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Wie habt ihr in der DDR gelebt?

Die Filmerin und Autorin Sabine Michel über die langen Jahre des großen Schweigens in vielen ostdeutschen Familien – und über die Gründe dafür.

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Mitte der Achtziger: Radrennfahrer Olaf Ludwig hilft Tochter Madlen beim Gleichgewichthalten. Er hat die DDR bewusst erlebt, sie nicht mehr. Viele jüngere Ostdeutsche wissen nichts über das Leben vor 1989. Das liegt oft an der Scheu vor dem Fragen.
Mitte der Achtziger: Radrennfahrer Olaf Ludwig hilft Tochter Madlen beim Gleichgewichthalten. Er hat die DDR bewusst erlebt, sie nicht mehr. Viele jüngere Ostdeutsche wissen nichts über das Leben vor 1989. Das liegt oft an der Scheu vor dem Fragen. © imago

Sabine Michel wurde 1971 in Dresden geboren und gehört zur letzten Generation der Ost-Abiturientinnen. Die Grimme-Preisträgerin arbeitet für Kino und TV sowie am Theater. Sie porträtierte die Schauspielerin Corinna Harfouch, die Fotografin Sibylle Bergemann und in „Montags in Dresden“ drei Pegida-Anhänger. Im Buch „Die anderen Leben“ lässt sie nun gemeinsam mit Dörte Grimm ostdeutsche Eltern und deren Kinder zu Wort kommen, die sich 30 Jahre nach dem Mauerfall zum ersten Mal miteinander über das Leben in der DDR austauschen. Ihr Fazit: Wir brauchen mehr Generationengespräche Ost.

Sabine Michel, jahrzehntelang wurde diagnostiziert, dass Ost- und Westdeutsche mehr miteinander reden müssten, um sich gegenseitig besser zu verstehen. Jetzt sagen immer mehr vor allem jüngere Ostdeutsche: Auch die verschiedenen Generationen im Osten haben untereinander arge Verständnisprobleme. Woran liegt das?

Weil es 30 Jahre lang im Osten kaum einen wirklichen Generationendialog gegeben hat. Das hat Gründe. Nach der kurzen Phase der großen Euphorie von 1989 und 1990 setzte hier ganz schnell eine Phase großer existenzieller Probleme ein, um die man sich in den Familien dringend kümmern musste: Systemwandel, Arbeitslosigkeit, Geburtenknick, das Wegbrechen alter Gewissheiten, viele Trennungen – Corona ist da nichts dagegen. Damit waren viele Ostdeutsche extrem beschäftigt. Sie hatten gar keine Zeit dafür, ihr Leben in der DDR selber tiefgründig zu reflektieren und dann mit ihren Kindern darüber und über ihre Prägungen und Erfahrungen zu reden.

Aber diese Phase dauert ja nicht ewig, für viele Menschen hat sich das Leben irgendwann wieder beruhigt …

Stimmt, nur: Als sich viele Menschen wieder eine gewisse Sicherheit und existenzielle Stabilität erkämpft hatten, war der Diskurs über Ostdeutschland eigentlich schon durch und die Deutung vor allem westdeutsch geprägt. Eine Aufarbeitung von innen hatte nicht stattgefunden. Außerdem war die Debatte lange dominiert von Themen wie Opfer, Täter, Stasi. Stichwort: Der Film „Das Leben der Anderen“ wird bis heute im Schulkino als Anschauung über das Leben in der DDR eingesetzt. Das ging über die Köpfe vieler Ostdeutscher hinweg. So weit, dass sie sich davon gar nicht mehr gemeint gefühlt haben.

Denken Sie, dass viele Ostdeutsche sich vom „Ossi“-Klischee befreien wollten, indem sie die Ossi-Wessi-Unterschiede kleinredeten oder gar leugneten?

Absolut. Und wie es scheint, fängt der Generationendialog gerade erst an, 30 Jahre nach der Wende. Das war bei uns in der Familie nicht anders, und ich bin Jahrgang 1971, ich habe in der DDR ja noch das letzte Ost-Abitur gemacht. Da bin ich schon aus der Familie rausgegangen und habe wie viele andere meines Alters meinen Weg alleine finden müssen. Die etwas Jüngeren, also die Dritte Generation Ost der ab 1975 Geborenen, haben diese ganzen Kämpfe, die Verteidigungen der Biografien und der Leben ihrer Eltern in der DDR täglich in ihren Familien mitbekommen, als sie noch klein waren. Da stellt man keine kritischen Fragen, da will man seine Eltern schützen.

Das war oft mit Schmerz und Trauer verbunden. Haben auch die Eltern ihre Kinder davor schützen wollen?

Ich denke schon. Jedenfalls hat sich damals in viele Familien ein Mantel des Schweigens über diese Themen gelegt. Das ist mir zum ersten Mal richtig bewusst geworden in meinem Film „Zonenmädchen“. Entweder wurde die Vergangenheit verleugnet, verschwiegen oder idealisiert. Dazwischen gab es wenig Grautöne. Und vor allem: Das Erinnern daran war sehr oft total schambesetzt. Die Eltern wussten, dass sie auch Fehler gemacht hatten und manchmal einfach weggeschaut oder geschwiegen haben. Aber dafür gab es ja Gründe. Es war eben schwer und oft genug auch riskant, in der DDR eine eigene Meinung nicht nur zu haben, sondern sie auch zu zeigen. Für differenzierte Gespräche darüber nach dem Mauerfall gab es lange Zeit keinen Raum. Und die Jüngeren haben solche Zwickmühlen und Zwiespalte nie kennengelernt.

Eine Ihrer Gesprächspartnerinnen, sie ist so alt wie Sie, sagt den Satz: „Für mich liegt die Zeit der DDR wie unter Glas. Ich schaue darauf, ich sehe mich auch, aber ich komme nicht ran“ …

Das ist die Folge dieses Schweigens: Gespräche über diese Zeit in der Familie sind der kleinste Baustein einer gesellschaftlichen Debatte. Dieser elementare Baustein kann nicht gesetzt werden, wenn Eltern sich durch Fragen ihrer Kinder in eine Verteidigungshaltung gedrängt fühlen, und die Kinder, wenn sie das spüren, dann Hemmungen bekommen, überhaupt Fragen zu stellen. So funktioniert Verdrängung.

Sie schreiben, das Problem des Schweigens habe lange vor 1989 begonnen, weil im abgeschlossenen DDR-System gar keine Generationengespräche über grundsätzliche gesellschaftliche Fragen möglich gewesen seien …

Weil der Staat wie eine Glucke alle diese Fragen ja für die Bevölkerung beantwortet und die Menschen total vereinnahmt hat. Es hieß immer „unsere Menschen“, „unsere Werktätigen“ und „unsere Jugend“. Wir waren immer alle gemeint. Der Staat hat damit eine Art Elternfunktion übernommen und keinen Zweifel daran gelassen: Dies und das wollen wir, und auf diese und jene Weise werden wir das erreichen.

Immerhin gab es doch den privaten Raum, die Freundeskreise?

Natürlich. Aber das waren vergleichsweise wenige Nischen. Zu was das führte, hat der ostdeutsche Soziologe Klaus Wolfram mal so beschrieben: Die DDR war eine Gesellschaft, die sich selbst nicht kannte, weil jeder öffentliche politische und soziale Diskurs fehlte. Die Mehrheit lebte bequem und legitimiert in der großen Vision der sozialistischen Gesellschaft. Es sollte uns abtrainiert werden, selber zu denken, offene Kritik zu üben, eigenverantwortlich zu handeln, und Individualität war zumindest nichts, was gefördert wurde. Das wirkte tief in die allermeisten Familien hinein. Ein Unterschied ist auch: Viele Kinder, die so wie ich damals Jugendliche waren, scheint es nach wie vor viel leichter zu fallen, Eigenverantwortung zu übernehmen, weil sie es nicht anders kennen. Die mehrheitlich westdeutsche Gesellschaft hat kein Verständnis dafür. Aber auch erwachsenen ostdeutschen Kindern fällt es oft nicht leicht, die Klagen ihrer Eltern darüber zu verstehen, dass man sich heute um alles selbst kümmern muss und warum ihnen das oftmals immer noch schwerer fällt. Da hilft nur der Austausch.

Sabine Michel
Sabine Michel © privat

Sie sehen die DDR als eine große elterliche Kümmer-Instanz?

Genau. Das hatte ja auch viele Vorteile. Auch ich habe mich als Kind darin total aufgehoben gefühlt. Gerade in diesem staatlich behaupteten gesamtgesellschaftlichen Antifaschismus. Frieden und Völkerfreundschaft – na das wollen wir doch alle. Nur: Was das jetzt konkret bedeuten soll, und wie man das erreicht und welche Preise man dafür zu zahlen bereit war; das wurde überhaupt nicht diskutiert. Hinterfragen, kritische Töne, individuelle Haltungen dazu, dafür gab es keinen öffentlichen Raum.

Wenn wir auf die aktuellen Protestbewegungen und auf das Wahlverhalten vieler vor allem älterer Ostdeutscher schauen – könnte Ihr Gedanke eines „nachgeholten Aufbegehrens“ dazu beitragen, diese Entwicklung ein wenig besser zu verstehen?

Viele Eltern fragen sich heute insgeheim ja berechtigterweise, warum sie damals nicht auch mal laut geworden und aufbegehrt haben, obwohl sie ja Gründe dafür gehabt hätten. Und nach 1990 ist die Diskussion darüber sofort besetzt worden, indem die DDR-Bürger im westdeutschen Diskurs kollektiv in Opfer und Täter aufgeteilt wurden. Für Grautöne und genaueres Hinschauen war kein Platz, das wollte kaum jemand hören. So wurden die Biografien vieler Menschen, die versucht haben, einfach nur ihr Leben zu leben, ohne sich Probleme einzuhandeln und in Schwierigkeiten zu geraten – und das konnte ja sehr schnell passieren –, mit einem Makel belegt.

Denken Sie, dass viele Menschen Scham darüber empfinden, vor 1989 keine oder nur sehr leise Kritik am Staat geäußert zu haben?

Ich glaube schon. Es ist eine interessante Theorie, dass sich diese Scham nachträglich lindern lässt, wenn man heute schneller auf die Straße geht und laut seine Kritik an der Regierung äußert. Das habe ich auch wahrgenommen, als ich mich für „Montags in Dresden“ mit vielen Menschen etwa bei Pegida unterhalten habe. Selbst wenn ich deren Schlussfolgerungen nicht teile, kann ich in gewissen Bereichen nachvollziehen, wie sie dazu kommen können. Auch dazu, dass viele Ältere so schnell mit DDR-Vergleichen zur Hand sind. Man stellt sich damit sozusagen nachträglich laut und öffentlich gegen die DDR. Hinzu kommt noch auf einer anderen Ebene das Problem des Ungleichgewichts bei finanzieller und kultureller Teilhabe der Ostdeutschen und deren Anteil an Führungspositionen.

Trotzdem erweckt Ihr Buch den Eindruck, dass diese Nicht-Kommunikation, dass dieses Schweigen allmählich aufzubrechen scheint.

Ich würde mir wünschen, dass es zu so einer Art nachgeholtem ostdeutschen 1968 kommt. Viele Jüngere trauen sich erst jetzt, ihre Eltern nach deren Leben in der Zeit vor 1989 und ihren Erfahrungen in den Jahren nach dem Mauerfall zu fragen und diese Leerstelle zu schließen. Ohne dass es dabei zu einem Klima des Misstrauens kommt. Vielleicht hat der alte Schmerz auch diese Zeit gebraucht, um abzuklingen, sodass der selbstkritische Austausch darüber jetzt erst möglich ist. Dafür ist es aber wichtig, dass wir nicht immer alles sofort werten, sondern einander einfach mal vorbehaltslos zuhören, in einem Klima der gegenseitigen Wertschätzung. Ohnedem geht es nicht.

Wem fühlen Sie sich persönlich in gesellschaftlichen Fragen und Perspektiven mehr verbunden: Der Generation Ihrer Eltern oder der Wendekinder?

Ganz klar: der Generation der Wendekinder. Weil ich wie sie zu den Fragenden gehöre, zu denen, die das Gespräch suchen, auch in meiner eigenen Familie. Aber als Dokumentarfilmerin und Buchautorin ist das wohl auch berufsbedingt.

Das Gespräch führte Oliver Reinhard

Am Freitag um 19 Uhr stellen Sabine Michel und Dörte Grimm ihr Buch „Die anderen Leben – Generationengespräche Ost“ (Bebra-Verlag) in der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung vor und zur Diskussion (DD, Schützenhofstraße 36). Der Eintritt ist frei.


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