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Zwei Frauen aus Meißen über dem Rest der Welt

Die Schwestern Margarete und Elisabeth Große waren als Ballonfahrerinnen und Alpinistinnen weltbekannt und hochgeschätzt. Sogar der König staunte.

Von Jochen Mayer
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Der sächsische König Friedrich August III. (l.) besuchte Margarete und Elisabeth Große 1910 vor dem Start an ihrem Ballon.
Der sächsische König Friedrich August III. (l.) besuchte Margarete und Elisabeth Große 1910 vor dem Start an ihrem Ballon. © Sammlung Joachim Schindler

Meißen. Geblieben ist in Meißen nicht viel von ihnen außer der Name für einen kurzen Weg. Dabei waren die Schwestern berühmt, ihrer Zeit als Alpinistinnen und Ballonfahrerinnen weit voraus. Sie hinterließen rund 5.500 Seiten Tagebuchaufzeichnungen und ein Buch. Selbst das ist nun eine Rarität, in keiner öffentlichen deutschen Bibliothek zu finden. Ein Dresdner wehrt sich jedoch dagegen, dass die Erinnerungen an Margarete und Elisabeth Große endgültig verblassen.

Der Historiker Joachim Schindler forscht seit zwei Jahrzehnten dem Leben der beiden besonderen Frauen nach. „Weil sie es verdient haben, nicht vergessen zu werden“, sagt der 73-Jährige. Die Meißner Schwestern weckten seine Aufmerksamkeit beim Schreiben eines Chronik-Manuskriptes. Ihr ungewöhnlicher Lebensweg ließ ihn seitdem nicht wieder los.

Margarete und Elisabeth Große waren 1899 erstmals in den Alpen. „Sofort fühlten sie sich infiziert von der Begeisterung für die faszinierende Bergwelt“, sagt Joachim Schindler, was er in den akribisch geführten 19 Tagebüchern las, in denen alle Stationen, Besteigungen oder Quartiere festgehalten wurden. „Nach der ersten Alpenfahrt kamen sie jedes Jahr zurück und sparten eisern für die nächsten alpinen Gipfelgänge.“ Rund um Meißen hatten sie sich an der Bosel und in Steinbrüchen ihren nahen Klettergarten organisiert, wie sie es nannten. Dort und in der Sächsischen Schweiz eigneten sie sich das Kletter-Rüstzeug an – in Reifröcken und Hosen darunter.

Die Lizenz zum Ballonfahren

Zudem wagten sich die Schwestern noch in ganz andere Höhen. 1906 starteten sie ihre erste Luftfahrt. Beide gehörten vor dem Ersten Weltkrieg zu den nur zwölf Frauen in Deutschland, die eine Lizenz zum Ballonfahren besaßen. „Es waren abenteuerliche Unternehmungen, mit Gasballons ins Ungewisse aufzubrechen“, sagt Schindler voller Respekt, und er erklärt: „Sie wussten ja nie, wo und wie sie landen werden. Da gab es tödliche Unfälle, weil Ballons in der Adria niedergingen oder explodierten. Und beim Landen kam es mitunter zu schweren Schäden an Dächern und Gebäuden. Deshalb wurden Ballonfahrer auch geschlagen oder gar ermordet.“

Allein die Gondeln wogen bis zu 200 Kilogramm. Neben Proviant mussten reichlich Sandsäcke geladen werden. Nur mit deren Abwurf ließ sich der Auftrieb regeln sowie mit Gas-Ablassen der Sinkflug einleiten. Die Große-Schwestern stiegen bis in 6.000 Meter Höhe, wo ihnen wegen des Saustoffmangels Ohnmacht und die Höhenkrankheit drohten. Zweimal hoben sie in Innsbruck ab, schwebten über den Alpengipfeln und stellten darüber hinaus auch Distanz-Weltrekorde auf.

Bei einem Ballon-Wettfahren starteten sie Ostern 1910 an der Gasanstalt Dresden-Reick. Zur Verabschiedung war die Königsfamilie mit dem Hofstaat gekommen. „Er sprach sie verwundert an: ,Sie fahren heute auch?‘ So steht es im Tagebuch von Margarete Große“, erzählt Schindler. „Das kam einer Adelung gleich, dass er auf den Ballon der zwei ledigen Frauen zugegangen war und nicht zu seinen Militärs.“ Den Frauen-Ballon trieb es anschließend in gut 22,5 Stunden über 871 Kilometer bis in die Südkarpaten. Das wurde als eine Welthöchstmarke für Frauen registriert und brachte ihnen Einträge in Sportlexika ein.

Es waren teure Projekte. „Eine Füllung mit Leuchtgas kostete bis zu 2.000 Reichsmark“, erklärt Schindler. „Deshalb suchten sie nach kostengünstigeren Alternativen. Sie mussten auch den Ballon mieten, brauchten Helfer, die Logistik kostete, und nur eine der Schwestern hatte Arbeit.“

Beide waren in der Meißner Familie des Kaufmanns Große wohlbehütet aufgewachsen. Die 1876 geborene Margarete hatte höhere Mädchenschulen absolviert und war Lehrerin geworden. Diesen Beruf durfte sie damals nur als unverheiratete Frau ausüben. Die drei Jahre jüngere Elisabeth übernahm die Hausarbeit, später die Pflege der Eltern.

Der Erste Weltkrieg beendete die Ballon-Abenteuer. Die Riesen der Lüfte waren auch als Kriegsgerät genutzt worden und mussten in Deutschland abgerüstet werden. Die Berge blieben die große Leidenschaft der Große-Schwestern. Schindler zeigt die Titelseite einer französischen Zeitschrift. In einem Alpen-Panorama wurden die Porträts der weltbesten Alpinistinnen jener Zeit verewigt. Die Meißner Schwestern sind als die Nummer neun und zehn dabei. „Das ist eine bemerkenswerte Anerkennung“, sagt der Historiker. „Bei ihren 40 Alpenfahrten bestiegen sie die bedeutendsten Gipfel wie die vier großen M: Montblanc, Matterhorn, Meije, Monte Rosa. Aber sie standen auch auf Großglockner, Großvenediger, Dachstein, Watzmann und der Zugspitze.“

So haben die Große-Schwestern ihre Heimatstadt Meißen 1908 vom Ballon aus gesehen.
So haben die Große-Schwestern ihre Heimatstadt Meißen 1908 vom Ballon aus gesehen. © Sammlung Joachim Schindler

Ihr Ziel war es, alle 82 Viertausender der Alpen zu meistern. Trotz cleverer Logistik und straffem Programm blieb das Vorhaben unvollendet – sie schafften gut die Hälfte. Ihnen standen jedes Jahr schließlich nur die Schulferien als begrenztes Zeitfenster zum Klettern zur Verfügung. „Das Reisen kostete zudem viel Zeit. Sie waren damals per Zug und Kutsche unterwegs. Seilbahnen gab es noch nicht. Das Wetter spielte auch nicht immer mit. Deshalb ist es erstaunlich und bemerkenswert, wie viele hohe Gipfel sie jedes Jahr meisterten“, sagt Schindler. „Ihre Leistungen wurden in der Szene hoch anerkannt. Deshalb waren sie auch als Frauen in den elitären Österreichischen Alpenklub aufgenommen worden. Das gelang nur den Besten.“

Die Meißner Schwestern genossen nicht nur die Bergwelt. Von 1926 bis 1941 verbrachten sie jede Silvesternacht auf einem der Meißner Dom-Türme, was womöglich auch für die Weitsicht der Frauen steht. Sie hatten sich durch ihre Ballonfahrten in topografische Debatten eingebracht und beim Klettern für eine einheitliche Bewertung der Schwierigkeit ausgesprochen. Sie mischten sich in der dominanten Männerwelt ein, waren in wissenschaftlichen und Kletter-Vereinen als überhaupt erste Frauen aufgenommen worden. Bei öffentlichen Vorträgen gingen sie gern als Erste ans Rednerpult.

„Die beiden waren dem damaligen Denken voraus“, erzählt Schindler und erklärt, warum: „Weil sie sich auskannten, eigene Erfahrungen gesammelt hatten. Es waren kundige Frauen, denen man es nicht zutraute. So fragten sie sich: Sollen wir eigene Frauen-Alpen-Vereine gründen oder gleichberechtigt Mitglied werden? Sie polemisierten und wussten, wie Bergfreundschaften gepriesen, aber auch, wie diese gelebt wurden. Und was passierte, wenn man die Verhältnisse zu sehr kritisierte. Dann konnte es schnell vorbei sein mit edler Bergsteiger-Moral. Sie erfuhren durch eigenes Erleben, was Gleichberechtigung bedeutet, warum Tugenden wie Toleranz, Rücksicht, Anstand dafür so wichtig sind.“ Sie gingen auf Distanz zu allem Rassistischen, Antisemitischen, Militaristischen.

Aus der Nazi-Zeit nach 1933 fand Schindler keine Veröffentlichungen mehr von den Großes. Sie galten als Unpersonen. Nach dem Kriegsende wurde Margarete Große als Lehrerin reaktiviert, um beim Neuanfang in Meißen zu helfen – als 70-Jährige. Schindler fand durch eine Suchanzeige in der Sächsischen Zeitung Schülerinnen aus dieser Zeit, die voller Respekt über ihre einstige Lehrerin sprachen, die sich auch äußerlich durch ihre Wanderschuhe und altmodische, schlichte Bekleidung von anderen unterschied. Sie sei etwas Besonderes gewesen, erfuhr der Historiker, stolz und aufrecht, habe mit ihren Klassen ausgedehnte Wanderungen unternommen.

„Die Schwestern hatten enorme Umbrüche erlebt“, sagt Schindler. „Sie kamen aus der Kaiserzeit, durchlitten zwei Weltkriege, hatten viele Demütigungen gespürt und sich immer für Menschlichkeit eingesetzt, für Verständigung. Als das noch möglich war, brachte Margarete Große Alpinistinnen aus England und Frankreich mit in den Unterricht.“ In ihrem Vermächtnisbuch, das 1951 in Wien wenige Monate nach ihrem Tod veröffentlicht worden war, beschwört sie für Deutschland und alle Völker Friede, Freiheit, Freundschaft.

Letzte Ruhe in der Gletscherspalte

Im Januar 1952 erschien in Wien ein Nachruf auf Margarete Große. Fünf Jahre zuvor war Elisabeth gestorben. Der testamentarische Wille war, am Montblanc beerdigt zu werden. Mitte der 1950er-Jahre erfüllte eine Gruppe des Österreichischen Alpenklubs diesen letzten Wunsch. Die beiden Urnen wurden in eine Gletscherspalte gegeben. „Es war ein letzter Dienst an der Wissenschaft“, sagt Schindler. „Die Urnen wandern mit dem Gletscher nach unten, was Erkenntnisse bringen könnte. Es ist eine ungewöhnliche letzte Ruhestätte. Ihre Träume waren seit dem ersten Alpenbesuch immer um den Montblanc gewandert. Sie hatten ihn bestiegen, umflogen und gewürdigt, ihren Mitmenschen darüber humanistische Botschaften vermittelt.“

Das Vermächtnis der Große-Schwestern ist eng mit ihrer Heimatstadt Meißen verbunden. Allerdings war Schindler irritiert, als 2002 seine Bitte um Einsicht in das Testament verweigert wurde. Daran änderte auch ein Hilfe-Ersuchen an den Bürgermeister nichts. Der verwies auf Datenschutz sowie Grundsatzurteile und empfahl, sich mit den Nachkommen der Geschwister Große in Verbindung zu setzen. Die unverheirateten Schwestern waren jedoch kinderlos. „Ich bin immer noch enttäuscht über das fehlende Verständnis und das mangelnde Interesse der Stadt“, sagt der Historiker. Hilfe habe er in Meißen nur vom Stadtarchiv erhalten.

Schindler ist der Einzige, der dem bewegten Leben der Große-Schwestern so intensiv nachforscht, der so viele Dokumente und Belege über sie besitzt und auswertete. Das fließt nun ein in seinen Text über die beiden besonderen Frauen, der im kommenden Jahrbuch des Alpenvereins erscheint. Sechs Seiten waren ursprünglich geplant. Gedruckt werden nun zehn Seiten. „Sie haben es wirklich verdient, nicht vergessen zu werden“, sagt Schindler und stellt fest: „Es leben wunderbare Menschen in unserer Geschichte.“