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Federn, Blut, Nähmaschine: Die Semperoper-Schneiderin

Nicole Wagner näht Kostüme für die Semperoper, die oft zerrissen enden. Bald könnte auf der Bühne wieder Trubel herrschen. Wagner näht für eine Oper.

Von Franziska Klemenz
 11 Min.
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Nicole Wagner arbeitet seit 23 Jahren als Schneiderin für die Semperoper im Herzen von Dresden.
Nicole Wagner arbeitet seit 23 Jahren als Schneiderin für die Semperoper im Herzen von Dresden. © Ronald Bonß

Ein Meer aus Tüll und Federn hängt von einer Stange. Wie Blüten reihen sich die steifen Röcke aneinander. So groß wie eine Seerosenplantage, so zart wie ein Libellenflügel. Der halbe Schwanensee auf ein paar Metern, der Stoff, von dem die Ballerina träumt. Nicole Wagner hebt einen Kleiderbügel aus dem Pomp. Es raschelt, fast wie Flügelrauschen. „Der erste Schwanensee war noch in meiner Ausbildung“, sagt die Schneiderin, die für die Semperoper näht. „Damals hab ich gelernt, wie man Tutus herstellt.“ Die Details am Schwanensee, das Besticken: „Das sind die Sachen, die wirklich Spaß machen.“ Pailletten schimmern silbern auf den Federn, die sich wie Nester auf die Röcke legen. Schnörkel aus Garn ziehen goldene Bahnen über Mieder, die vor Corona schwarze Schwanendamen schmückten.

„Was beim Maßschneidern am Theater unheimlich reizt, ist die Vielfalt: Vom robusten Trikot bis zum spinnenwebfeinen Kleidchen.“ Nach einigen Wochen der Kurzarbeit arbeiten die Werkstätten nun wieder in Vollzeit. Wegen der Pandemie ist Dresdens berühmte Bühne seit November weitgehend verlassen, Publikum muss fernbleiben. Nun keimt langsam Hoffnung auf nahende Aufführungen. Die Frühstücke mit den Kollegen am Freitag fehlen noch, die Fragerunden, die Einführungen des Dramaturgen in ein neues Stück. Doch Proben laufen wieder. Über Ostern zog das Bühnenleben zaghaft in die Oper ein, mit einer Online-Vorstellung von Mozarts Zauberflöte. Bald soll Capriccio Premiere feiern, Schwanensee an seinen alten Platz zurückkehren.

Nicole Wagner näht Neues und passt Altes an. „Gerade wurden alle Schwanensee-Kostüme noch mal aufgearbeitet, wurde probiert und angepasst“, sagt die 41-Jährige. Mangels Training haben Ballerinen zugenommen, die Besetzung hat sich in Teilen geändert. Nicole Wagner streicht über die Schwanensee-Tutus der Ballerinen, mustert die Mieder mit verträumten Augen, lächelt. Fast ein bedächtiger Moment. Dann ist das Rattern der Maschinen, die Gespräche der Kolleginnen, der Alltag zurück.

Meterbreite Tische mit bauchigen Scheren, Fäden und Fetzen reihen sich aneinander, entlang der Fenster stampfen Nähmaschinen. Selbst der Blick in Mülleimer sieht schön aus in der Semperopernschmiede, erinnert Restmüll dort doch an Dornröschen, glänzt oder besteht aus feinem Netz. 50 Menschen arbeiten in der Kostümwerkstatt, gerade in Schichten, damit der langgezogene Raum nicht zu voll ist. In dem dunklen Betongebäude mit den schillernden Fenstern neben dem Zwingergarten wird geschneidert, anprobiert und gemalt, im unteren Stockwerk werden Schuhe gefertigt, nebenan sind unter anderem eine Tischlerei, eine Tapeziererei, eine Schlosserei-Rüstkammer und die Plastik untergebracht. Im obersten Stockwerk entstehen Kostüme für Ballett, Oper und Schauspiel. Durch die offenen Fenster bricht Mittagssonne in die Werkstatt, Vögel zwitschern von draußen herein.

Auf einer Puppe ist ein überdimensionierter Hintern festgepinnt, auf einer anderen ein flamingofarbener Satin-Slip, auf Stoffrollen sammeln sich pompöse Pailletten und neonfarbener Leopardenplüsch.

Besonders gerne näht die Schneidermeisterin Historienkostüme ...
Besonders gerne näht die Schneidermeisterin Historienkostüme ... © Ronald Bonß

An Nicole Wagners Platz hängt Brokatseide mit goldblauen Schnörkeln in Stücken von einer Puppe. „Viele denken, man kriegt als Schneiderin beim Theater einen Sack alter Vorhänge für die Kostüme“, sagt sie und lacht. „Dabei verwendet man sehr hochwertige Stoffe. Seiden, Samt und Tülle.“ Mit Samt sei es besonders schwer, weil er schwimmt, statt gerade Linien zu bilden.

Die Meisterinnen nehmen Maße, schneiden Stoffe zu, Nicole Wagner und die anderen Schneider nähen sie zusammen. Capriccio heißt die Oper von Richard Strauß, für die das Brokatseidenkleid entsteht. Kammersängerin Christa Mayer wird es tragen. Sieben Meter Stoff fließen hinein. Premiere sollte eigentlich im Mai gefeiert werden. Wann es dazu kommen wird, ist unklar.

Warum bestimmte Details an Kostümen wichtig sind, warum eine Inszenierung besonders modern oder auch historisch angelegt ist – Antworten darauf bleiben gerade im Ungefähren, wenn Nicole Wagner nicht die Mappe des Stücks studiert. Sie bereitet das Capriccio-Kostüm so weit vor, dass die Darstellerin es anprobieren kann. Wagner blättert in der Mappe, mustert eine Zeichnung des fertigen Kostüms und ein Foto der brünetten Sängerin.

Was gerade noch aus einzelnen Stofffetzen besteht, muss spätestens eine Woche später ein anprobierfähiges Kleid sein, das die Sängerin auf der Bühne über einen Hosenanzug zieht. Bei der Anprobe wird sich zeigen, ob die Haken halten oder versetzt werden müssen. „Es kann sein, dass sie bei bestimmten Bewegungen aufgehen.“ Ein Kostüm kann noch so gut gedacht und genäht sein: „Die Künstlerinnen müssen darin agieren können. Es braucht Bewegungsfreiheit für die große Geste.“

Nicole Wagner dreht ein Stoffstück auf die aprikosenfarbene Innenseite, klemmt einen glänzenden Bügel an ihre Nähmaschine, damit sie sich nicht sticht und vernäht den Miederstoff mit dem Brokat. Stählerne Federn ziehen sich durch schmale Stofftaschen. „Wir haben ein Gerüst aus Miederstoff, was den Halt gibt. Darauf können wir Formgebendes unterbringen, was man auf der Vorderseite nicht sieht.“ Historische Kostüme wie dieses und Balletttrikots sind Wagners Lieblingsstücke. „In einer privaten Schneiderei näht man auch mal Hochzeitskleider, aber es wird selten jemand kommen, der so ein tolles, aufwendiges Produkt verlangt.“ Die Maschine verstummt, Wagner fädelt ein Garn in eine Nadel, das dank seines Farbtons wie ein Chamäleon im Stoff versinkt.

Dass sie diesen Beruf ausüben möchte, weiß Nicole Wagner schon als Jugendliche. „Ich liebe Theaterbesuche, seit ich ein Kind bin“, sagt sie. An ihr erstes Stück in der Semperoper kann sie sich gut erinnern, es war das Ballett Le sacre du printemps. Kurz vor dem Abitur macht sie ein Schulpraktikum bei einer Dresdner Schneiderin, ist gleich „richtig fasziniert von dem Beruf“, es folgt ein Theaterpraktikum, schließlich die Lehre an der Semperoper, Beginn 1998. „Das war ein Glücksfall. Ich gehöre zu den wenigen, die nie woanders gearbeitet haben.“ Mit eigenen Händen herzustellen, was man tragen kann, sei besonders gewesen, ein Alleinstellungsmerkmal.

Ballettkleidschneiderin, ein Mädchentraum wie aus dem Bilderbuch. „Über die Jahre wird es zwar normaler, aber es ist immer noch aufregend.“

... und Trikots für das Ballett.
... und Trikots für das Ballett. © Ronald Bonß

Spannend sei immer wieder, was sich ein neuer, noch unbekannter Kostümbildner ausdenkt. Wenn der Spielplan einer Saison steht, legt der Intendant fest, welches Regieteam ein Stück übernimmt, wer die Kostüme entwirft. Etwa 30 Stücke aus dem Repertoire zeigt die Semperoper im Jahr, hinzu kommen die Neuproduktionen – etwa zehn Opern und Ballettstücke. Wenn die Grundfesten stehen, folgen Besprechungen über Materialien und die Besetzung. „Sobald feststeht, in welche Richtung die Kostüme gehen, kommt eine Mappe in die Werkstatt.“ Assistenten bestellen Stoffe, die erst auf den Meistertischen und dann unter der Nadel landen. Auf einer Stange hängen die Kostüme für die Anprobe und auf einer anderen die Teile, die nach der Anprobe weiter verarbeitet oder geändert werden müssen. „Am schönsten ist es, wenn man ein Kostüm vom Anfang bis zum Ende begleiten und fertigstellen kann, weil man darauf besonders stolz ist“, sagt Nicole Wagner.

Ihre Maschine rattert, die Stoffstücke gleiten aneinander. Es sei ein schönes Gefühl, Freundinnen oder ihren Kindern in der Oper zu sagen: „Schau mal, das hab ich gemacht.“ Oft trägt sie zu solchen Anlässen Kleider, die sie sich selbst genäht hat. Die Stofflappen auf der Maschine von Nicole Wagner erinnern allmählich an ein Mieder. Sie trägt es zu dem überdimensionierten Tisch mit der bauchigen Schere, schneidet die überlappenden Stücke ab.

Daneben liegt etwas, das an agbestürzte Hochzeitstauben erinnert. Es ist ein einzelnes Tutu einer Schwanensee-Tänzerin, dessen Drahtreif neben dem davon getrennten Mieder in die Luft ragt. „Es war wegen des Lockdowns lange kein Training möglich“, sagt Wagner. Manche Figur hat sich geändert. Bunte Stecknadelköpfe ragen aus dem champagnerfarbenen Stoff. Das Kostüm muss weiter werden. „Mit der Zeit werden Kostüme auch labberig oder es ändert sich die Besetzung. Wenn eine andere Tänzerin ein Kostüm bekommt, muss es länger, weiter, enger oder kürzer werden.“ Wenn beides angepasst ist, näht eine Schneiderin oder ein Schneider Tutu und Mieder aneinander. „Das wird richtig fest verbunden, damit es Ganzkörperhalt gibt, an Ort und Stelle bleibt. Gerade Tänzerinnen mögen es gerne, wenn ein Kostüm keine einzige Falte wirft.“

Wer zur Anprobe kommt, muss viel Zeit mitbringen. Sie soll nicht nur zeigen, wie ein Kostüm passt, sondern auch, wie es im Licht aussieht. „Man staunt oft, wie anders es wirkt, wenn man den Stoff nicht mehr in der eigenen Hand hält, sondern unter Bühnenlicht sieht. Diese Fernwirkung zu erreichen und doch auch viel im Detail zu arbeiten, mit Perlen, Pailletten und Applikationen, ist sehr spannend für uns. Einige Leute sitzen eben auch mit dem Opernglas in der Aufführung.“

Manche Kleider disqualifizieren sich erst in der Masse. Wie eine Banane, die zwar gelb, vielleicht sogar besonders akkurat gebogen und als Individuum sehr schön anzusehen ist, zu einer Gruppe von Zitronen aber einfach doch nicht richtig passt. „Manchmal ist ein Kleid ganz toll geworden und am Ende durch sein Material doch nicht als Kostüm geeignet, weil eine Chorsängerin zu sehr hervorsticht oder weil eine Solistin damit nicht ins Gesamtbild passt.“ Manchmal stellt sich heraus, dass ein Material es nicht unbeschadet übersteht, dass seine Sängerin sich auf der Bühne wälzen muss. Manchmal muss ein Kleid ertragen, dass sein Träger durch den Dolch oder die Kugel stirbt, ein Kunstblutschauer sich über die Brust ergießt. Wenn das Blut nicht aus dem Material verschwindet, ist es untauglich für dieses Stück. „Das ist der künstlerische Prozess, der nicht immer mit dem handwerklichen Ablauf übereinstimmt. Aber man sieht es ein, wenn man das Endergebnis sieht“, sagt Wagner.

Genauso viel Arbeit für ein zerstörtes Kostüm

Fehler passieren immer wieder. Eine Naht verläuft falsch, eine Schneiderin erwischt den Stoff von der rechten Seite, obwohl der Kostümbildner es in dem Fall andersherum wollte, jemand schneidet zu weit in den Stoff hinein, ein Bügeleisen ist zu heiß und schmilzt den Stoff. „Wer viel arbeitet, macht auch Fehler“, sagt Wagner. „Aber in der Regel ist das alles irgendwie korrigierbar.“

Einige Kostüme verlassen die Werkstatt auch erst, wenn sie zerstört sind. Abgekämpft, der Stoff zerrissen, die Farbe getrübt. So mitgenommen, dass man sie erlösen will. Dabei war es immer Absicht, wenn Roben dermaßen am Ende sind. Oft steckt die Kostümmalerei der Oper dahinter. Wenn Sängerinnen durch Schlamm stapfen, den Krieg erleben oder sterben, muss ein Kostüm das häufig widerspiegeln. „Mit Farben und Materialien wie Latex oder Gummi kann man viele Illusionen erzeugen“, sagt Wagner. Sie erinnert sich an „ein tolles Kostüm“, bei dem „ganz viel Wert gelegt wurde auf die Linienführung.“ Hinterher habe es geheißen: „Das brauchen wir noch mal in zerstörter Form.“ In das Zerstörungskleid fließe genauso viel Arbeit und Mühe wie in das makellose. „Wir sind dann aber immer ganz froh, dass wir es nicht selber zerreißen müssen, es wandert runter in die Kostümbearbeitung, die geht mit der Drahtbürste, mit dem Messer darüber, bespritzt es mit Farbe, damit es aussieht wie malträtiert und durch den Dreck gezogen.“ Aber, sagt Wagner und lächelt wieder: Am Ende zähle das Ergebnis, das zur Inszenierung passen müsse.

Wann sie die Endergebnisse wieder vor Publikum zeigen werden, wissen Schneiderinnen, Sängerinnen, weiß die Opernleitung nicht. Opern-Sprecher Oliver Bernau sagt, man habe auf „zwei Präsenzinseln“ ab Ostern gehofft, habe spätestens ab 30. April mit Schwanensee wieder vor Publikum spielen wollen. „Aber die Entscheidung ist noch offen angesichts der Pandemie-Situation.“ Vorbereitet wird die Oper jedenfalls sein. Nach ein paar Stunden ist aus den Seidenbrokatstücken ein fast anziehbereites Oberteil geworden.

Am Tag der Anprobe hängen Rüschen aus den Ärmeln, ein Rockteil ist am Oberteil befestigt. „Künstlerin und Kostümbildnerin waren sehr zufrieden“, sagt Nicole Wagner. Nur enger muss das Kleid noch werden. Wenn Stücke ihr besonders gut gefallen, besucht die Schneiderin nicht nur die für sie kostenlose Generalprobe, sondern kommt zu weiteren Vorstellungen, mit Freunden und Familie. Capriccio könnte ein Kandidat sein. Einer der Allzeitlieblinge von Nicole Wagner wie vom Publikum ist Schwanensee. Der sterbende Schwan, er wird Corona überleben.