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Wenn die Angst mitspielt: Warum ein 20-jähriges Top-Talent beim DSC aufhört

Julia Wesser ist das Top-Talent im deutschen Volleyball. Trotzdem hat die 20-Jährige vom Dresdner SC ihre Karriere beendet. Jetzt spricht sie das erste Mal öffentlich über die Gründe ihres unerwarteten Ausstiegs.

Von Michaela Widder & Alexander Hiller
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Volleyball-Aussteigerin Julia Wesser reflektiert ihre Zeit als Leistungssportlerin und erzählt, warum sie sich am Ende nicht mehr wohlgefühlt hat.
Volleyball-Aussteigerin Julia Wesser reflektiert ihre Zeit als Leistungssportlerin und erzählt, warum sie sich am Ende nicht mehr wohlgefühlt hat. © kairospress

Dresden. Es ist April und die Saison gerade vorbei. Das letzte gemeinsame Essen mit der Mannschaft in einem Dresdner Restaurant steht an. Natürlich ist auch Julia Wesser anwesend, das allerdings lediglich körperlich. Ihre Gedanken sind längst woanders, weit weg vom Dresdner SC, weit weg vom Volleyball, überhaupt vom Leistungssport. Wesser hat genug, sie will nicht mehr.

Vor knapp drei Wochen überraschte ihr Verein mit der Nachricht, dass die 20 Jahre alte Dresdnerin mit sofortiger Wirkung die Profikarriere beendet hat. Nach Emma Cyris, die 2021 im Alter von 20 Jahren beim Dresdner SC und aus dem Leistungssport ausstieg, ist das der zweite plötzliche Abschied einer jungen, hochtalentierten Spielerin. Ein Abschied, der Fragen aufwirft.

Wesser antwortet darauf in einem exklusiven Gespräch mit der Sächsischen Zeitung – zufällig im gleichen Restaurant, in dem mit der Mannschaft das letzte Essen stattfand. Sie legt ihre Lederjacke ab, bestellt eine Rhabarberschorle. "Gerade geht es mir gut", sagt Wesser und deutet damit an, dass es zuletzt eben nicht so war. "Wer glücklich sein will, braucht Mut", wird sie in der Vereinsmitteilung des DSC zum Karriere-Ende zitiert.

Es sei vielleicht nicht die einfachste Entscheidung, auf die eigenen Gefühle zu hören. "Aber es ist die ehrlichste", meint Wesser in der Mitteilung, und sie sagt mit dem Blick nach vorn: "Es ist an der Zeit, neue Brücken zu bauen, alte Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen." Gut formuliert, selbstbewusst und abgeklärt klingt das, nur wird im Gespräch auch schnell deutlich, wie ihr die Situation rückblickend zu schaffen macht.

Wessers Perspektive: beste Angreiferin der Welt

2021 war die junge Volleyballerin – als sogenannter Rohdiamant tituliert – vom Nachwuchsteam VC Olympia Dresden in den Profikader des DSC aufgerückt, begleitet von viel Vorschusslorbeeren und vier Nachwuchstiteln. "Ich habe mich sehr drauf gefreut, nach der Meisterschaft 2021 zu dieser Mannschaft zu gehören, die Chance zu haben, in der 1. Bundesliga zu spielen", erzählt Wesser, die als großes Versprechen auf die Zukunft galt mit der Perspektive, in den nächsten zwei, drei, vier Jahren vielleicht zu einer der besten Angreiferinnen der Welt zu reifen. Und damit spätestens mit einem Wechsel nach Italien oder in die Türkei gutes Geld zu verdienen.

Wie beim DSC war sie auch in der deutschen Nationalmannschaft fest eingeplant. Doch mit der neuen Herausforderung bei den Profis begannen die Probleme. "Der Gewinn der U 20-Meisterschaft 2021 war das Letzte, was mir richtig Spaß gemacht hat", sagt sie nun.

Die Blicke sagen alles: Bronze ist für die erfolgsverwöhnten Dresdner Volleyballerinnen bestenfalls ein Trostpreis. Für Julia Wesser, ganz rechts), ist es der letzte öffentliche Auftritt im DSC-Trikot.
Die Blicke sagen alles: Bronze ist für die erfolgsverwöhnten Dresdner Volleyballerinnen bestenfalls ein Trostpreis. Für Julia Wesser, ganz rechts), ist es der letzte öffentliche Auftritt im DSC-Trikot. © Matthias Rietschel

Wesser zog in eine eigene Wohnung, sie machte ihr Abitur, wuchs nach und nach ins Profigeschäft hinein. Nur emotional angekommen ist sie dort nie. Der eigene Anspruch in der Schule und beim Sport, dazu der empfundene Druck, keine Fehler mehr machen zu dürfen – das alles war zu viel für sie, wie Wesser jetzt weiß. "Die Angst hat mich in der ersten Liga immer begleitet, im Nachwuchs dagegen überhaupt nicht", sagt Wesser, die zudem ein Psychologiestudium begonnen hat. Ihr ist anzumerken, wie sehr sie die Erinnerung aufwühlt. Trotzdem antwortet die junge Frau ruhig und ausführlich.

Leistungsdruck, Konkurrenzkampf, die Erwartungen von außen an eine junge, im Umbruch steckende Mannschaft, aber auch ihre eigenen Erwartungen, die Selbstzweifel verbunden mit der Suche nach Perfektion – irgendwann steckte Wesser in einer Abwärtsspirale, aus der sie für sich keinen Ausweg mehr fand. "Mit meiner psychischen Gesundheit ging es immer weiter bergab. Ich habe mich teilweise gefühlt wie in einem schwarzen Loch, es war alles dunkel in mir. Ich habe nur noch funktioniert und mich durchgekämpft", sagt sie.

Schon in der Vorbereitung auf die abgelaufene Saison sprach Wesser, die sich selbst als komplizierte, schwierige Type beschreibt, unter Tränen ihre mentalen Probleme im Trainerteam an, später erklärte sie Cheftrainer Alexander Waibl, sich externe Hilfe zu suchen.

Unter Tränen erzählt Wesser dem Trainerteam von ihren mentalen Problemen

Da Wesser bis Ende 2022 als Kader der Nationalmannschaft gelistet war, konnte sie auf Eigeninitiative und mit Zuschüssen der Deutschen Sporthilfe psychologische Hilfe in Anspruch nehmen – für vier Sitzungen. Danach verfiel ihr Auswahlstatus, weil sie Nationalmannschaftslehrgänge für den Sommer 2022 abgesagt hatte. Eine weitere Behandlung gab es nicht. Wesser hat das sensible Thema mehrheitlich mit sich allein ausgemacht, wenngleich auch Trainer Waibl mit ihr gelegentlich darüber sprach – und ihr im Laufe der Saison eine neue, weniger komplexe Position auf dem Spielfeld gegeben hat.

Fest steht auch, dass der DSC seit Jahren nicht zuletzt aus finanziellen Gründen auf eine Zusammenarbeit mit einem Sportpsychologen verzichtet, was in der Volleyball-Bundesliga gar nicht selten ist. Selbst der finanziell besser aufgestellte Meister Stuttgart nutzte diese Möglichkeit bislang nicht.

Dass es im Profisport anders, härter ablaufe als im Nachwuchs, sagt Wesser, das sei ihr natürlich bewusst. „Ich weiß, dass man in der 1. Liga nicht jede Woche Zeit hat, sich individuell mit jeder Spielerin zu beschäftigen. Doch wenn du deine Leistung nicht bringst und vielleicht ein paar psychische Probleme hast, wird nicht auf dich eingegangen“, betont sie. Rückblickend, das wird im Gespräch deutlich, hätte sich Wesser mehr Unterstützung seitens des Vereins gewünscht. Andererseits, darauf weist der DSC hin, hat sie das nie deutlich gemacht.

Die Annahme ist die große Herausforderung für Julia Wesser auf dem Spielfeld. Daraufhin gibt ihr der Trainer unter anderem eine andere Position, ihr mentales Problem löst sich damit nicht.
Die Annahme ist die große Herausforderung für Julia Wesser auf dem Spielfeld. Daraufhin gibt ihr der Trainer unter anderem eine andere Position, ihr mentales Problem löst sich damit nicht. © Jürgen Lösel

Wessers Schlussfolgerung für die Zeit jetzt nach der Karriere: "Vielleicht ist es meine Aufgabe, ein bisschen mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, wie es uns Sportlerinnen geht. Das bekommt niemand so richtig mit. Die psychologische Begleitung führt auch zu einer Leistungssteigerung. Wenn es den Sportlerinnen gut geht, gewinnt man mehr Spiele."

Für sie steht jedenfalls fest: "Ich hätte wohl ein halbes oder gar ein Jahr psychologische Unterstützung gebraucht." Zumal sich ihr seelisches Unwohlsein zunehmend auch auf ihre körperliche Gesundheit ausgewirkt hatte. Sie sei in der gesamten Saison relativ viel krank gewesen, so Wesser. Im Januar dieses Jahres erhielt sie zudem die Diagnose Pfeiffersches Drüsenfieber und durfte sich mehrere Wochen kaum bewegen.

Inzwischen ist die Krankheit ausgestanden, mit dem Karriereende, das betont sie, habe das auch gar nichts zu tun. "Aber ich hatte in meiner Zwangspause viel Zeit, darüber nachzudenken. Dass ich aufhöre, war schon viel länger in meinem Kopf. Ich habe gemerkt: Mich hält da nichts. Es war nicht mehr dieses Feuer da, das ich beim VCO hatte", betont Wesser.

Wessers bis 2024 laufender Vertrag ist nicht aufgelöst, sondern "ruhend gestellt"

Im März ging sie schließlich auf den Verein zu und bat um die Auflösung ihres bis 2024 laufenden Profivertrages. Schweren Herzens, so Geschäftsführerin Sandra Zimmermann, habe der DSC dem Wunsch von Wesser entsprochen. "Julia ist eine sehr vielseitig interessierte junge Frau. Ihre Entscheidung überrascht diejenigen, die sie ein bisschen besser kennen, nicht", meint Trainer Waibl.

Und doch sei es eine Niederlage, ergänzt Zimmermann auf Nachfrage von Sächsische.de, "wenn wir talentierte und mühevoll ausgebildete Spielerinnen verlieren", und sie erklärt, dass sich zuallererst das Trainerteam kritisch hinterfragt habe. "Schließlich bemessen wir unseren Erfolg nicht ausschließlich an Titeln, sondern auch an der Entwicklung von Nachwuchsspielerinnen, für die umfangreich Ressourcen bereitgestellt werden und Engagement von vielen Verantwortlichen eingebracht wird", so Zimmermann.

Dass der Verein den Vertrag allerdings nicht aufgelöst hat, sondern erst einmal "ruhend gestellt", wie Zimmermann sagt, hat etwas mit Professionalität zu tun. Man stelle sich vor, die Spielerin überlegt es sich im Sommer anders – und wechselt beispielsweise zu einem Ligakonkurrenten. Unabhängig davon, erklärte der DSC in der Karriereende-Mitteilung, stünden Wesser alle Türen offen.

Das aber wird ebenso nicht passieren wie etwa ein Vereinswechsel. "Ich möchte dorthin nicht zurück", sagt Wesser nachdrücklich und schüttelt den Kopf. Sie habe generell keine Lust mehr auf Volleyball. "Ich will diese Pause, um einen klaren Kopf zu bekommen, das Thema abzuhaken."

Etwas Abstand bekam sie mittlerweile auf einer Reise durch England. Darüber hinaus hat sie ab Juli in Dresden einen Minijob als Trainerin im Kindersport in Aussicht. "Ich will weitergeben, wie gut Sport ist, er vermittelt Werte wie Struktur, Organisation, Selbstwertgefühl. Ich wäre ohne den Sport nicht die selbstbewusste Julia, die ich jetzt bin." Trotz und gerade wegen der Erfahrungen, die sie zuletzt im Sport gemacht hat.