SZ + Sachsen
Merken

Der große Bärlauch-Klau in Sachsen

Sobald die ersten Bärlauch-Blätter sprießen, sind die Sammler in Sachsen nicht weit. Manch einer schleppt den wilden Knoblauch gleich säckeweise aus dem Wald. Warum nur?

Von Henry Berndt
 8 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Nicht jeder Bärlauchsammler hält sich im Wald und auf Privatgrundstücken an die Regeln.
Nicht jeder Bärlauchsammler hält sich im Wald und auf Privatgrundstücken an die Regeln. © Jürgen Lösel

Drei Schilder, eine Botschaft: „Privat-Stück, Betreten untersagt!“ Ein Absperrband entlang des Wanderweges, um mehrere Bäume gewickelt, unterstreicht die Warnung. Die Bärlauch-Zeit in Sachsens Wäldern ist auch die Zeit des großen Bärlauch-Klaus. Immer wieder machten zuletzt Fälle im Leipziger Raum Schlagzeilen, in denen gleich Hunderte Kilogramm der Pflanzen ausgebuddelt wurden.

Kein Wunder, dass Werner Rückert, der Besitzer der Wiese am Ufer der Triebisch nahe Wilsdruff, seine kostbaren Gewächse schützen will. Er ist viel netter, als es seine Schilder vermuten lassen. Geschickt manövriert der 82-Jährige sein Fahrrad durch den Wald. Unter ihm quietscht der matschige Boden. Sein Gartenhäuschen hat weinrote Fensterläden.

Früher war das mal ein Fachwerkhaus, in dem er seit den 50er-Jahren mit seinen Eltern lebte. Irgendwann hat er es zur Laube zurückgebaut. Heute ist Rückert im nahen Helbigsdorf zu Hause. Das ursprünglich gepachtete Grundstück im Wald hat er dennoch nie abgegeben, nach der Wende sogar gekauft. Der genaue Standort bleibt geheim. Aus gutem Grund.

Der wilde Knoblauch wächst ab März vor allem in feuchten Waldgebieten.
Der wilde Knoblauch wächst ab März vor allem in feuchten Waldgebieten. © Jürgen Lösel

„Das ist mein kleines Paradies“, sagt Rückert, bückt sich und pflückt eines der Blätter, die hier in diesen Wochen zu Tausenden wachsen. Das war nicht immer so. Erst ab den 70er-Jahren sei der Bärlauch hier aus unbekannten Gründen aufgetaucht und habe sich immer weiter ausgebreitet. Zum Glück auch auf seinem Grundstück. „Ich esse jeden Tag zehn bis zwölf Blätter, wenn ich runterkomme. Dann wird’s mir zu scharf.“ Während er Giersch und Brennnessel für völlig unterschätzt hält, sind die Vorzüge des Bärlauchs schon zu riechen. Eine sanfte Knoblauchnote liegt in der Luft.

Die alten Germanen schrieben dem Bärlauch wundersame Fähigkeiten zu. Da die Bären sich nach dem Winterschlaf ausgiebig daran labten, glaubten die Menschen, dass die Kräfte der Tiere erst auf das Kraut und dann auf sie übergehen könnten, wenn sie nur genug davon mampften.

Magie hin oder her – als Küchengewürz leistet Allium ursinum, der Bärlauch, bis heute unschätzbare Dienste, etwa als Pesto, in der Butter, im Kartoffelbrei oder einfach aufs Brot. Das Superfood enthält jede Menge Vitamin C und Mineralstoffe wie Magnesium, Eisen und Kalium. Die Saison ist allerdings kurz. Im März sprießen die ersten Blätter und im Mai ist der Zauber schon wieder vorbei. Im Laden kostet ein Bund gerade um die zwei Euro.

Warum also nicht selbst in den Wald gehen und Bärlauch sammeln? Vorausgesetzt, man kann ihn sicher vom recht ähnlichen, aber hochgiftigen Maiglöckchen unterscheiden, und man weiß, wo man ihn findet.

Was sagt das Waldgesetz?

Mike und Heike spazieren gerade mit ihrer Enkelin aus dem Wald. Sie haben ein Körbchen dabei, dessen Boden mit Bärlauchblättern bedeckt ist. An der Laube von Werner Rückert sind sie vorbeigekommen, aber brav auf dem Weg geblieben. „Man sollte schon den Kindern zeigen, dass man nicht alle Blätter abreißt und vor allem die Wurzel nicht beschädigt“, sagt Mike. „Am besten nur ein Blatt pro Pflanze, damit sie sich schnell erholen kann.“ Wer richtig gut ist, der hat ein Messer dabei und schneidet, statt zu reißen.

Man müsse auch nicht jedem verraten, wo die genauen Standorte sind, findet Mike. Schon jetzt sei der wilde Parkplatz am Beginn des Weges im Frühjahr oft komplett zugeparkt. Nur, weil das Wetter heute denkbar mies ist, hält sich der Andrang in Grenzen. Die meisten Besucher wüssten das Geschenk der Natur zu schätzen und hielten Maß, sagt Mike. „Man sollte aber besser niemanden anlocken, der es mit dem Sammeln übertreibt.“

Und was wäre übertrieben? Im sächsischen Waldgesetz gibt Paragraf 14 Auskunft über die „Aneignung von Waldfrüchten, Blumen und Kräutern“. Darin ist zu lesen, die Gewächse dürften „für den persönlichen“ Bedarf entnommen werden. Wem das noch zu unscharf ist, der kann sich am Stichwort „Handstrauß“ orientieren. Weiter heißt es in feinstem Amtsdeutsch: „Die Entnahme hat pfleglich zu erfolgen.“ Außerdem, so betont das Gesetz, habe der Naturschutz im Zweifel Vorrang, auch wenn Bärlauch weder bedroht noch besonders geschützt ist.

„Oft findet man die dichten Teppiche des Bärlauches in Wäldern, die als Auenwald oder Schlucht- und Hangmischwald geschützte Biotope darstellen, die gegen Störungen durch den Menschen empfindlich sind“, informiert die Untere Naturschutzbehörde aus dem Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge.

Professionell organisiert: 40 Säcke voller ausgegrabener Bärlauchpflanzen entdeckte das Leipziger Ordnungsamt im Wald. Gestapelt und unter Ästen versteckt.
Professionell organisiert: 40 Säcke voller ausgegrabener Bärlauchpflanzen entdeckte das Leipziger Ordnungsamt im Wald. Gestapelt und unter Ästen versteckt. © Stadt Leipzig

Persönlicher Bedarf, pfleglich, Naturschutz – nichts davon stimmt mit dem Bild überein, dass Mitarbeiter des Ordnungsamtes Ende Februar in Leipzig vorfanden: massenhaft ausgebuddelte Bärlauchpflanzen, in Plastiksäcke gestopft. Gesamtgewicht: etwa eine Tonne. Wer tut so etwas? Menschen, die besonders gern Bärlauchpesto essen? Oder stecken da möglicherweise andere Interessen dahinter?

Der große Bärlauch-Klau war durchaus professionell angelegt. Die 40 Säcke lagen gestapelt zur Abholung bereit, versteckt unter Laub und Ästen. Den unbekannten Tätern fehlte offenbar nur die Zeit. Letztlich war keine der Pflanzen mehr zu retten. Sie mussten entsorgt werden.

Wer mehr als einen Handstrauß sammeln will, braucht in Sachsen Genehmigungen des Waldeigentümers und der Naturschutzbehörde, sonst droht eine Geldbuße von bis zu 2.500 Euro, in schweren Fällen gar bis zu 10.000 Euro. Das Einsammeln oder sogar Ausgraben von Bärlauch in großen Mengen gilt laut Waldgesetz als Ordnungswidrigkeit. Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob es nur etwas zu viel oder viel zu viel ist.

„In Ausnahmefällen könnte beim Pflücken der Anfangsverdacht einer Straftat vorliegen, zum Beispiel Diebstahl“, teilt eine Polizeisprecherin aus Leipzig mit. Letztlich müsse das die Staatsanwaltschaft entscheiden. In der Leipziger Stadtverwaltung hätte man inzwischen nichts mehr dagegen, wenn gravierende Fälle künftig vor Gericht landen könnten.

Ein voller Korb ist im Normalfall schon zu viel. Es gilt die Handstrauß-Regel.
Ein voller Korb ist im Normalfall schon zu viel. Es gilt die Handstrauß-Regel. © Jürgen Lösel

Der Fund der 40 Säcke ist der traurige Höhepunkt nach einer ganzen Reihe von Bärlauch-Delikten im Leipziger Umland. 15 Fälle von Bärlauchdiebstahl registrierte die Leipziger Stadtverwaltung in den vergangenen fünf Jahren, neun weitere allein seit Jahresbeginn. Bereits Ende Januar erwischte die Polizei im Schlosspark von Rötha, südlich von Leipzig, neun russischstämmige Männer zwischen 17 und 38 Jahren, die rund 140 Kilogramm Bärlauch ausgegraben hatten.

Auch hier stand das Diebesgut bereits verpackt und teilweise versteckt zum Abtransport bereit. Die Ermittlungen laufen. Zumindest einige dieser Pflanzen konnten andernorts wieder eingepflanzt werden, heißt es. Uwe Herrmann vom Verein „Rötha – Gestern. Heute. Morgen.“ hofft derweil, dass sich der arg gerupfte Bärlauch-Bestand im Schlosspark schnell regenerieren wird.

Die Häufung der Fälle in der Region ist kein Zufall. Während es östlich von Dresden nur wenige reiche Bärlauchgründe gibt, ist die Gegend um Leipzig voll davon. In den Auwäldern mit ihren feuchten und nährstoffreichen Böden, die bis an die Innenstadt heranreichen, findet das Wildkraut optimale Bedingungen.

Dass die jüngst bekannt gewordenen besonders dreisten Diebstahlversuche nicht auf das Konto von unwissenden Hobbyköchen gehen, ist anzunehmen. René Sievert vom Naturschutzbund in Leipzig glaubt gar an eine Art organisierte Kriminalität. „Die Pflanzen werden rücksichtslos der Natur entrissen, um damit schnelles Geld zu machen“, sagt er. Wer hier wirklich am Werk ist und mit welchen Motiven, bleibt vorerst ein Mysterium.

Ausgebuddelte Pflanzen, die sichergestellt wurden, müssen meist entsorgt werden.
Ausgebuddelte Pflanzen, die sichergestellt wurden, müssen meist entsorgt werden. © Stadt Leipzig

Eingedämmt werden kann das Problem kurzfristig wohl kaum. Der Auwald um Leipzig ist riesig, die gerade einmal 20 Patrouillen des Ordnungsamtes in diesem Jahr wurden bislang nur bei konkreten Verdachtsfällen veranlasst – und im Amt für Umweltschutz kümmert sich ein einziger Mitarbeiter um alle registrierten Verstöße.

Im Vergleich zu diesen Zuständen ist die Bärlauch-Welt an der Triebisch noch in Ordnung, wenngleich längst nicht jeder Spaziergänger gern darüber erzählt, was er denn da in seinem Beutel hat.

Und was ist das? Hinter der Absperrung kniet eine Frau im Garten von Werner Rückert und befüllt seelenruhig ihren Korb. Auf ihre vermeintliche Untat angesprochen, gibt Marina Weber lächelnd zu Protokoll, dass sie Werners Cousine sei und das schon seine Richtigkeit habe. Das Zeug wachse hier doch wie Unkraut und jetzt sei genau die richtige Zeit, wenn die Blätter noch schön zart sind. „Kartoffeln mit Rosmarin und Bärlauch“, flüstert sie und schließt dabei genussvoll die Augen. „Hmmm, so lecker. Schon der Geruch macht satt.“ Über Ostern will die 63-Jährige mit ihrer Tochter zurückkehren, die aus Bayern zu Besuch kommt.

Marina Weber erntet nur dort, wo sie darf. Nicht alle sind so zurückhaltend.
Marina Weber erntet nur dort, wo sie darf. Nicht alle sind so zurückhaltend. © Jürgen Lösel

Die Anwohner an der Triebisch werden wachsam bleiben, nicht zuletzt nach den jüngsten Schlagzeilen aus Leipzig. „Es gab schon Fälle in unserem Landkreis, bei denen Heimatvereine Bärlauchsammler auf frischer Tat ertappt und die Polizei gerufen haben“, sagt Karin Kerber, Sprecherin im Landratsamt Sächsische Schweiz-Osterzgebirge.

Auch Andreas Rietzschel, Waldbesitzer aus Müglitztal, will sich seinen Bärlauch nicht vom Brot nehmen lassen. Mit Bauzäunen und rot-weißem Flatterband schirmt er sein „grünes Gold“ ab. „Dieses Jahr ist es noch vergleichsweise ruhig“, sagt er, „aber sobald es jetzt wärmer wird, gibt es kein Halten mehr.“ Auch dieses Jahr werde er wieder übereifrige Sammler ansprechen, kündigt Rietzschel an. „Die meisten reagieren bockig. Die wissen genau, was sie da machen.“

Marina Weber hat selbst schon verdächtige Personen mit großen blauen Mülltüten an der Triebisch beobachtet. „Vermutlich wollen die das auf dem Markt verkaufen“, glaubt sie. Wenn ihr Onkel Werner gerade auf seiner Terrasse sitzt, Sammler seine unübersehbaren Schilder übersehen und über die Absperrung steigen, dann fragt er sie schon mal: „Wo wohnt ihr denn? Dann kann ich auch in euren Garten kommen.“ Er meint es gar nicht so böse, wie es klingt.