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Kann die CDU die AfD mit der Methode Kretschmer kleinhalten?

Er geht überall hin, hört zu, setzt auf maximale Bürgernähe. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer versucht, die AfD zurückzudrängen. Unterwegs mit einem Getriebenen.

Von Maria Fiedler
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Michael Kretschmer sorgte in den letzten Monaten für viele Schlagzeilen - scheut aber auch schwierige Gespräche nicht.
Michael Kretschmer sorgte in den letzten Monaten für viele Schlagzeilen - scheut aber auch schwierige Gespräche nicht. © Karl-Ludwig Oberthür

Der ältere Herr mit der Jeansjacke ist aufgebracht. „Die Grünen führen uns in den Krieg und zerstören unsere Wirtschaft!“, schimpft er. „Warum regieren Sie mit diesen Kriegstreibern weiter?“

Die Frage geht an Michael Kretschmer. Der sächsische Ministerpräsident ist Anfang Mai in die Stadthalle von Limbach-Oberfrohna gekommen. Draußen ist er eben von wütenden Demonstranten beschimpft worden, die mit „Kretschmer in den Knast“-Plakaten angerückt waren. Drinnen sitzen etwa 200 Bürger und wollen ihre Anliegen loswerden.

Der Mann mit der Jeansjacke findet, bei der letzten Landtagswahl hätten die Wähler in Sachsen eine Regierung aus CDU und AfD gewählt. „Sie haben ohne Not eine Regierung mit Grünen und SPD zusammengeschustert, um den Wählerwillen zu hintergehen! Der Wählerwille war CDU und AfD!“

Kretschmer hört sich das alles an und sagt dann ruhig: „Das kann ja gar nicht sein. Und zwar deswegen, weil ich vor der Wahl schon gesagt habe, dass eine Koalition mit der AfD nicht zustande kommt.“ Die Partei agiere so „unfassbar böse“, dass es ihm Angst mache.

Der sächsische Ministerpräsident hat in den vergangenen Monaten oft Schlagzeilen gemacht. Kretschmer hat für eine grundlegende Änderung des Asylrechts in Deutschland plädiert. Er hat gefordert, die kaputte Pipeline Nord Stream 1 zu reparieren, durch die lange russisches Gas floss. Er hat vorgeschlagen, den Ukraine-Konflikt durch Verhandlungen „einzufrieren“. Parteikollegen empfinden seine Äußerungen, speziell die zu Russland, oft als Zumutung. Politische Gegner werfen ihm mitunter vor, Positionen der AfD zu übernehmen und so deren Geschäft zu betreiben.

Selbst die, die ihn heftig kritisieren, wissen aber: Wenn einer verhindern kann, dass die AfD bei der Landtagswahl in Sachsen im nächsten Jahr stärkste Kraft wird, dann er. Anders als in Thüringen, wo die extrem Rechten mit weitem Abstand vorne liegen, zeichnet sich in Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. Mal liegt die AfD vorn, mal die CDU. Kretschmer ist ein Getriebener dieser Umfragewerte.

Seine Strategie ist die des exzessiven Zuhörens, seit Jahren schon. Er geht überall hin, lässt sich anschreien, beantwortet stundenlang Fragen. Redet, erklärt, macht sich Notizen. Manche witzeln, er habe bereits alle vier Millionen Sachsen persönlich getroffen.

Er hält dagegen, er belehrt nicht

Kretschmer, der auch Vizechef der CDU ist, hat sich zu einer Art Sprecher des Ostens gemacht. Er sagt, was viele hier denken – und läuft damit in den Abendnachrichten. Das kommt gut an, sogar bei manchem AfD-Sympathisanten. Nur: Verhindert man so einen Wahlsieg der AfD?

Wer die Methode Kretschmer verstehen will, muss sich einen seiner Bürgerdialoge anhören – wie in Limbach-Oberfrohna. An solchen Abenden werden die kleinen Themen verhandelt, aber auch die ganz großen: Blitzer an einer Schnellstraße, mangelnde Anerkennung von Handwerksberufen, die mögliche Ansiedlung einer Pulverfabrik von Rheinmetall in der Region, Angst vor einem Atomkrieg.

Kretschmer hört zu. Wenn sich Leute aufregen, entgegnet er ruhig: „Ich sage Ihnen jetzt meine Meinung.“ Er hält dagegen. Er belehrt nicht.

Knapp zwei Stunden sind vergangen, da meldet sich eine Frau mit blonder Hochsteckfrisur. Sie fragt nach Zahlen von „Ausländern“. Fragt: „Wie lange wollen wir das noch mitmachen, dass in unsere Sozialsysteme eingewandert wird und wir nichts dagegen tun?“ Die Frau betont, sie sei nicht rechtsradikal „oder sonstwas“. Es gibt Applaus.

Kretschmer holt aus. Es gebe eine Reihe von „Ausländern in diesem Land, die echt dazu beitragen, dass wir hier so gut leben können“. Weil Deutschland aber durch die vielen Geflüchteten aus der Ukraine gerade so gefordert sei, müsse man beim Thema Asyl jetzt „noch stringenter“ sein: Rückführungsabkommen durchsetzen, effektiven Grenzschutz ermöglichen.

Deutschland müsse auch in Zukunft ein Land sein, in dem Menschen Asyl beantragen können, sagt Kretschmer. „Aber wir müssen es stärker selber in der Hand haben, wem wir Asyl geben.“ Dass die Rückführung abgelehnter Asylbewerber nicht gut genug funktioniere, sei die Mehrheitsmeinung in der deutschen Bevölkerung.

Am Ende bekommt auch Kretschmer Applaus. Wenig später wird er bundesweit Schlagzeilen machen, weil er eine Änderung des Grundgesetzes ins Spiel bringt. Dort ist das Asylrecht für politisch Verfolgte festgeschrieben. Der Ministerpräsident verweist auf den Frust im Land.

Niederlage gegen AfD-Mann Chrupalla als Motivation

Kretschmers Bürgerdialoge sind eigentlich aus der Not geboren worden. 2017 verliert Kretschmer bei der Bundestagswahl sein Direktmandat an den heutigen AfD-Chef Tino Chrupalla. Der liegt bei den Erststimmen im Landkreis Görlitz einen Prozentpunkt vorn. Die Niederlage ist schmerzhaft für Kretschmer – 15 Jahre lang war das sein Wahlkreis. Hier ist er geboren, hier kennt er viele persönlich.

Der AfD-Politiker Tino Chrupalla hat 2017 im Landkreis Görlitz das Direktmandat von Michael Kretschmer gewonnen.
Der AfD-Politiker Tino Chrupalla hat 2017 im Landkreis Görlitz das Direktmandat von Michael Kretschmer gewonnen. © Archiv: Paul Glaser/glaserfotografie.de

Landesweit liegt die CDU damals bei den Zweitstimmen knapp hinter der AfD. Es ist ein Debakel. Kurz darauf wird Kretschmer nach dem überraschenden Rückzug des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich von ihm als Nachfolger vorgeschlagen.

Kretschmers neue Mission: Bürgernähe. „2017 war die Stimmung wirklich am Boden. Niemand wollte mehr etwas von der CDU, auch wegen der Flüchtlingspolitik“, sagt Michael Kretschmer. Er sitzt am Besprechungstisch in seinem Büro in der sächsischen Staatskanzlei. Durch die hohen Fenster flutet das Licht herein. Er habe damals neues Vertrauen schaffen wollen. Habe verstehen wollen, was die Leute umtreibt.

Kretschmer erfindet das „Sachsengespräch“, bei dem er mit seinen Ministern vor Ort im Land ist. Er stellt sich der Wut, dem Protest.

2019 stehen Landtagswahlen in Sachsen an. Es geht damals nicht nur darum, einen Wahlsieg der AfD zu verhindern. Für Kretschmer geht es auch um sein eigenes politisches Überleben. Er setzt auf maximale Bürgernähe. Gespräche vor dem Bäcker, Grillabende mit Bürgern, Veranstaltungen. „Es hat in der Bundesrepublik selten einen Politiker gegeben, der derart viel Kraft in den Versuch gesteckt hat, jeden Bürger einzeln zu erreichen“, schreibt damals „Die Zeit“. Ein neues Rezept gegen den Populismus?