Sport
Merken

Warum die Reform im Nachwuchsfußball allerhöchste Zeit wird

Der deutsche Fußball liegt am Boden. Auch weil jede dritte Partie von Kindern in den letzten 50 Jahren schädlich gewesen ist. Was stattdessen hilft: Spiele ohne Tabelle – auch wenn das nicht allen gefällt. Überraschende Einsichten eines Dresdner Jugendtrainers.

 8 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Die Reform des deutschen Nachwuchsfußballs sorgt für viel Kritik. Sebastian Schwerk aus Dresden findet sie überfällig.
Die Reform des deutschen Nachwuchsfußballs sorgt für viel Kritik. Sebastian Schwerk aus Dresden findet sie überfällig. © SZ/Veit Hengst

Von Sebastian Schwerk

Dresden. Im Fußball wird gerne und laut gebrüllt – auf dem Platz, an der Seitenlinie, auf den Rängen und in den Medien. Je schlechter es läuft, desto lauter das Gebrüll und desto niedriger das Niveau. Und gerade läuft vieles ziemlich schlecht im deutschen Fußball. Das frühe Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei den vergangenen Weltmeisterschaften hat Funktionäre wie Fans tief ins Mark getroffen und nicht gerade dazu beigetragen, die Identifikation mit Spielern zu erhöhen, die in jeder Woche ein mittleres deutsches Jahresgehalt verdienen.

Auch dem deutschen Vereinsfußball geht es nicht gut. Im internationalen Kräftemessen fehlen finanzielle Möglichkeiten, Spitzenspieler und Talente. Deutsche U21-Spieler bekommen in der Bundesliga so gut wie keine Spielzeit. Zuletzt waren die Einsatzzeiten ausländischer U21-Talente doppelt so hoch wie die der deutschen. Ganz unten im Ranking übrigens der für seine Personalpolitik hochgelobte 1. FC Union Berlin. Für die Köpenicker kam in der vergangenen Bundesliga-Saison kein einziger Spieler unter 21 Jahren zum Einsatz.

Eine weitere Baustelle ist die drastisch sinkende Anzahl von Jugendlichen, die überhaupt im Seniorenbereich ankommen. Bei den männlichen Spielern zwischen 15 und 18 Jahren gab es vor 20 Jahren noch 5.000 Mannschaften mehr als heute.

Spielfelder und Tore sind für die Kinder viel zu groß

Einig sind sich daher im Grunde alle: Es muss dringend was passieren in der deutschen Nachwuchsarbeit. Außer der Einführung von Nachwuchsleistungszentren bei den Profiklubs und dem Bau einer ebenso teuren wie umstrittenen „Zukunftsfabrik“ hat sich dort in den letzten 50 Jahren nämlich gar nichts verändert. Und das lag nicht daran, dass das Alte gut war, sondern, dass niemand auf die Idee gekommen ist, den Fußball an der Basis der 6- bis 10-jährigen Kicker und Kickerinnen wissenschaftlich zu hinterfragen. Dabei war es unübersehbar. Die Spielfelder und Tore waren und sind in den meisten Teilen Deutschlands für die Kinder viel zu groß.

Sebastian Schwerk (49) arbeitet als Kreativdirektor einer PR-Agentur. In seiner Freizeit trainiert er seit 14 Jahren Nachwuchsteams und ist seit 2021 Beauftragter für den Kinderfußball im Stadtverband Dresden.
Sebastian Schwerk (49) arbeitet als Kreativdirektor einer PR-Agentur. In seiner Freizeit trainiert er seit 14 Jahren Nachwuchsteams und ist seit 2021 Beauftragter für den Kinderfußball im Stadtverband Dresden. © SZ/Veit Hengst

Die Leistungsunterschiede in den zufällig zusammengestellten Ligen sind extrem groß, die Trainer darüber hinaus in den meisten Fällen nicht qualifiziert. Mein ältester Sohn saß in seinen ersten F-Jugend-Spielen für einen Dresdner Breitensportverein 30 von 40 Minuten auf der Bank und hatte in den verbleibenden zehn Minuten auf dem viel zu großen Spielfeld vielleicht drei Ballkontakte. Damit war er aber nicht alleine. 80 Prozent der Ballkontakte entfielen zumeist auf die stärksten zwei Kinder auf beiden Seiten.

Aktuelle Untersuchungen von Prof. Dr. Dr. Matthias Lochmann vom Department Sportwissenschaft und Sport an der Universität Erlangen zeigen, dass Spiele in einer E-Jugend-Liga mit Tabelle in über 50 Prozent der Fälle mit mehr als vier Toren Unterschied enden. Auf diesen Werten und meinen eigenen Erfahrungen in über zehn Jahren Trainertätigkeit basiert die Überzeugung, dass jedes dritte Spiel im Kinderfußball der letzten 50 Jahre für beide Mannschaften absolut keinen Lerneffekt hatte – weder physisch noch psychisch.

Dresden als Revolutionär im Nachwuchsfußball

Sie waren für die Ausbildung eher schädlich. Die eine Mannschaft musste sich nämlich überhaupt nicht anstrengen, um haushoch zu gewinnen, die andere hätte selbst dann eine sogenannte „Klatsche“ kassiert, wenn sie sich bis an die im Fußballdeutsch sprichwörtliche „Kotzgrenze“ verausgabt hätte. Mit Leistungsprinzip hat das nichts zu tun.

Es wurde also allerhöchste Zeit, dass der DFB reagiert. 2024 greift daher deutschlandweit ein neues Konzept für den Kinderfußball, das auf alle großen Probleme reagiert. Es verbessert nachweislich die technisch-taktischen Grundlagen sowie die Wettkampf-Mentalität und verstärkt das individuelle und kollektive Leistungsprinzip. Gespielt wird auf kleineren Spielfeldern mit weniger Spielern, dafür auf mehreren Feldern parallel. In den neuen Spielformen haben alle Kinder auf dem Platz wesentlich häufiger den Ball selbst am Fuß. Die Wahrscheinlichkeit von Erfolgserlebnissen in Form von Toren, gegnerüberwindenden Dribblings oder gelungenen Abwehraktionen wächst enorm.

In Dresden sind wir dem größten Teil der Republik weit voraus. Bereits vor zehn Jahren entstanden hier die ersten Pilotprojekte auf Initiative des VfB Hellerau-Klotzsche. Schnell schlossen sich andere Vereine an, darunter mit SC Borea oder Soccer For Kids die wohl bekanntesten leistungsorientierten Ausbildungsvereine der Stadt, die Kindermannschaften ins Rennen schicken. Auch die SG Dynamo Dresden hat die Einführung der neuen Spielformen in Dresden von Beginn an vehement unterstützt, auch wenn sie selbst keine Mannschaften mehr in diesen Altersklassen führt.

Das große Irren der Herren Baumgart, Helmer und Co

Seit sechs Jahren organisiert der Stadtverband offizielle Wettbewerbe, seit 2022 wird der gesamte Kinderfußball in den Altersklassen G-, F- und E-Jugend in den neuen Spiel- und Organisationsformen umgesetzt. Natürlich gab es viele Zweifel im Vorfeld. Mittlerweile aber ist eine sehr große Mehrheit der Vereine durch die Praxiserfahrung zum klaren Fürsprecher geworden. Und anderswo? Da wird noch gebrüllt.

Steffen Baumgart, Trainer des 1. FC Köln, hat beispielsweise irgendwo gelesen, dass es in dem neuen Konzept keine Niederlagen mehr gebe, und wittert einen Kuschelkurs, der alle Kinder verweichlicht. Ex-Profi Thomas Helmer verkündet lauthals, dass den Kindern künftig „das Leistungsprinzip austrainiert“ werde. Sie irren beide. Und zwar gewaltig.

Denn nicht nur gibt es natürlich weiterhin Siege und Niederlagen, sie vervielfachen sich sogar um das Vier- bis Siebenfache. Aber wie kann es dann zu so einem großen Missverständnis kommen? Nun ja, der DFB selbst hat sich bei der Kommunikation zur Einführung des Konzeptes nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Da war zum Beispiel viel zu oft von „Kreativität“ zu lesen, die der neue Kinderfußball fördere. Die ist natürlich immens wichtig, wird aber dort, wo man Siege gerne „erarbeitet“ wissen möchte, schnell mit den Kabinettstückchen eines Neymars gleichgestellt.

Beim Straßenfußball gab es keine Tabelle

Und mit denen wird man dann doch kein Weltmeister. Dass der neue Kinderfußball aber auch die Anzahl der Zweikämpfe auf dem Platz um mindestens das Vierfache erhöht, stand viel zu selten im Fokus. „DFB-Konzept sorgt für viermal so viele Zweikämpfe“ hätte bei den Dauernörglern unter den Fußballtraditionalisten sicher eine positivere Reaktion ausgelöst als „Wir brauchen mehr Kreativspieler.“

Vor allem aber basiert der Mythos, dem Helmer wie Baumgart und Co aufsitzen, alleine darauf, dass die 6- bis 10-Jährigen künftig in Wettbewerben mit mehreren Teams spielen statt im Ligabetrieb mit einzelnen Begegnungen. Und dadurch fällt zwangsläufig eine Tabelle weg, die Ergebnisse über einen längeren Zeitraum dokumentiert. Und die Tabelle, das ist im Fußball – anders als in vielen anderen Sportarten – für viele eine Art heiliger Gral.

Fußball ohne Tabelle, das klingt für sie nach Ringelpiez mit Anfassen. Paradoxerweise auch für Menschen, die an anderer Stelle nicht müde werden, die Bedeutung des Straßenfußballs für die Ausbildung von Technik und Mentalität zu betonen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wir haben damals jeden Tag auf der Straße gespielt. Eine Tabelle gab es da nie.

Reform des Kinderfußballs bietet weitere Vorteile

Jeder kennt den Spruch, dass aus einem guten Fußballer nicht unbedingt ein guter Trainer werden muss. Wir sollten es darum ergänzen, dass ein guter Bundesliga-Trainer nicht zwangsläufig ein Experte für motorische Lernkurven und die Motivation von Kindern ist.

Der neue Kinderfußball hat nicht nur sportliche Effekte. Zum Konzept gehört auch, dass unter den Trainern ein viel konstruktiveres Miteinander herrscht als früher. Dank der verringerten Komplexität in den kleinen Spielen brauchen sie nicht mehr so viel zu coachen, was aufgrund der großen Distanzen oft nur brüllend möglich war. Das zieht auch neue Trainertypen an, die sich von der oftmals völlig überhitzten Atmosphäre bei Kinderspielen abgeschreckt fühlten. Vergessen wir nicht: 80 Prozent der Deutschen empfinden einer aktuellen Bürgerbefragung zufolge eine „generelle Verrohung der Gesellschaft.“

Und der Fußball hat leider auch im Kinder- und Jugendbereich seinen Teil dazu beigetragen. Pöbeleien, Prügeleien, Pyrotechnik – das habe ich alles schon bei Nachwuchsspielen erlebt. Bei den neuen Wettbewerben dagegen halten die Eltern Abstand und genießen es genauso wie die Trainer, dass fast immer alle Kinder mindestens ein Tor erzielen. Und sie jubeln mit ihren Kindern nach Siegen und sie trösten sie nach Niederlagen. Denn ja, die gibt es immer noch und die wird es auch immer geben. Sogar um ein Vielfaches mehr.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht Sächsische.de kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen. Wollen Sie uns Ihre Meinung zu dem Thema sagen, dann schreiben eine E-Mail an: [email protected].