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Sommelier Silvio Nitzsche gibt Sachsens beliebteste Weinbar ab

Er zählt zu den besten Weinkennern. Nun hört er nach 16 Jahren Weinkulturbar Dresden überraschend auf. Warum und welche Pläne er hat, verrät Silvio Nitzsche im Gespräch.

Von Katrin Saft
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Chefwechsel in der Weinkulturbar: Silvio Nitzsche (re.) übergibt zum Jahresende an Patrick Nitsche.
Chefwechsel in der Weinkulturbar: Silvio Nitzsche (re.) übergibt zum Jahresende an Patrick Nitsche. © Jürgen Lösel

Sie sieht unscheinbar aus, wie eine kleine Eckkneipe. Doch mit 3.500 verschiedenen Weinen ist die Weinkulturbar in Dresden Sachsens Adresse Nummer 1 für Weinliebhaber. Gäste warteten manchmal mehr als zwei Jahre, um hier einen Abend zu verbringen. Die Reservierungen für die nur 25 Plätze wurden sogar auf Ebay versteigert.

Das liegt vor allem am Chef. Silvio Nitzsche gehört nicht nur zu den besten Sommeliers Deutschlands. Kaum jemand versteht es so wie er, mit ehrlicher Begeisterung in bildhaft-blumigen Worten Weine zu beschreiben und dabei Laien wie Kenner anzustecken. „Nitzsche vermittelt den Spaß am Wein kenntnisreich und persönlich, niemals von oben herab“, urteilte das Magazin Falstaff 2021 bei seiner Auszeichnung zum Sommelier des Jahres. Nach nunmehr 16 Jahren will er zum Jahresende aufhören.

Herr Nitzsche, die Gastronomie klagt über schwindende Gäste, doch die Weinkulturbar ist immer rappelvoll. Wieso aufhören, wenn es super läuft?

Nun, mir macht die Weinkulturbar nach wie vor viel Freude. Aber so ein kleiner Laden fordert einen auch ganz schön. Mein Arbeitstag hat oft 16, 17 Stunden. Ich stehe 7 Uhr auf, erledige den Bürokram und bin bis mindestens 23 Uhr in der Bar. Mit nunmehr 49 Jahren will ich nicht warten, bis mir mein Körper Grenzen aufzeigt. Insofern möchte ich die Weinkulturbar an einen jungen, talentierten Mann übergeben.

Wer wird denn Ihr Nachfolger?

Er heißt witzigerweise auch Nitsche, nur ohne „z“. Patrick Nitsche stammt aus dem Markgräflerland. Er hat 2021 schon in der Weinkulturbar gearbeitet und sich parallel zum Sommelier und Sommelier Meister weitergebildet. Er war dann ein Jahr lang unterwegs, um die Weinwelt in Neuseeland und Australien kennenzulernen. Mit jetzt 28 Jahren ist er fast genauso alt wie ich damals, als ich angefangen habe.

Die Weinkulturbar ist auch deshalb so erfolgreich, weil jeder Gast Chefbehandlung genießt. Sind die Fußstapfen nicht etwas groß, die Sie dem neuen Herrn Nitsche hinterlassen?

Patrick hat bei mir alles gelernt, was wichtig ist. Er besitzt die nötige Eloquenz und Kühnheit, das zu schaffen. Wir schließen am 23. Dezember und werden den ganzen Januar für eine detaillierte Übergabe nutzen. Ab Februar sind er und unsere drei Mitarbeiter dann wieder für die Gäste da.

Zeit für ein Resümee. Was war die häufigste Frage, die Ihnen Gäste gestellt haben?

„Schauen Sie mich an: Was trinke ich gern?“

Und Sie können so eine Frage immer treffsicher beantworten?

Natürlich habe ich keine übersinnlichen Fähigkeiten. Und Geschmack lässt sich nicht am Aussehen festmachen. Ich versuche ganz einfach, mit dem Gast locker, aber gezielt ins Gespräch zu kommen, dabei die Gedanken spielen zu lassen und zu sehen, welche Informationen er über sich preisgibt. In der Regel liege ich dann mit einer Empfehlung richtig. Einer der schönsten Indikatoren für das Vertrauen der Gäste ist für mich, dass bei uns kaum jemand eine ganze Flasche Wein bestellt, obwohl wir die Flaschenpreise sehr niedrig kalkulieren. Die meisten probieren verschiedene Weine in 0,1- oder 0,2-Proben, sind neugierig und lassen sich inspirieren.

Unter Ihren Gästen sind aber auch viele Weinkenner und Menschen mit hohen Ansprüchen. Ist es nicht eine Herausforderung, auch sie zufriedenzustellen?

Nein, denn die wissen meist ganz genau, was sie wollen. Und in meiner Zeit in der Sterne-Gastronomie habe ich gelernt, mit solchen Menschen umzugehen. Viel schwieriger ist es, jemanden die Faszination von Weinen nahezubringen, der für gewöhnlich Rotkäppchen halbtrocken trinkt. Solche Menschen werden von Weinkennern nicht selten belächelt oder von oben herab behandelt. Ich dagegen sehe es als Aufgabe an, auch ihnen schöne Momente zu verschaffen – egal, welches Vorwissen oder welchen Geldbeutel sie haben.

Was war denn der teuerste Wein, der je bei Ihnen getrunken wurde?

Das ist auch so eine häufige Frage nach dem teuersten oder dem ältesten Wein. Unser teuerster Wein ist ein ganz seltener Rosé aus Kalifornien. Der hat mal um die 150 Dollar gekostet und liegt jetzt bei etwa 17.000 Euro. Die älteste Flasche ist ein Likörwein von 1952 aus dem Südfranzösischen. Wir haben auch viele gereifte Weißweine auf der Karte, die gern zu unseren französischen Rohmilchkäsen getrunken werden. Mir war aber immer wichtig, dass wir kein Snobby-Laden werden, sondern neben dem Rolls-Royce auch den Trabi unter den Weinen im Angebot haben.

Sie haben in Ihrer Weinkulturbar-Zeit viele Auszeichnungen bekommen. Welche ist Ihnen die liebste?

Ich möchte keine hervorheben. Die größte persönliche Freude ist für mich die Beständigkeit, mit der wir als kleine Eckkneipe in all den Jahren in einer Reihe mit Top-Restaurants aus dem Sternebereich genannt werden. Und die schönste Bestätigung sind für mich natürlich glückliche Gäste, denen ich einen kleinen Urlaub der Sinne verschaffen konnte.

Was war denn das schönste Kompliment eines Gastes?

Da gab es viele berührende Momente. Gäste, die weggezogen sind, nach Jahren wiederkommen und sagen: So etwas wie die Weinkulturbar haben wir nirgends gefunden. Oder wenn Gäste, die schon bezahlt haben, sich in der Tür noch mal umdrehen und von Herzen sagen: „Danke für den schönen Abend.“ Ich höre manchmal von anderen Lokalitäten, dass sich Gäste laut streiten oder mit wenig Respekt auftreten. Bei uns gab es nie einen Gast, bei dem wir uns insgeheim gewünscht hätten, dass er nicht wiederkommt.

Haben Sie angesichts der Nachfrage nie daran gedacht, zu erweitern oder weitere Kulturbars zu eröffnen?

Ich hatte das mit meiner damaligen Frau versucht, bin aber schnell zu der Erkenntnis gekommen, dass man nicht mehr hat, wenn man mehr hat. Vielleicht mehr Geld, aber nicht mehr Zeit und nicht mehr Glück durch mehr Dinge, die man dann kauft. Wichtiger als Kommerz ist mir der Fokus auf den Wein, der so tiefsinnig und entwicklungsfähig sein kann. Und natürlich sind es meine Gäste, die mir ihr Glücksgefühl zurückschenken.

Haben Sie denn Ihre vielen Tausend Weine alle selbst probiert?

Ja, bevor ich sie einkaufe, probiere ich sie und kann sie dann auch beschreiben.

Sie beschreiben Gästen einen frisch-fruchtigen Sauvignon blanc schonmal als halben Thailand-Urlaub im Glas. Woher nehmen Sie all die Bilder?

Das ist mir irgendwie naturgegeben. Mir war immer wichtig, dass sich auch meine Mitarbeiter nicht langweilen. Ich habe selbst schon erlebt, dass ein Sommelier im Restaurant am nächsten Tisch genau das Gleiche erzählt hat. Dabei gibt es so viele schöne Worte für Weine.

Geht Ihr Weinwissen jetzt der Menschheit verloren?

Nein, im Gegenteil. Ich möchte das Weinwissen dieser Welt in einer Art News-Tank sammeln. Es gibt derzeit keinen Ort, wo man es global gesehen abrufen kann: Was wird gerade in Korea getrunken? Mit welchen Schädlingen kämpfen Winzer in Australien? Wo werden zurzeit welche Weine versteigert? Welche Weine wurden zuletzt gefälscht? Einzeln lässt sich das sicher alles googeln, aber niemand kümmert sich darum, die Antworten zentral verfügbar zu machen. Das halte ich für die Branche, aber auch für interessierte Weintrinker für wichtig. Denn auch die weinschreibende Zunft wird weniger. Meine Idee ist, das aktuell in einem täglichen Fünf-Minuten-Podcast aufzubereiten. Doch vorab sind noch viele rechtliche Fragen zu klären, zum Datenschutz, zum Urheberrecht. Insofern wird das sicher vor Mitte 2024 nichts.

Und bis dahin machen Sie erst mal richtig Urlaub?

Vielleicht kurz. Ich habe schon lange vor, einen Sommelier-Podcast zu starten in Form von zwei- bis dreistündigen Interviews. Restaurants sparen sich inzwischen gern den Sommelier. Aber es gibt bundesweit 50 bis 100 Top-Leute, die mit Leidenschaft dabei sind und viel zu erzählen haben. Das Handwerkszeug habe ich beim Podcast Wein & Weltfrieden gelernt. Insofern hoffe ich, dass es im März losgeht.

Viele Weinliebhaber hätten Sie sicher gern weiter live erlebt.

Ich bedauere es wirklich sehr, keinen unserer Stammgäste vorher informiert zu haben. Aber wir hatten Angst, in den letzten Tagen überrannt zu werden. Noch bis 9. Dezember ist der Gastronomiebetrieb geöffnet, bis 23.12. der Weinverkauf. Alle Gutscheine behalten natürlich ihre Gültigkeit. Ich wünsche mir, dass unsere Gäste den Chefwechsel als Chance sehen, das Vertraute auf neue Weise zu erleben.

Silvio Nitzsche bleibt sächsische.de mit seiner Kolumne und ab Januar mit einer neuen Serie über die deutschen Weingebiete treu.