Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
Update Feuilleton
Merken

"Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins": Nachruf auf Schriftsteller Milan Kundera

Der tschechisch-französische Schriftsteller Milan Kundera starb im Alter von 94 Jahren. Kommt jetzt die überfällige Aussöhnung der Tschechen mit ihrem weltbekannten Schriftsteller?

Von Hans-Jörg Schmidt
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Der tschechisch-französische Schriftsteller Milan Kundera ist tot. Das Foto zeigt ihn im Jahr 1968.
Der tschechisch-französische Schriftsteller Milan Kundera ist tot. Das Foto zeigt ihn im Jahr 1968. © CTK

Wenn jemand 94 Jahre alt ist, kommt die Nachricht von seinem Tod nicht überraschend. Bei Milan Kundera war viele Jahre jede Information eine riesige Überraschung. Er galt in seiner tschechischen Heimat als großer Schweiger. Und das, obwohl Kundera nach dem Ableben des Dichterpräsidenten Václav Havel der mit Abstand wichtigste Autor war, dessen sich Tschechien rühmen konnte. Nur - der Autor lehnte jedes Interview ab. Wenn er aus seiner Exil-Heimat Frankreich in sein Geburtsland reiste, dann inkognito. Er stieg unter falschem Namen ab, nur ganz enge Freunde wussten, wo er sich aufhält.

Kundera fremdelte mit seinem Land und gab sich auch keine große Mühe, sich seinen Landsleuten zu erklären. Dabei hätten die gern zu verstehen versucht, wie sich ein Intellektueller seiner Größe im Leben so häufig wandeln kann. Auch, um ihr eigenes Leben besser zu verstehen. Aber Kundera war so eigen, dass er auch selbst bestimmte, ob seine im Exil auf Französisch geschriebenen Werke ins Tschechische übersetzt werden dürfen oder nicht.

In Brünn geboren, das damals eine deutsche Sprachinsel in der ersten tschechoslowakischen Republik war, wurde Kundera nach der Machtergreifung der Kommunisten 1948 ein glühender Jungkommunist. Stalin war sein großer Held. Bis Anfang der 1950er Jahre auch in der Tschechoslowakei Prozesse nach stalinistischem Muster begannen. Führende Kommunisten, aber nicht nur sie, wurden zum Tode verurteilt. Kundera wurde 1950 lediglich aus der Partei ausgeschlossen. Die Staatssicherheit hatte eine Korrespondenz abgefangen, in der er sich über einen Parteifunktionär lustig gemacht hatte. 1967 wurde er wieder in die Partei aufgenommen, 1970 endgültig ausgeschlossen.

Tschechoslowakische Staatsbürgerschaft entzogen

Kunderas persönliche große Wende kam 1967 auf einem Schriftstellerkongress auf dem mittelböhmischen Schloss Liblice. Das Schicksal der tschechischen Literatur, so sagte er dort, hänge vom Grad der geistigen Freiheit ab. Jede Art von Zensur sei abzulehnen.

1975 erhielt Kundera eine Einladung für einen Aufenthalt als Dozent an der Universität Rennes und ging mit seiner Ehefrau Věra nach Frankreich. 1978 zog er nach Paris und nahm dort eine Dozentur an. Das Regime in Prag hinderte ihn nicht daran; es war froh, Kundera los zu sein. Zumal er sich in seinem Roman „Das Buch vom Lachen und Vergessen“ kritisch mit dem Kommunismus und seiner eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt hatte.

Die Prager Neostalinisten, die nach dem zerschlagenen Prager Frühling die Herrschaft errungen hatten, straften ihn für das Buch mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft ab. Daraufhin nahm Kundera 1981 die französische Staatsbürgerschaft an. Die Reihe der Bücher, die er in Frankreich schrieb, ist lang. 1984 wurde er mit dem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ weltbekannt.

Milan Kundera 2005 in Madrid.
Milan Kundera 2005 in Madrid. © epa

2008 platzte in seinem Geburtsland eine Bombe: die seriöse Wochenzeitung Respekt veröffentlichte eine Akte über einen Vorgang, der ewig zurücklag: „Am 14. März 1950, um 16 Uhr, kam der Student Milan Kundera, geboren am 1.April 1929 in Brünn, wohnhaft im Studentenwohnheim in Prag, in die Abteilung, um Anzeige zu erstatten“. Die Akte wurde durch Zufall gefunden, nicht einmal die Stasi hatte Kenntnis von ihr. Als sie in der Zeit nach dem Prager Frühling ein Dossier zusammenstellte, das dem zum Dissidenten mutierten Kundera schaden sollte, entging ihr die protokollierte Denunziation.

Denn nichts anderes war das, was Kundera an jenem Märztag 1950 bei der Polizei hinterließ. Kundera schwärzte den damals 22-jährigen Miroslav Dvořáček an, der 1949 nach Westdeutschland geflüchtet war. Unter amerikanischer Aufsicht wurde Dvořáček von tschechischen Instrukteuren als Kurier ausgebildet. Dvořáček gehörte zu den sogenannten Zu-Fuß-Agenten – antikommunistische Widerständler, die geheimes Material aus der Tschechoslowakei in den Westen schmuggelten.

Schweigen zu Denunziations-Vorwürfen

Am 13. März 1950 überschritt Dvořáček erneut die Grenze und wurde bereits von zwei bewaffneten Polizisten erwartet.

Kundera wusste, was er mit seiner Denunziation anrichtete. Mit enttarnten Widerstandskämpfern machte das Regime kurzen Prozess. Im Falle Dvořáčeks forderte die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe. Am Ende hatte er Glück, wurde zu „lediglich“ 22 Jahren schweren Kerkers verurteilt. 14 Jahre davon musste er verbüßen, unter anderem als Zwangsarbeiter in einem Uranbergwerk.

Die Wochenzeitung Respekt stellt das lange Schweigen Kunderas auf eine Stufe mit dem Schweigen Günter Grass’ über dessen Zeit bei der Waffen-SS. Wie Grass habe Kundera offenbar befürchtet, mit einer Beichte seine moralische Autorität einzubüßen.

Respekt hatte Kundera zu dem Fall einen Fragenkatalog nach Paris geschickt, den der Romancier jedoch nicht beantwortete. Er sprach wütend von einem „Attentat auf einen Autor“. Kundera bekam Schützenhilfe wichtiger Autoren aus aller Welt, die freilich nie in einem stalinistischen Land gelebt hatten und die Praktiken dort bestenfalls vom Hörensagen kannten. Doch auch der damals schon altersmilde Ex-Präsident Václav Havel stellte sich vor seinen Schriftstellerkollegen, mit dem er häufig über Kreuz gelegen hatte. 2009 legte die Zeitung Lidové noviny nach und veröffentlichte ein Dokument, das den Verdacht gegen Kundera verstärkte. Kundera schwieg dazu.

Dafür füllte der Fall zu großen Teilen eine lange Kundera-Biografie, die in Tschechien begierig gelesen wurde. Kernsatz: Kundera habe sich „bis in die 1970er-Jahre mit den Herrschenden arrangiert“ und sein Leben lang „gelogen und andere perfekt manipuliert, um sein Versagen zu vertuschen“.

Irgendwie versöhnlich wirkte 2019 die Rückgabe der tschechischen Staatsbürgerschaft an Kundera durch den damaligen Premier Andrej Babiš. Womöglich söhnen sich die Tschechen jetzt mit dem toten Kundera aus. Sommerzeit ist Lesezeit. Es gibt reichlich Lektüre von und über Milan Kundera.