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So stark war die Theater-Uraufführung über die Karriere eines AfD-Aufsteigers

Das Zittauer Theater hört auf Volkes Stimme im neuen Stück von Lukas Rietzschel und hüllt die Bühne ganz in Weiß.

Von Rainer Kasselt
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In „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ sinnt Autor Lukas Rietzschel der Frage nach, wie ein Lausitzer, der in der DDR aufwuchs, Berufspolitiker der AfD wird.
In „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ sinnt Autor Lukas Rietzschel der Frage nach, wie ein Lausitzer, der in der DDR aufwuchs, Berufspolitiker der AfD wird. © Pawel Sosnowski

Fünf Schauspieler auf der Bühne. Einer fragt „Wissen Sie, wen ich gut finde? Den Michael Kretschmer.“ Ja, der sei toll, pflichtet ein anderer bei: „Der hat wirklich zu allem eine klare Meinung.“ Ein Dritter meint: „Mir ist mal ein Marmeladenbrot auf den Boden gefallen. Da hat er gesagt, er setzt sich für den Erhalt der Mehrfruchtkonfitüre ein.“ Lachen im Publikum. Eine Szene, die viel verrät vom dialektischen Schreiben von Lukas Rietzschel.

Das Produktionsteam mit Ausstatter Sven Hansen (v. l. n. r.), Dramaturg Martin Stefke, Regisseur Ingo Putz und Autor Lukas Rietzschel im Theater Zittau.
Das Produktionsteam mit Ausstatter Sven Hansen (v. l. n. r.), Dramaturg Martin Stefke, Regisseur Ingo Putz und Autor Lukas Rietzschel im Theater Zittau. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

Am Sonnabend erlebte im Zittauer Gerhart Hauptmann Theater das Auftragsstück „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ hinter dem Eisernen Vorhang seine Uraufführung. Rietzschel nennt es „Ein Theaterstück aus Interviewsequenzen“. 2022 befragte er rund 100 Bürger aus der Lausitz, Arbeiter, Politiker, Abgewanderte, Rückkehrer, Dagebliebene. Fast wie ein Soziologe hat sich Rietzschel, der im März 30 wird, nach ihren Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen erkundigt: „Das Stück ist der Versuch einer sehr ambivalenten Betrachtung deutscher Geschichte.“ Er hat die Gespräche gebündelt, manche hinzuerfunden.

Rietzschel hat sich als wichtiger ostdeutscher Schriftsteller profiliert. Sein Prosaerstling „Mit der Faust in die Welt schlagen“ über radikalisierende Jugendliche in der Lausitz fällt durch ungeschönte Sprache auf. Sein Roman „Raumfahrer“ besticht durch präzisen Blick auf ostdeutsche Befindlichkeiten. Rietzschel beschreibt die Menschen als widersprüchliche Charaktere. Fragt, wo ihr Frust, ihre Verbitterungen und Gewaltfantasien herrühren. Antworten hält er nicht bereit. Im Stück „Widerstand“ porträtiert er Menschen, die sich an den Rand gedrängt sehen und vom Staat abwenden.

Der Kniff mit Samuel W.

Im neuen Werk sinnt der Autor der Frage nach, wie ein Lausitzer, der in den 80er-Jahren zwischen Tagebau und Braunkohlegrube in der DDR aufwuchs, Berufspolitiker der AfD wird. Wer ist dieser Samuel W.? Der Kniff: Er tritt im Stück gar nicht auf. Andere urteilen über ihn: Mitschüler, Studenten, die Mutter, seine Lehrerin, Nachbarn. Die Meinungen widersprechen sich, jeder hat andere Erinnerungen. Ein reizvolles Puzzle. Schon als Kind dominiert Samuel andere, ist stolz auf den Spitznamen „Führer“, geht nach dem Studium freiwillig zur Bundeswehr, entwickelt patriotische Gefühle, wechselt zu den Kameraden der Polizei, tritt in die FDP ein. Sie wird zu seiner politischen Schule. Wie leite ich eine Sitzung? Wie bringe ich Anträge ein? Wie ist die Hierarchie der Partei? Entsetzt stellt der FDP-Politiker fest: „Wir waren der Ausbildungsbetrieb für seine spätere politische Karriere.“ Samuel W. wechselt rasch zur AfD.

In der Rahmenhandlung, per Video eingespielt, findet die Bürgermeisterwahl in einer Gemeinde statt. Nach dem ersten Wahlgang liegt der AfD-Kandidat knapp vor dem amtierenden Orts-Vorsteher. Doch zum nächsten Urnengang tritt Samuel W. nicht mehr an. Er will sich für diesen Posten nicht verheizen, sondern Innenminister werden. Brandaktuell diese Volte. Der alte Bürgermeister ist auch der neue. Er ist nicht glücklich darüber: Man habe kaum Zeit für Familie, Freunde, sei keine Privatperson mehr. „Ist es das wert, sich abzuarbeiten ohne Ende und sich schließlich beschimpfen zu lassen? Wofür eigentlich? Für eine Stadt? Für die Demokratie?“50 Jahre ostdeutsche Geschichte werden reflektiert. Arbeitslosigkeit, Umschulungen, Frührente, Eurorettung, Finanzkrise, Migration, Corona, Ukrainekrieg, Zukunftsangst. Sätze flirren durch den Raum: „Am Ende gewinnt immer das Geld“ oder „Ich habe bis heute nicht das Gefühl, ein gleichwertiger Teil von dieser Gesellschaft zu sein“. Zorn über den Stasi-Streifen „Das Leben der Anderen“. „Für die Wessis war der Film wie eine Bestätigung all ihrer Klischees.“

Das Problem des Abends

Die Schauspieler Martha Pohla, Sabine Krug, Paul-Antoine Nörpel, David Pawlak und Marc Schützenhofer spielen verschiedene Rollen, springen von Gespräch zu Gespräch. Regisseur Ingo Putz lockert die Szene auf. Er lässt sich von Ausstatter Sven Hansen ein Haus mit Garten und Pool für ein Ehepaar mit Kind auf die Bühne setzen. Daneben ein umzäuntes Grundstück mit Sonnenschirm und Auto. Alles ganz in Weiß gehalten: Kleidung, Grill, Bierflaschen, Kinderwagen, Gitarre, Baby. Schön reinlich das Ganze. Es wird getrunken, Tischtennis gespielt, getanzt, ein Abba-Lied gesungen, Geburtstag gefeiert. Eitel Sonnenschein. Ein harter Kontrast zur zerrissenen Gesellschaft. Ein Wunschbild oder gar erträumtes Bürgerideal?

Auf hohem Podest, fernab vom Volk, thront ein Mann, gespielt von der Tänzerin Elise de Heer. Pantomimisch zeigt sie die Karikatur eines Politikers, der sich verrenkt, dreht und windet, Stärke vorgaukelt. Sie illustriert den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des Samuel W. Der Name bedeutet in der hebräischen Bibel Prophet, Retter, Königsmacher.

Ein Problem hat der neunzigminütige Abend. Anders als im klassischen Drama kann sich der Zuschauer weder mit einer Figur identifizieren noch sich von ihr distanzieren. Auf der Bühne agieren keine Charaktere, sondern Ideenträger. Die Meinungen stehen zur Debatte und regen zum Mit- und Nachdenken an. Und das ist nicht wenig. Der starke Beifall des Publikums beweist es.

Wieder am 26. und 27. 1. in Görlitz, am 1.und 4.2. in Zittau, Kartentel: 03581 474747