürfen die Mädchen und Jungen aber setzen. Mit selbst gestalteten Bildern von Wölfen hat Hanna die Wand dekoriert. Sie mag die starken Tiere. Vielleicht, weil sie auch stark sein möchte. Oder auch wegen des sehr sozialen Familienlebens der Wölfe? Erfahrungen, die das Mädchen vermisst.

Auch Einkaufen will gelernt sein

Bis zu neun junge Leute wohnen auf drei Etagen, mit Gemeinschaftsküchen, modernen Bädern und einem Gemeinschaftsraum. Die Wohngruppe zog erst 2019 aus dem Schloss Brauna, das die Gesellschaft schrittweise aufgeben will, nach Kamenz. Es sei als Gebäude für solche Jugendprojekte nicht so geeignet, sagt Sarah Wuttke. Auch die letzte Wohngruppe wird das Schloss verlassen. Für die Kinder entsteht ein Neubau in Schwepnitz.

Sechs pädagogische Fachkräfte und eine Studentin sind für die Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren da. Von ihnen erhalten sie das Rüstzeug für die Lehrstellen-, Wohnungs- und Jobsuche, lernen, wie Sozialleistungen zu beantragen sind, sagt Sarah Wuttke. Selbst Einkaufen wolle gelernt sein, um fit für den Alltag zu werden und sich schrittweise auf ein eigenständiges Leben vorzubereiten.

Davon zeugt zum Beispiel der Essensplan. Da wird genau aufgeteilt, wer an welchem Tag für die Versorgung einer Gruppe verantwortlich ist. Jeder hat seine Spezialitäten. Wenn Hanna dran ist, gibt es am liebsten Lasagne.

Die Fähigkeiten würden erarbeitet, sagt die Betreuerin. „Wir besprechen das regelmäßig, reden über Stärken, Ziele, Wünsche.“

Ein Gefühle-Mix aus Wut, Trauer und Sehnsucht

Da hat Hanna einige. Sie wünscht sich nach ihrem Kindheits-Trauma vor allem ein strukturiertes Leben mit verlässlichen Menschen. Sie wünscht sich auch, die Mama häufiger zu sehen. Aber das Verhältnis zu den Eltern ist nicht einfach. Es ist ein Gefühle-Mix. Wut und Trauer darüber, im Stich gelassen worden zu sein, vor allem gegenüber der Mutter. Zugleich aber Sehnsucht nach ihr. Beim Papa komme eher Freude auf, wenn sie ihn sehe.

Es gibt auch Wünsche im Hinblick auf eine Ausbildung. Da sollten ihr viele Möglichkeiten offenstehen mit einer glatten Zwei im Durchschnitt. Aber Hanna ist streng mit sich, spricht von Schwachpunkten, die sie ärgern. Was mit Tieren würde sie gern machen: „Ich liebe große Tiere, vor allem Pferde.“ Sie seien dankbar, enttäuschen einen nicht. Erzieher steht auch ganz oben auf der Berufe-Wunschliste und dann noch Koch.

Teamleiterin Sarah Wuttke hat manchmal das Gefühl, es werde unterschätzt, was die Betreuer leisten, sie wünscht sich mehr Anerkennung. Schließlich gehe es um einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft.

Für die Wohngruppen gibt es eine Warteliste

Für die Wohngruppen gebe es inzwischen eine Warteliste. Möglicherweise habe Corona ja den Druck verstärkt. Kurzarbeit und Homeschooling, das ungewohnte Zusammenleben habe so manche Familie auf eine harte Probe gestellt. Das alles zeige, wie dringend dieser Bereich der Jugendhilfe gebraucht werde.

Darum hat das Louisenstift seine Angebote schrittweise ausgebaut. Dazu gehört die integrative Familienarbeit. Denn: Erstes Ziel der Kinder- und Jugendhilfe sei es, dass die Mädchen und Jungen in der Familie bleiben können. Oft sei ja von schwierigen Kindern die Rede, dabei gehe es aber meist um Eltern, die selbst biografisch vorbelastet oder mit der Vielzahl an Aufgaben schlicht überfordert sind. Ursache seien auch psychische Probleme. Deshalb bietet das Louisenstift eine ambulante Hilfe für psychisch Erkrankte an und Unterstützung bei der Wiedereingliederung.

Für Hanna geht es in zwei Jahren um den Start in eine selbstbestimmte Zukunft. Sarah Wuttke denkt, dass sie es schafft: „Das Zeug dazu hat sie auf jeden Fall.“