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Klima-Aktivist aus Sachsen droht die Abschiebung aus Großbritannien

Der Sachse Marcus Decker wurde in Großbritannien zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Er hatte 41 Stunden eine Autobahnbrücke nahe London blockiert. Nun droht dem Aktivisten die Abschiebung nach Deutschland - und die lange Trennung von seiner Familie.

Von Angelina Sortino & Connor Endt
 8 Min.
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Marcus Decker kommt ursprünglich aus dem Erzgebirge. Mittlerweile lebt er in England. Doch ihm droht die Abschiebung nach Deutschland.
Marcus Decker kommt ursprünglich aus dem Erzgebirge. Mittlerweile lebt er in England. Doch ihm droht die Abschiebung nach Deutschland. © Just Stop Oil

Die Hände greifen immer wieder nach den Stahlkabeln der Brücke. Sie umklammern das Metall. Dann werden die Beine nachgezogen, ein bisschen weiter, Stück für Stück, in schwindelerregende Höhen.

Am frühen Morgen des 17. Oktober 2022 erklimmen der Deutsche Marcus Decker und Morgan Trowland die Queen-Elizabeth-II.-Brücke am Rande von London. Oben angekommen, beginnen sie, sich zu filmen. Marcus Decker sagt: „Ich befinde mich in 50 bis 60 Metern Höhe über der Autobahn, die wir blockieren.“

Sein Mitstreiter Morgan Trowland erklärt den Grund für die Blockade, während ihm eisiger Wind ins Gesicht peitscht: „Ich bin bereit, so etwas zu tun, …“ – er blickt kurz nach unten, schüttelt den Kopf, als könne er nicht glauben, wo er sich gerade befindet „…weil ich nicht bereit bin, zuzusehen, wie für den Rest meines Lebens alles, was ich liebe, verbrennt.“

Seine Stimme bricht, er holt kurz Luft. „Die betrügerischen Scharlatane, die sich Regierung nennen, beschleunigen diesen Prozess, indem sie mehr Lizenzen für Öl und Gas vergeben. Ein absoluter Akt des Verrats.“

Die Queen-Elizabeth-II.-Brücke, an der die Männer gerade hängen, verbindet die Londoner Vororte Dartford und Purfleet, wo sich viele Öldepots und Tanker befinden. Ein Banner mit den Worten „Just Stop Oil“, zu Deutsch „Stoppt einfach das Öl“, flattert zwischen den beiden Stahlkabeln.

Rund 36 Stunden wird es dauern, ehe es die Polizei schafft, die Blockierer von der Brücke zu holen. Fast 41 Stunden muss die Brücke, die Teil der Ringautobahn um London ist, gesperrt werden. Die Staatsanwaltschaft erklärt später, die Sperrung habe zu einem „kilometerlangen Stau“ geführt und fast 565.000 Autofahrer aufgehalten.

Bis zu zehn Jahre Haft für Protestaktionen

„Wir werden die Veränderung sein, die die Welt sehen muss“, singt Marcus Decker, während ihn Polizisten mithilfe einer Schwebebühne zu Boden befördern. „Wir wollen Klimagerechtigkeit – jetzt!“ Dann tragen ihn zwei Beamte in ein Polizeiauto.

Die Aktivisten hatten ein Banner mit den Worten "JUST STOP OIL" an der Brücke angebracht.
Die Aktivisten hatten ein Banner mit den Worten "JUST STOP OIL" an der Brücke angebracht. © Just Stop Oil
Die Queen-Elizabeth-II.-Brücke verbindet die Londoner Vororte Dartford und Purfleet, wo sich viele Öldepots und Tanker befinden.
Die Queen-Elizabeth-II.-Brücke verbindet die Londoner Vororte Dartford und Purfleet, wo sich viele Öldepots und Tanker befinden. © Screenshot/Canva/SZ
Blick von 60 Metern über der Themse.
Blick von 60 Metern über der Themse. © Just Stop Oil
Morgan Trowland in einer Hängematte, die an der Queen-Elizabeth-II.-Brücke befestigt ist. Inwischen wurde er für seine Protestaktion mit Marcus Decker zu drei Jahren Haft verurteilt.
Morgan Trowland in einer Hängematte, die an der Queen-Elizabeth-II.-Brücke befestigt ist. Inwischen wurde er für seine Protestaktion mit Marcus Decker zu drei Jahren Haft verurteilt. © Just Stop Oil
Blick hinab von der Queen-Elizabeth-II.-Brücke
Blick hinab von der Queen-Elizabeth-II.-Brücke © Just Stop Oil
Stau durch die Blockade der Aktivisten.
Stau durch die Blockade der Aktivisten. © Just Stop Oil

Nach mehr als sechs Monaten Untersuchungshaft und einem Gerichtsverfahren folgt das Urteil für die waghalsige Protestaktion. Decker muss wegen Störung der öffentlichen Ordnung für zwei Jahre und sieben Monate ins Gefängnis, Morgan Trowland sogar für drei Jahre. Die beiden Klimaaktivisten gehören zu den Ersten, die verurteilt wurden, nachdem die britische Regierung das Polizeigesetz 2022 deutlich verschärft hat. Seitdem drohen Demonstranten, die die öffentliche Ordnung stören, Haftstrafen bis zu zehn Jahren.

Harte Strafen als Abschreckung

In diesem Fall begründete der Richter die harten Strafen unter anderem mit einem Abschreckungseffekt: „Sie müssen für das verursachte Chaos bestraft werden, und um andere davon abzuhalten, es ihnen nachzumachen“, erklärt er den Angeklagten bei der Urteilsverkündung.

Für Marcus Decker bedeutet das Urteil nicht nur, dass er lange ins Gefängnis muss. Ihm droht zudem die Abschiebung, weil er keine britische Staatsbürgerschaft hat. Der 34-Jährige stammt nämlich ursprünglich aus dem sächsischen Lugau im Erzgebirge.

Nach britischem Recht können ausländische Straftäter, die im Vereinigten Königreich zu mehr als einem Jahr Gefängnis verurteilt worden sind, nach der Haft in ihr Heimatland zurückgeschickt werden.

„Ich bin am Boden zerstört und sehr traurig“

Ein schwerer Schlag für Decker, da seine Partnerin und seine beiden Stiefkinder in England wohnen. Seine Familie rechnet damit, dass er nach der Abschiebung im schlimmsten Fall bis zu zehn Jahre nicht mehr nach England einreisen darf.

„Ich bin am Boden zerstört und sehr traurig“, sagt Decker. Er habe zwar eine Gefängnisstrafe als Konsequenz seiner Handlungen akzeptiert. „Aber meine Familie, mein Zuhause, meine Gemeinschaft und die Wahlheimat, die ich zu lieben gelernt habe, zu verlieren, fühlt sich wie eine doppelte Strafe an.“

Holly Cullen-Davies und Marcus Decker sind seit über drei Jahren ein Paar.
Holly Cullen-Davies und Marcus Decker sind seit über drei Jahren ein Paar. © Holly Cullen-Davies /privat

Deckers Partnerin Holly Cullen-Davies steht hinter ihm. „Jeder da draußen sieht nur den störenden Aktivisten. Aber das ist der Mann, den ich liebe, ein liebenswerter Mensch, für den die Leidenden an erster Stelle kommen und niemals er selbst.“

Großer finanzieller Schaden durch Blockade

Dabei hat Decker mit seiner Protestaktion durchaus selbst Leid verursacht. Während des Prozesses hörte das Gericht Dutzende von Opfern an, die durch die Aktion geschädigt wurden. Zu den Betroffenen gehören laut der Polizei von Essex unter anderem eine hochschwangere Frau, die dringend medizinische Hilfe benötigte. Eine weitere Person habe die Beerdigung ihres besten Freundes verpasst. Außerdem habe ein Kind, das spezielle Medikamente benötigt, diese nicht bekommen. Auch der finanzielle Schaden war groß: Ein Unternehmen beklagte Einnahmeverluste zwischen umgerechnet 185.000 und 195.000 Euro, ein anderes verlor insgesamt 27.000 Euro.

Außerdem hätten die beiden Männer nicht nur sich selbst in Gefahr gebracht, erklärte Einsatzleiter Chief Superintendent Simon Anslow. „Ich musste eine kleine Gruppe von Beamten bitten, eine wirklich gefährliche Aufgabe zu übernehmen, in beträchtlicher Höhe und unter schwierigen Wetterbedingungen zu arbeiten, um zwei Personen nach unten zu bringen, die sich freiwillig in Gefahr begeben hatten.“

Holly Cullen-Davies telefoniert täglich mit ihrem inhaftierten Partner. Für andere sei es schwer, Marcus Decker persönlich im Gefängnis zu erreichen: Er kann keine Anrufe annehmen, Mails werden ihm nur ausgedruckt vorgelegt. Anfragen der Sächsischen Zeitung blieben unbeantwortet.

„Natürlich tun ihm die wenigen Menschen leid, die von seiner Aktion betroffen waren“, erklärt Holly Cullen-Davies. Die Staatsanwaltschaft hingegen spricht von Hunderttausenden Betroffenen. „Es war aber niemand in Lebensgefahr, und es wurde auch niemand verletzt“, gibt Cullen-Davies zu bedenken. „Nur wenige Monate vor seinem Protest sind bei einer Flut in Pakistan über 1.500 Menschen umgekommen, 500 von ihnen waren Kinder.“ Ihr Lebensgefährte sei deshalb der festen Überzeugung, dass ein gewisses Maß an Störung zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte notwendig ist.

Dass er für seine Aktion vermutlich ins Gefängnis muss, sei Decker vor seinem Protest klargewesen. Von der Höhe des Strafmaßes und der Abschiebung sei er dagegen überrascht. „Wir hatten mit vier bis sechs Monaten gerechnet“, so Cullen-Davies. Sie ist überzeugt, dass ihr Partner auf die Protestaktion verzichtet hätte, wenn er vorher gewusst hätte, wie groß die Auswirkungen auf sein Privatleben sein würden. Die Taktik des Richters, andere Aktivisten mit dem Urteil abzuschrecken, könnte also durchaus aufgehen.

Deckers Mutter: "Er ist kein Schwerverbrecher"

Markus Decker hat Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt. Um eine Abschiebung zu verhindern, müsste seine Haftzeit auf ein Jahr oder weniger reduziert werden. Laut seiner Partnerin könnte er bereits auf freiem Fuß sein, wenn er einer Abschiebung zustimmen würde. Das sei jedoch keine Option. „Wir werden kämpfen, sehr hart kämpfen“, sagt Holly Cullen-Davies. Sie hat per Online-Petition Stimmen gegen die Abschiebung gesammelt. Über 97.000 Menschen haben bereits unterschrieben.

Karola Decker, die Mutter des Inhaftierten, hofft ebenfalls, dass ihr Sohn nicht abgeschoben wird. Auch wenn das bedeutet, dass er erstmal nicht in seine sächsische Heimat Lugau zurückkehrt. Hier ist er groß geworden, bevor er durch Indien und Neuseeland gereist und schließlich in England gelandet ist.

Karola Decker sorgt sich um ihren Sohn Marcus.
Karola Decker sorgt sich um ihren Sohn Marcus. © kairospress

Karola Decker betreibt in Lugau eine Musikschule. Überall im Haus lagern Instrumente, selbst im Büro stehen zwei Keyboards an der Wand. Vor vier Jahren verunglückte ihr Ehemann bei einer Urlaubsreise tödlich, seitdem führt sie die Schule. Drei Lehrerinnen unterstützen sie beim Unterrichten.

Auch der Lugauer Bürgermeister Thomas Weikert setzt sich für Marcus Decker ein. „Er hat viel Gutes getan, hat seine Mutter nach dem Tod des Vaters Tag und Nacht mit der Musikschule unterstützt“, sagt er. Weikert hat einen Brief an die britischen Behörden formuliert. „Es ist ein junger Mann mit einem riesengroßen Herz, und deshalb habe ich die Behörden gebeten, ihre Entscheidung noch mal zu überdenken.“ Das Schreiben mit dem offiziellen Briefkopf der Stadt Lugau ist bereits nach England gelangt. Eine Antwort gab es bisher nicht.

Wenige Gehminuten hinter dem Haus von Karola Decker beginnt der Wald. Immer, wenn es ihr zu viel wird, spaziert sie zwischen den Bäumen umher. Oft sei sie hier gewesen in den letzten Wochen und Monaten. „Es ist alles nicht so leicht gerade“, sagt Karola Decker.

„Natürlich habe ich ihn gefragt: Marcus, bist du verrückt? Musste das denn wirklich so weit kommen?“, sagt sie mit Blick auf die Kletteraktion. Dennoch unterstützt sie ihren Sohn weiter: „Ich kenne ja mein Kind; er ist kein Schwerverbrecher, und er würde niemals jemandem was zuleide tun.“

Marcus habe ihr erklärt, warum er sich für die Blockade entschieden hat. Immer wieder habe er ihr gesagt, dass das Schicksal der Tausenden Menschen, die jährlich an den Folgen der Klimakatastrophe sterben, wesentlich schlimmer sei als sein eigenes.

Marcus Decker ist ebenfalls musikalisch. Bei seinen Protesten singt er oft.
Marcus Decker ist ebenfalls musikalisch. Bei seinen Protesten singt er oft. © Extinction Rebellion

Zweimal die Woche spricht sie mit ihrem Sohn im Gefängnis. „Er sagt immer: ‚Mutti, mir geht’s den Umständen entsprechend gut, und du brauchst dir keine Sorgen zu machen.‘“ Wegen des abschließenden Gerichtsurteils habe sie dennoch ein mulmiges Gefühl. „Wir können nur abwarten, ob es eine Urteilsänderung gibt.“

Holly Cullen-Davies klingt etwas optimistischer: „Wenn Marcus Strafe auf 18 Monate verkürzt wird, könnte er bald wegen guter Führung entlassen werden und zu uns nach Hause kommen.“ Die Abschiebung drohe ihm dann zwar weiter, aber auch dagegen werde das Paar weitere Rechtsmittel einlegen. Immerhin könnte so das Familienleben halbwegs normal weitergehen. „Die Kinder vermissen ihn.“