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Elterntelefon im Landkreis Meißen: „Dann bin ich halt mal der Mülleimer für schlechte Laune!“

Sonja arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Beraterin beim Elterntelefon in Radebeul. Sie erzählt, was sich verändert hat und wie sie mit schwierigen Fällen umgeht.

Von Natalie Stolle
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Sonja berät seit zwanzig Jahren verzweifelte Eltern am Elterntelefon in Radebeul. Dabei hat sie schon viele unterschiedliche Geschichten zu hören bekommen.
Sonja berät seit zwanzig Jahren verzweifelte Eltern am Elterntelefon in Radebeul. Dabei hat sie schon viele unterschiedliche Geschichten zu hören bekommen. © Claudia Hübschmann

Landkreis Meißen. Das Telefon klingelt. Einmal, zweimal. „Hallo, hier ist das Elterntelefon.“ Sonja sitzt mit dem Telefonhörer am Ohr da und wartet. Auf der anderen Seite weint eine Frau. Sie kann kaum sprechen, doch Sonja wartet geduldig, bis sie sich beruhigt hat. „Nehmen Sie sich Zeit“, sagt Sonja. „Stellen Sie sich vor, ich bin eine Freundin, der Sie sich anvertrauen können.“ Die Anrufende kann sich langsam beruhigen und erzählt vom Auf und Ab ihres Familienlebens.

Sie ist Mutter zweier Pflegesöhne, elf und dreizehn Jahre alt. Die Jungen ignorieren die aufgestellten Regeln, der ältere lügt oft, befürchtet sie. Sie spricht davon, wie enttäuscht sie gerade ist. Schließlich stecken sie und ihr Mann viel Arbeit und Liebe in die Erziehung der Kinder. „Nehmen Sie das Verhalten der Kinder nicht persönlich. Das ist gerade eine Phase“, sagt Sonja, nachdem die Mutter sich ausgesprochen hat. „Denken Sie an die guten gemeinsamen Zeiten.“ Am Ende des langen Gesprächs, in dem Sonja ihr Mut macht und Ratschläge gibt, fühlt sich die aufgewühlte Mutter besser, hat Sonja den Eindruck.

Sonja, die im echten Leben einen anderen Namen trägt, ist ehrenamtliche Beraterin am Elterntelefon in Meißen. Die 69-Jährige mit dem sächsischen Dialekt bezeichnet sich selbst als Optimistin. Dabei hat sie täglich mit vielen Problemen unterschiedlicher Menschen zu tun.

Über eine Anzeige in der SZ zum Elterntelefon gekommen

Das Elterntelefon, in dem Sonja berät, wird am Standort Meißen durch den lokalen Träger OV Radebeul e.V. unterhalten. Es gehört zum Deutschen Kinderschutzbund und ist Mitglied bei der Nummer gegen Kummer e.V., welcher als Dachorganisation für die Beratungstelefone zuständig ist. Bundesweit gibt es 37 Elterntelefone, vier davon befinden sich in Sachsen. Ursprünglich existierte nur das Kinder- und Jugendtelefon, doch weil immer mehr Eltern dort anriefen und nach Hilfe fragten, wurde das Elterntelefon ins Leben gerufen.

Das Elterntelefon ist für Eltern da, die Schwierigkeiten mit der Erziehung haben und Rat suchen. Sonja erinnert sich noch an ihr erstes Telefonat vor über zwanzig Jahren. Ein junger Vater brauchte Hilfe, weil er mit seinem sechsjährigen Sohn überfordert war. „Ich denke manchmal immer noch dran“, sagt Sonja. „Heute könnte dieser Sohn ebenfalls Kinder und Sorgen haben.“

Sonja kennt die Sorgen von erziehenden Eltern nur zu gut, sie ist selbst Mutter von drei Kindern. Nach der Wende suchte sie nach einem Job, sie wollte nicht mehr nur Hausfrau sein. Doch sie erinnert sich, die Job Lage war damals schwierig. Aber untätig wollte sie dennoch nicht sein und zumindest eine Ehrenamtliche Tätigkeit ausüben. Bei den Schöffen wurde sie abgelehnt, über eine Anzeige in der Sächsischen Zeitung kam sie dann zum Telefon.

Die Leute brauchen jemanden, um gehört zu werden

„Eigentlich bin ich gar nicht so der Telefontyp“, stellt Sonja fest. „Wir haben erst 1998 einen Telefonanschluss daheim gehabt. Aber wenn man hier im Büro ist, dann schaltet man um. Ich bin immer erwartungsfroh auf das nächste Gespräch.“ Die Themen, die die Anrufenden mitbringen, sind ebenso vielfältig wie die Personen, die sich dahinter verbergen. Statistisch gesehen sind es mehr Frauen als Männer, die meisten riefen 2023 das erste Mal an. Aber es gibt auch Leute, die wieder anrufen und einige wenige Daueranrufer.

In zwanzig Jahren hat Sonja schon viele Geschichten gehört. Dabei geht es nicht immer nur um Eltern und Erziehung. Manchmal landen auch einsame Senioren oder kinderlose Erwachsene in ihrer Leitung. Abweisen tut das Elterntelefon sie trotzdem nicht. Nur, wenn die Berater nicht weiterhelfen können, dann würden sie an die Nummer gegen Kummer zum Beispiel weiterleiten.

„Was heute keine Seltenheit mehr ist, ist, dass die Leute einfach jemanden brauchen, um gehört zu werden“, sagt Sonja. „Wir haben eine Frau, die wohnt im Norden in Deutschland, die freut sich immer, wenn sie mit ihrem Anruf bei uns ankommt. Sie sagt dann, Sie kommen aus Sachsen! Das ist schön, die Sprache mal zu hören.“

Den sächsischen Dialekt kann Sonja nicht verbergen. Bisher gab es auch nur einmal ein Problem, direkt nach der Wende, als sich jemand an dem Dialekt störte. Sonst sei das aber nicht der Fall, schließlich würden die Anrufenden ja vor allem Hilfe suchen.

Anonymität ist ein Vor- und Nachteil für die Berater

Die Anonymität auf beiden Seiten der Leitung ist dem DKSB sehr wichtig. Die Berater nennen ihre Namen nicht und die Anrufenden müssen ihren ebenfalls nicht nennen. Sonja sieht das als großen Vorteil. Es hilft ihr, mit schwierigen Fällen abzuschließen und eine gewisse Distanz zu wahren.

Sie erinnert sich an eine Anrufende, die sich so gut mit ihr verstand, dass sie Sonja am liebsten privat mal getroffen hätte. „Da habe ich gesagt, das kann ich verstehen, aber das kann ich nicht machen. Persönliche Kontakte sind nicht möglich.“ Es gibt aber auch andere Fälle, die weniger schön sind und wo Sonja mit schwierigen Themen wie Suizid konfrontiert wird.

Sie erzählt von einem jungen 19-jährigen Mädchen, eine Daueranruferin. Sie sollte in eine Wohngruppe ziehen, daheim mit einer ebenfalls psychisch kranken Mutter hat sie es nicht mehr ausgehalten. Doch der Zeitpunkt, wann sie endlich in die Wohngruppe durfte, verzögerte sich immer mehr, das Mädchen wurde verzweifelter.

„Sie hat gesagt: Ich hab es satt. Ich will nicht mehr“, erinnert sich Sonja an das lange, ausführliche Gespräch. „Da habe ich ihr Mut gemacht. Sie haben schon so lange auf den Platz in der Wohngruppe gewartet, habe ich gesagt. Sie sind noch so jung, tun Sie sich bitte nichts an. Rufen Sie wieder an, wenn es nicht besser wird. Sie hat versprochen das zu tun. Seitdem habe ich nie wieder was von ihr gehört. Aber damit muss man dann leben.“

Es ist Vor- und Nachteil zugleich, sagt Koordinator Mario Taubenheim. „Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Anrufer mit der bundesweit einheitlichen Nummer beim gleichen Berater rauskommt, ist äußerst gering.“ Den Beratern steht jederzeit eine Psychologin zur Seite, die sie im Notfall anrufen können, falls sie selbst mal mit jemandem reden wollen. Sonja schätzt auch den Austausch der Kollegen untereinander. Vier Mal im Jahr finden Schulungen statt, auf denen die Ehrenamtlichen über schwierige Situationen reden können. Wem es zu viel wird, der kann auch mal ein paar Monate pausieren. Sonja musste das in zwanzig Jahren allerdings nie.

"Heute ist vieles komplizierter, die Probleme sind vielfältiger"

Sie spüre aber manchmal auch, wie anstrengend es sei, einen Anruf nach dem nächsten abzuarbeiten. Wenn es Sonja zu viel wird, sagt sie, geht sie mal eine Runde ums Gebäude spazieren oder nur in die nächste Etage, das würde manchmal schon helfen abzuschalten. Die Arbeitszeiten teilen sich die Ehrenamtlichen selbst ein, einen Schlusspunkt zu setzen, scheint für Sonja aber manchmal schwer zu sein.

„Das eine Mal wollte ich eigentlich aufhören, über den PC habe ich gesehen, dass viele Berater schon im Gespräch waren und es gab noch einen Anruf. Ich bin noch mal rangegangen und die Frau war dafür so dankbar. Das war dann noch mal ein langes Gespräch, aber da hat man dann das Gefühl, das hat sich wenigstens gelohnt.“

In ihrer Zeit beim Elterntelefon bemerkt Sonja, dass sich die Gesellschaft und die Probleme der Menschen verändert haben. „Heute ist vieles komplizierter, die Probleme sind vielfältiger geworden“, sagt sie. Das Internet spiele eine viel größere Rolle. Die Eltern beschäftigen Fragen wie: Wann bekommt das Kind das erste Smartphone? Wie schützt man die Kinder vor dubiosen Angeboten? Und auch, wie schützt man die Kinder vor eigenen Fehlern, die sie im Netz begehen können?

Die Familien an sich wohnen heutzutage auch nicht mehr so nah beieinander, ist Sonjas Eindruck. Früher hätten sich Eltern, wenn sie überfordert waren, an die Großeltern oder andere Familienmitglieder gewandt, heute wohnen viele Familien jedoch weiter voneinander entfernt. „Die Leute haben dann auch Scheu, jemanden aus der Nachbarschaft anzusprechen, damit im Notfall mal jemand da ist“, erzählt Sonja. Genau das rät Sonja aber den Eltern auf der anderen Seite der Leitung. Sich Hilfe zu suchen, ob beim Nachbarn oder in einer Hilfseinrichtung.

Viele wissen nicht, wie viele kostenlose Beratungsmöglichkeiten es gibt

„Optimal ist es auch immer, an eine Beratungsstelle vor Ort zu vermitteln“, sagt Sonja. Dafür würde sie zumindest die Postleitzahl des Anrufenden erfragen, damit sie demjenigen schnell die richtigen Nummern rausgeben kann. „Manche wissen gar nicht, dass es so viele kostenfreie Beratungsmöglichkeiten gibt“, so Sonja.

Seit das neue Jahr angebrochen ist, will Sonja noch mehr beraten. Es wirkt, als könnte die 69-Jährige wenig erschüttern, nicht mal Anrufende mit mieser Stimmung. „Da sage ich mir: Na, dann bin ich heute mal der Mülleimer für schlechte Laune. Wenn es dem anderen damit bessergeht, ist das auch okay.“ Ihr selbst gibt die ehrenamtliche Tätigkeit einiges zurück, das betont sie oft. Sie erinnert sich noch wie sie am Anfang über all das dachte. „Ich habe damals so gedacht: Mensch, was die Menschen so für Probleme haben. Da habe ich das richtig zu schätzen gelernt, wie gut es mir selbst geht.“

Das Elterntelefon ist bundesweit unter der kostenlosen Rufnummer 0800 - 1110550 von montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr und donnerstags bis 19 Uhr zu erreichen.