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Was uns Karl May über Putin und andere Schurken sagt

Warum die Bücher von Karl May durch den Krieg in der Ukraine wieder aktuell sind: Ein Interview mit dem Dresdner Slavistik-Professor Holger Kuße.

Von Marcus Thielking
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Schussbereit: Gojko Mitic als Winnetou bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg 1994.
Schussbereit: Gojko Mitic als Winnetou bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg 1994. © dpa-Bilderarchiv

Um an die Friedensbotschaft des sächsischen Schriftstellers zu erinnern, hat der Karl-May-Verlag eine Spendenaktion gestartet: Der Netto-Umsatz beim Verkauf des Buchs "Karl Mays Friedenswege" kommt dem Aktionsbündnis "Nothilfe Ukraine" zugute. In dem Band wird Mays Pazifismus von verschiedenen Autoren beschrieben. Mitherausgeber ist Holger Kuße, Professor am Institut für Slavistik an der TU Dresden. Im Interview spricht er über Karl Mays Ideen zu Frieden und Völkerverständigung.

Herr Professor Kuße, bei Karl May denken die meisten an Winnetou und Old Shatterhand, Heldengeschichten, Schießgewehre, Indianerkämpfe. Wieso war er ein Pazifist?
Er war ein Abenteuerschriftsteller, aber Karl Mays Helden haben immer versucht, Konflikte möglichst gewaltlos zu lösen. Das sehen Sie schon in seinen Klassikern wie "Winnetou". Da gibt es immer wieder den diplomatischen Versuch, mit dem Feind zu reden. Die zweite Stufe ist Abschreckung, zum Beispiel Old Shatterhands berühmter Henrystutzen.

Mit den 25 Schuss!
Eine Drohkulisse, die aber in den Geschichten gar nicht so oft umgesetzt wird. Dann gibt es eine dritte Stufe, das ist die gewaltsame Auseinandersetzung. Aber auch hier wird die Gewalt erst mal reduziert. Da wird zum Beispiel der Befehl gegeben, nur auf die Pferde zu schießen oder auf die Beine. Erst wenn eine lebensgefährliche Bedrohung besteht, dann kann es auch vorkommen, dass im Kampf jemand getötet wird.

Der Sachse Karl May (1842 - 1912) war Abenteuerschriftsteller, aber auch überzeugter Pazifist.
Der Sachse Karl May (1842 - 1912) war Abenteuerschriftsteller, aber auch überzeugter Pazifist. © Karl-May-Museum

Also nicht nur "Gut gegen Böse"?
Es gibt natürlich diesen Gut-Böse-Fond. Aber auch das Böse ist bei Karl May sehr differenziert durch die Figuren. Es gibt Leute, die sind böse durch Irrtum, durch Verwirrung oder durch Drogeneinfluss. Dann gibt es Figuren, die sind durch und durch böse. Zum Beispiel Santer in "Winnetou". Da ist nichts Gutes mehr zu finden. Das finde ich wichtig, wenn man über Pazifismus redet: Man kann bei einem Trinker oder Choleriker versuchen, einen Zugang zu finden. Man kann mit jemandem, der einfach nur habgierig ist, das Gespräch suchen. Aber es gibt auch Figuren, zu denen ist ein Zugang einfach nicht möglich. Da geht am Ende nur noch eine gewaltsame Antwort, um sich und andere zu schützen.

Müssen Sie da auch an Putin denken?
Ich persönlich habe schon lange nicht mehr an einen Dialog mit Putin geglaubt. Nicht erst seit den langen Tischen und diesen ganzen Absurditäten zuletzt, sondern lange vorher. Meines Erachtens war schon seit 2012 ein ernsthaftes Gespräch mit ihm nicht mehr führbar. Nach der Annexion der Krim 2014 sowieso nicht.

Also Putin als Schurke?
Bei Putin kommt noch ein anderes Thema zum Tragen, das sich vor allem im Spätwerk Karl Mays findet: Ideologie. Das heißt, jemand ist ideologisch so durchsetzt, dass ein Gespräch zwecklos ist, weil er sich auf jeden Fall auf der Seite des Lichtes fühlt. Ich weiß nicht, ob Putin ein abgrundtief schlechter Mensch ist im Sinne eines Santer. Aber Putin hat eine Ideologie aufgebaut, die ganz geschlossen und monolithisch ist. Zugleich ist er aggressiv und zeigt einen Vernichtungswillen. Dem kann man eigentlich nur militärisch begegnen.

Kann man mit Putin noch ernsthaft reden?
Kann man mit Putin noch ernsthaft reden? © Pool Sputnik Kremlin/AP

Und darum geht es bei Karl May?
Das gilt vor allem für sein Spätwerk ab 1900, als er sich noch stärker dem Pazifismus zugewandt hat. Es gibt zum Beispiel einen großen Roman, der auf einem fremden Planeten namens Sitara spielt: "Ardistan und Dschinnistan." Darin kommen Figuren vor, die haben Ideologien. Sie haben bestimmte Vorstellungen, wie die Welt sein soll, und sie stehen in der Mitte, als Diktator. Das macht sie böse. Insofern ist das jetzt ganz besonders aktuell.

Also war sein Spätwerk visionär?
Ja, absolut. Das Schöne bei Karl May ist allerdings auch, dass er gleichzeitig optimistisch war. Er war zutiefst davon überzeugt, dass die Menschheit es schaffen kann, dass es nicht zum Äußersten, zur militärischen Gewalt kommt. Das hatte auch etwas Schwärmerisches.

In Deutschland wird über Waffenlieferungen an die Ukraine diskutiert. Auf welcher Seite wäre Karl May?
Karl May wäre sicherlich für eine ganz klare und uneingeschränkte Unterstützung der Ukraine. Sein Pazifismus blieb immer wehrhaft. Ganz anders als zum Beispiel sein Zeitgenosse Lew Tolstoi, den May sehr verehrt hat: Der war wirklich Radikalpazifist. Tolstoi hätte zu Waffenlieferungen gesagt: Das kommt überhaupt nicht infrage! Da wäre kein Schuss gefallen, die Ukraine wäre eingenommen worden, Selenskyi wäre geflohen oder erschossen worden. Diese radikale Position hat Karl May auch im Spätwerk nie eingenommen. In "Ardistan und Dschinnistan" zum Beispiel kommt es zwar nicht zu einem Krieg, aber man rüstet sich. Da wird eine kriegerische Haltung eingenommen: Mit denen können wir nicht reden, von denen kann man sich nur umbringen oder unterdrücken lassen oder sich verteidigen. Ich denke, diese Position hätte May im Ukraine-Konflikt auch eingenommen.

Holger Kuße ist Karl-May-Experte und Professor am Institut für Slavistik der TU Dresden.
Holger Kuße ist Karl-May-Experte und Professor am Institut für Slavistik der TU Dresden. © privat

In seinen Büchern geht es um Verständnis für fremde Kulturen. Gleichzeitig hatten sie oft etwas Deutschtümelndes.
Ja, der deutsche Ich-Erzähler ist oft der in jeder Hinsicht überlegene Held. Das hat auch etwas zu tun mit Mays Vision vom deutschen Kaiserreich als Alternative zum aggressiven französischen und englischen Kolonialismus. Er sah das Kaiserreich als eine anständige Monarchie, in der Wohlstand und Glück und Verständnis für alle Völker herrschten. Erst im Spätwerk nimmt diese heute teilweise befremdliche Deutschzentrierung des Helden ab.

Zugleich hat May oft auch negative Stereotype über andere Kulturen bedient.
Genau das macht es interessant: Er hatte diese Völkerstereotype, vieles davon ist aus heutiger Sicht rassistisch. Aber er erkennt das dann selber und versucht, es zu überwinden. Sehr schön lässt sich das am Chinabild erkennen. Es gab diesen frühen Roman "Der blaurote Methusalem", da wird China in großen Teilen verspottet als ein Land der Lächerlichkeiten und der Despotie. Im späten Roman "Und Friede auf Erden" dreht sich das total um. China und die chinesische Kultur – da entsteht das Friedensreich. Es ist also ein Prozess, und genau das finde ich wichtig für die heutigen Diskussionen.

Inwiefern?
Wenn es um Political Correctness geht, wird oft sehr streng gesagt, was sein soll und was nicht sein darf. Dabei wird nicht mehr Rücksicht genommen auf die Befindlichkeiten der Menschen. Negative Gedanken und Gefühle werden von vornherein nicht mehr zugelassen. So kann man sie aber auch nicht aus sich selbst heraus überwinden. Sage ich jetzt nur: "Das darf man nicht sagen!", weil ich es so gelernt habe? Oder steckt da noch was in mir drin? Karl May zeigt uns, dass Stereotype abgebaut werden können durch Lebensbegegnung.

Kann man der Jugend heute noch Bücher von Karl May zumuten?
Einige Klassiker wie zum Beispiel der erste "Winnetou"-Band sind auch heute noch für junge Leute lesenswert. Der Erläuterungsbedarf wird natürlich immer größer. Erklären Sie mal einer Zwölfjährigen, wenn da sehr lustvoll und umfangreich eine Büffeljagd beschrieben wird! Damals waren das Heldentaten – heute sind die Jugendlichen Tierschützer und Vegetarier: Wieso schlachtet der gute Held jetzt einen Büffel ab? Aber das macht es gerade interessant, wenn man es mit den Jugendlichen bespricht. So lernt man, dass sich Einstellungen ändern können und dass Gut und Böse nicht mechanisch zugewiesen werden.

Welches Werk aus Mays pazifistischem Spätwerk können Sie empfehlen?
"Friede auf Erden" finde ich mühsam zu lesen. Aber bei "Ardistan und Dschinnistan", da ist richtig Handlung, da ist Exotismus drin und Fantasy, da kommen die absurdesten Figuren vor. Es hat viel Humor, auch ein bisschen sympathischen Kitsch. Das ist wirklich spannend zu lesen und auch sehr bildreich, das gefällt mir immer so bei Karl May.