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Kritik an Kretschmer-Forderung für längere Arbeitszeit

Angesichts des Fachkräftemangels ist Ministerpräsident Michael Kretschmer für eine Arbeitszeitverlängerung. Das sorgt für Kritik - auch aus der eigenen Partei.

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Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels und zur Sicherung der Sozialsysteme eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit für alle um eine Stunde gefordert.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels und zur Sicherung der Sozialsysteme eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit für alle um eine Stunde gefordert. © Archivbild: dpa/Robert Michael

Berlin/Dresden. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels und zur Sicherung der Sozialsysteme eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit für alle um eine Stunde gefordert. „Wir brauchen neue Arbeitszeitmodelle. Mehr Anreize für längeres Arbeiten über die Rente hinaus“, sagte der CDU-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).

„Würde jeder Erwerbstätige in Deutschland nur eine Stunde pro Woche länger arbeiten, würde sich ein großes Potenzial für die Bekämpfung des Fachkräftemangels ergeben“, betonte er. „Laut OECD entspricht dies annähernd 1,8 Millionen zusätzlichen Arbeits- und Fachkräften.“

Der Regierungschef mahnte in dem Interview: „Wenn wir die Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung in der Zeit des demografischen Wandels stabilisieren wollen, müssen wir mehr leisten und länger arbeiten.“ Er forderte ferner die Überarbeitung des Rechtsanspruchs auf Teilzeit. „Auch das Teilzeit- und Befristungsgesetz passt nicht in die Zeit. Natürlich sollte es weiterhin Teilzeitmodelle geben, aber der allgemeine Rechtsanspruch auf Teilzeit muss überdacht werden und sollte auf wichtige Bereiche wie zum Beispiel die Pflege von Angehörigen beschränkt sein.“

Zudem verlangte Kretschmer die Abschaffung der Rente mit 63 beziehungsweise 65. „Alle Anreize zur Frühverrentung müssen jetzt abgeschafft werden“, sagte der Christdemokrat. „Es passt gar nicht zusammen, dass es in Deutschland immer noch Regelungen zur Rente mit 63 beziehungsweise 65 gibt, wir aber gleichzeitig wegen des Personalmangels Fachkräfte aus dem Ausland holen müssen.“

Kritik an Kretschmers Forderung

Deutliche Kritik an der Forderung Kretschmers kommt unter anderem von Sachsens Linken. Die Landesvorsitzenden, Susanne Schaper und Stefan Hartmann, bezeichneten Kretschmers Äußerungen als "Vorschläge aus dem letzten Jahrhundert".

„Kretschmer scheint einen wesentlichen Punkt zu vergessen: Die Menschen in Ostdeutschland arbeiten bereits länger und das für durchschnittlich weniger Geld als im Westen Deutschlands“, sagte Linken-Landesvorsitzender Stefan Hartmann. Er betonte: "Kretschmer will den Leuten einfach nur weismachen, sie sollen sich am Fließband mehr anstrengen und eine Stunde länger dort stehen, um unseren Wohlstand zu erhalten." Eigentlich sei aber eine Modernisierung der Anlagen und Infrastruktur nötig.

Längeres Arbeiten führe keineswegs zu einem höheren Arbeitsertrag, so Co-Vorsitzende Susanne Schaper. „Eine zu hohe Arbeitszeitbelastung kann sich sogar negativ auf die Produktivität auswirken und führt zu gesundheitlichen Belastungen.“

Ähnlich äußerte sich auch der Co-Vorsitzender der SPD in Sachsen, Hennig Homann. "Die Sachsen arbeiten schon jetzt deutlich länger als ihre Kollegen in Westdeutschland. Jetzt zu sagen: ‚Liebe Leute, arbeitet eine Stunde pro Woche mehr‘ – das geht an der Realität in Sachsen vorbei." Damit werde auch das Arbeits- und Fachkräfteproblem nicht gelöst. Sachsen müsse dagegen gute Arbeitsbedingungen und moderne Arbeitszeitmodelle bieten. "Für solche Experimente auf dem Rücken der Arbeitnehmer steht die SPD nicht zur Verfügung“, so Henning Homann abschließend.

Dulig bezeichnet Kretschmer-Forderung als "zynisch"

Auch der sächsische Arbeitsminister Martin Dulig (SPD) sieht die Forderungen des sächsischen Regierungschefs kritisch. "Wenn Michael Kretschmer jetzt eine Verlängerung der Arbeitszeiten im Osten fordert - in dem Wissen, dass wir hier ohnehin schon bis zu zwei Wochen mehr arbeiten als im Westen - ist das zynisch", sagte der SPD-Politiker am Donnerstag. Dulig zufolge sei es wesentlich sinnvoller, wenn die Tarifbindung in Sachsen endlich steigen würde.

Dirk Neubauer, Landrat des Landkreises Mittelsachsen, reagierte bei Twitter auch mit Zynismus. "Eine Stunde mehr arbeiten? In einem Landstrich, der pro Jahr im Schnitt 100 Stunden mehr arbeitet. Für 30 Prozent weniger als westwärts. Gute Idee. So schaffen wir den Anschluss", schrieb der parteilose Landrat.

Kritik kommt zudem auch aus der eigenen Partei. Europaabgeordneter Dennis Radtke (CDU) twitterte: „Eine Stunde weniger Interviews pro Woche wären vielleicht auch nicht schlecht.“ Angesichts von Millionen unbezahlten Überstunden seien diese Ratschläge „sehr schräg“.

Dem wirtschaftspolitischen Sprecher der Grünen, Gerhard Liebscher, zufolge sitzt Kretschmer mit seinen Vorschlägen einem grundlegenden Irrtum auf. "Statt auf Unternehmen und Arbeitnehmende zu zeigen, sollten wir viel stärker über die Rahmenbedingungen sprechen." Er forderte strukturelle Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Arbeitsleben - etwa ein funktionierendes und flächendeckendes ÖPNV-Netz.

Auch der AfD-Fraktionsvorsitzende, Jörg Urban, lehnte Kretschmers Forderungen ab. Er sehe die Probleme nicht am fehlenden Fleiß, sondern an den "Ausgabenexzessen der Regierung".

Als Ministerpräsident könne man sich ja zum Sprachrohr der Arbeitgeber machen, so Sachsens DGB-Vorsitzender Markus Schlimbach. „Ob es politisch klug ist, wenn man Mehrheiten gewinnen will, überlasse ich mal euch“, twitterte er.

Sachsens GEW-Chef Burkhard Naumann sieht das ähnlich und bezeichnete Kretschmers Äußerungen als "weltfremd". Sein Vorschlag: "Wir brauchen eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit, damit der Beruf nicht krank macht."

Ukrainische Flüchtlinge schneller in Arbeit bringen

Dem RND gegenüber forderte Kretschmer in dem Interview zudem, ukrainische Geflüchtete schneller aus dem Bürgergeld herauszuholen und in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Integrations- und Sprachkurse sollten parallel zu einem Beschäftigungsverhältnis absolviert werden, sagte der Landesregierungschef. „Viele Ukrainer verwundert schon, dass ihnen in den Jobcentern und Arbeitsagenturen gesagt wird, es sei in Ordnung, dass sie erstmal Bürgergeld bezögen und Sprachkurse machten und sich später Arbeit suchten“, berichtete er.

„Gerade mit Blick auf das neue Fachkräftezuwanderungsgesetz, sollte der Standard üblich sein, Sprach- und Integrationskurse neben einer Beschäftigung zu absolvieren“, forderte Kretschmer. „Integrationsbegleiter könnten sie dabei beraten und unterstützen.“ Er kritisierte die seiner Ansicht nach falsch gesetzten Anreize. In den meisten europäischen Ländern sei klar, dass jeder arbeiten müsse, um den Lebensunterhalt zu erbringen – in Deutschland allerdings nicht. Er fügte hinzu: „Viele Ukrainer, die gekommen sind, wollten sofort nach Ankunft arbeiten. Doch wir haben es mit unseren Regeln geschafft, dass dieser Wunsch wegadministriert wurde.“

Kretschmer äußert sich auch zu AfD-Umfragehoch

Angesichts der zuletzt hohen Umfragewerte für die AfD sprach sich Kretschmer zudem für einen neuen Politikansatz in Form von parteiübergreifender Problemlösungssuche aus. „Es reicht nicht aus, immer wieder zu betonen, wie rechtsradikal die AfD ist“, sagte der CDU-Politiker dem RND. Die Menschen würden eine tiefe Enttäuschung über die demokratischen Strukturen erleben. Man könne sie Kretschmer zufolge nur gewinnen, indem man einen parteiübergreifenden Ansatz wähle: "Regierung, Opposition, Bund, Länder, Gewerkschaften und Hilfsorganisationen müssen zusammenkommen, um Themen, die aus Sicht der Bevölkerung einer Erklärung bedürfen, zu besprechen.“

Kretschmer nannte Bereiche wie Asyl, Energie und Inflation, die in dieser Form diskutiert werden sollten. „Deswegen habe ich eine Kommission zum Umgang mit Flüchtlingen vorgeschlagen, die sich auf ein Ziel einigt und daraus Instrumente entwickelt. Ähnlich sollte es bei der Energie und Inflation laufen“, betonte er und warnte: „Sonst befürchte ich, dass wir bald eine Polarisierung erleben wie in den USA.“

Kretschmer stärkt Merz den Rücken

Angesprochen auf die Diskussion um einen Kanzlerkandidaten der Union bei der kommenden Bundestagswahl äußerte Kretschmer seine Loyalität gegen Parteichef Friedrich Merz. Im parteiinternen Streit um die Kandidatur stärkt Kretschmer Merz den Rücken für die Spitzenkandidatur. Zur Frage, ob Merz Kanzlerkandidat von CDU und CSU werden sollte, sagte der sächsische Ministerpräsident: „Ja. Friedrich Merz ist ein hervorragender Partei- und Fraktionschef. Er hat die Partei wieder geeint.“

Nach Kretschmers Einschätzung wird es dabei bleiben, dass die Union über ihre K-Frage endgültig erst in einem Jahr entscheidet. „Wir haben uns darauf geeinigt, die Frage der Kanzlerkandidatur im Sommer 2024 zu klären“, betonte der CDU-Politiker. (SZ/fa/mja/hek)