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74-jährige Lehrerin ist in Rothenburg noch immer aktiv

Wo Ausfall droht, springt Irene Schmidt ein. Migrationskinder lernen bei ihr Deutsch. Trotzdem ist der Unterricht an der Grundschule "auf Kante" genäht.

Von Frank-Uwe Michel
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Mit ihren 74 Jahren gehört Irene Schmidt noch längst nicht zum alten Eisen. In der Grundschule Rothenburg ist sie weiter als Lehrerin aktiv.
Mit ihren 74 Jahren gehört Irene Schmidt noch längst nicht zum alten Eisen. In der Grundschule Rothenburg ist sie weiter als Lehrerin aktiv. © André Schulze

Die 74 Jahre sieht man Irene Schmidt nicht an. Schlanke Figur. Schneller Schritt. Die weiß-grauen Haare kurz geschnitten und auf den Lippen ein Lächeln, das von Herzen kommt: "Ich mache das gern hier. Keiner zwingt mich dazu." Und auch das Geld, das sie für ihre Dienste an der Rothenburger Grundschule bekommt, ist nicht der ausschlaggebende Grund. "Ich habe einfach Spaß daran, mein Wissen an die Kinder weiterzugeben." Im November 2019 ist die Rothenburgerin in die sogenannte Unterrichtsversorgung eingestiegen - als Ersatz für eine Kollegin in Elternzeit und zusätzlich für Deutsch als Zweitsprache (DaZ).

Für Annegret Böse und die Grundschule in der Neißestadt war das ein Glücksumstand. Schon vor knapp drei Jahren war die Besetzung der Lehrerstellen nicht optimal, seither hat sich die Situation aber noch verschärft. "Wir haben aktuell acht Klassenlehrer, niemanden übrig. Der Unterricht ist bei uns 'auf Kante' genäht", schildert die Schulleiterin die angespannte Lage. Dabei wurde der Plan schon in Sport, Musik und DaZ um insgesamt rund 20 Stunden abgespeckt, Kunst und Werken finden in der 1. und 2. Klasse unter schwierigeren Bedingungen im Klassenverband statt. Zwei der acht Kollegen befinden sich noch in Ausbildung und fallen deshalb regelmäßig aus. Polnischunterricht ist derzeit gar nicht machbar. Annegret Böse beschreibt das alles mit einem Wort: "Katastrophal!" Im November, hofft sie, gibt es wenigstens Entlastung im Sport. Trotzdem: "Es ist überall Unruhe drin, nichts ist planbar."

Irene Schmidt kommt da wie ein Rettungsanker daher, wie eine Boje im wogenden Meer der vielen Unwägbarkeiten. "Wir sind glücklich, dass wir sie in unserem Haus haben", schwärmt die Schulleiterin. Immerhin gibt es mit aktuell 175 Grundschülern so viele wie noch nie in den vergangenen Jahren. Viele Zuzüge aus Polen, dazu Rückkehrer aus dem Altbundesgebiet, aber auch Migranten aus momentan zehn Nationen haben die Zahl nach oben schnellen lassen. Im Gegenzug ist das Lehrerkollegium von einstmals zehn um zwei Pädagogen geschrumpft.

Neben DaZ auch noch Deutsch und Mathe

Von so viel Ungemach lässt sich Irene Schmidt jedoch nicht beirren. Sie blüht auf, wenn sie von "meinen Kindern" spricht. Vor allem die kleinen Ukrainer, Iraner, Afghanen, Libyer, Georgier und Polen profitieren beim DaZ-Unterricht von ihrem Erfahrungsschatz. 24 Kindern in drei Klassenstufen bringt die Rothenburgerin die Sprache ihres Gastgeberlandes bei. "Unsere Schule ist ja DaZ-Stützpunkt für das umliegende Gebiet. Ohne Frau Schmidt könnten wir hier gar nichts machen", schätzt Annegret Böse die Lage ein. Zwei Stunden jeden Tag, zehn in der Woche - mit diesem Pensum ist die 74-Jährige gut ausgelastet. Denn neben DaZ gibt sie in Vertretung auch noch Deutsch und Mathe und nimmt für die Jüngsten zusätzlich die Schwimmbegleitung wahr.

Annegret Böse (rechts hinten) hat keinen leichten Job. Als Leiterin der Rothenburger Grundschule muss sie dafür sorgen, damit möglichst kein Unterricht dem Personalmangel zum Opfer fällt.
Annegret Böse (rechts hinten) hat keinen leichten Job. Als Leiterin der Rothenburger Grundschule muss sie dafür sorgen, damit möglichst kein Unterricht dem Personalmangel zum Opfer fällt. ©  Archiv/André Schulze

Lehrerin wurde Irene Schmidt quasi auf dem zweiten Bildungsweg. "Ich habe ursprünglich Kauffrau gelernt, später ein Maschinenbaustudium absolviert und war dann lange Zeit in Neustadt/Sa. im Mähdrescherwerk mit Vertragsrecht beschäftigt." Eigentlich hätte sie gern noch Jura studiert, erzählt sie. Aber das blieb ihr damals in der DDR verwehrt. So fing sie noch vor der Wende in Bautzen an der Berufsschule als Lehrerin an, "weil mich dieser Beruf schon lange interessierte." Fünf Jahre Wirtschaftspädagogik an der Humboldt-Universität Berlin schlossen sich an. "Als ich den Abschluss in der Tasche hatte, war ich um die 40", erinnert sie sich. Beruflich wechselte sie in den 1990ern an das Berufliche Gymnasium des Berufsschulzentrums in Görlitz und war dort zeitweise Oberstufenberaterin und Fachleiterin.

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2010 kam Irene Schmidt in all ihrem Engagement die Rente dazwischen. Zu Hause hielt sie es aber nicht lange aus. Von 2011 bis 2018 nahm sie Klavierstunden und schenkte sich zum 70. Geburtstag selbst das dazugehörige Instrument. Der Zufall wollte es, dass die Rothenburger Oberschule 2016 jemanden als Schwimmaufsicht brauchte. Das war wie gemacht für Irene Schmidt. Zudem begleitete sie einen autistischen Jungen fachlich bis zu dessen Abschluss in der 10. Klasse. Eigentlich hätte die agile Seniorin gern auch noch Ausfallstunden übernommen. Dazu kam es aber nicht.

Stattdessen rief sie in der Grundschule an, um in der Hausaufgabenbetreuung zu helfen. Genommen wurde sie hier "mit Kusshand", innerhalb von drei Wochen bekam sie sogar einen Vertrag als DaZ-Lehrerin. Seitdem gibt es Verlängerungen von Jahr zu Jahr. "Das kommt mir entgegen, weil ich mich selbst dann immer hinterfragen kann. Gefällt es mir noch, fühle ich mich weiter in der Lage?" Bis jetzt hat sie diese Fragen immer positiv beantwortet. "In Niesky gab es einen Arzt, der hat mit 80 noch praktiziert. Mit 74 kann ich also noch nicht zu alt für den Job als Lehrerin sein", sagt sie und lacht.

In der Elternschaft in Rothenburg brodelt es

Diese Einstellung kommt auch den Eltern der Grundschulkinder entgegen. Denn Irene Schmidts Abgang würde den Personalmangel an der Einrichtung noch verschärfen. Auch so ist die Stimmung unter den Muttis und Vatis nicht die beste, auch wenn sich momentan keiner öffentlich dazu äußern will. Sie sehen die Bildung und damit die Berufschancen ihrer Töchter und Söhne in Gefahr. Große Hoffnungen werden auf die Sitzung der Elternbeiratsvorsitzenden mit der Schulleitung am 27. September gesetzt. Man wolle die Schule in ihrem Ringen um mehr Lehrer unterstützen, heißt es. Im Gespräch ist auch ein offener Brief, um die Dringlichkeit zu untermauern. Schließlich überlegen Rothenburger Eltern auch, an einem politischen Gesprächsabend mit Sachsens Kultusminister Christian Piwarz zum Thema Schule teilzunehmen, der ebenfalls am 27. September in Löbau stattfindet.

Allzu große Hoffnungen auf die schnelle Verbesserung der Lage hat Annegret Böse indes nicht. "Geld ist zwar da, aber es fehlen die ausgebildeten Leute", merkt die Leiterin der Rothenburger Grundschule an. Sie habe dazu bereits mehrfach mit dem Landesamt für Schule und Bildung in Bautzen gesprochen.