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Rudolf Harbigs Spur verliert sich in der Ukraine

Dresdens berühmtester Läufer starb vor 80 Jahren. Zu DDR-Zeiten wurde wegen seiner NS-Vergangenheit mit ihm gefremdelt. Nun werden seine Tugenden wieder geschätzt.

Von Jochen Mayer
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Zwischen 1939 und 1941 stellte Rudolf Harbig vom Dresdner SC vier Weltrekorde auf. Seit 80 Jahren gilt er als vermisst.
Zwischen 1939 und 1941 stellte Rudolf Harbig vom Dresdner SC vier Weltrekorde auf. Seit 80 Jahren gilt er als vermisst. © Archivfoto

Die Nachricht lag schwer auf der Seele. An einem Frühlingstag vor 80 Jahren leistete Heinz Lorenz einen letzten schweren Freundschaftsdienst. Der Wehrmachtssoldat war nach Lazarettaufenthalten zurück in seiner Heimatstadt Dresden. Rudolf Harbigs Trainingskamerad hatte auf seiner Odyssee vom Tod des Läufers erfahren. Lorenz quälte sich bei der befreundeten Familie den Satz heraus: "Unser Rudi kehrt nie zurück." So erfuhr Gerda Harbig vom Tod ihres Mannes. Den Schockmoment schildert sie im Buch "Unvergessener Rudolf Harbig". Er wurde 30 Jahre alt.

Lorenz ahnte, in welchen Gefühls-Abgrund er die Frau stürzte. Ihm war es ähnlich ergangen, als er Harbigs Regimentskameraden nach dem Freund fragte. "Der Weltrekordläufer?", wollten die wissen. Der sei vor ein paar Tagen im ukrainischen Nowo-Archangelsk in der Region Kirowgrad nicht mehr zurückgekommen, die Antwort.

"Sachlich, kalt, gleichgültig wurde mir das gesagt", schilderte Lorenz seine Empfindungen in Gerda Harbigs Buch und fügte hinzu: "Was galt auch ein Menschenleben in diesem Chaos, was bedeutete überhaupt der Mensch in Hitlers Krieg?"

Gerüchte um den Tod des mehrfachen Weltrekordhalters

Harbig gilt seit dem 5. März 1944 als vermisst. Strittig ist, wie der Zugführer eines Fallschirmjäger-Regiments starb. Das nährte Gerüchte. Die Ehefrau hoffte bis Anfang der 1950er-Jahre, "er sei nur verwundet worden", bis sein Tod zur Gewissheit wurde. Ein Grab lässt sich Harbig nicht zuordnen.

"Seine Seele soll ruhen, wo sie will", sagte Harbigs Tochter Ulrike 2020 in einer fünfteiligen Serie der Sächsischen Zeitung. "Das muss nicht dort sein, wo ein Kreuz steht. Für mich ist sein Geist da, man redet über ihn, sein Name ist präsent. Das ist doch nach so vielen Jahren erstaunlich."

Als Harbig starb, war er im Besitz von vier Weltrekorden, gleichzeitig schnellster Läufer über 400, 800 und 1.000 Meter. Dies gelang bis dahin und bis heute keinem weiteren Leichtathleten. Außerdem gehörte er zur deutschen Weltrekordstaffel über 4 x 800 Meter. Seine 1:46,6 Sekunden über die 800 Meter von Mailand galten als Fabel-Weltrekord, drei Sekunden unter der alten Marke. Diese Zeit konnte 16 Jahre niemand brechen.

Doch dem langbeinigen Athleten blieb die Krönung versagt. Im 800-Meter-Olympia-Rennen war er 1936 gesundheitlich angeschlagen, schied geschwächt im Vorlauf aus, gewann aber Bronze mit der 4 x 400-Meter-Staffel. Der Zweite Weltkrieg verhinderte die Sommerspiele 1940. So blieben die EM-Titel von 1938 über 800 Meter und mit der Staffel die einzigen internationalen Titel von Rang.

Seine Tugenden: Respektvoller Umgang, Disziplin, Ordnung

Harbig galt als vorbildlicher Sportsmann, sein Andenken wurde in Ost und West gepflegt. Der westdeutsche Verband vergibt seit 1950 den Harbig-Gedächtnispreis an Athleten, die über Jahre Herausragendes geleistet haben. In Dresden wurde 1951 die Ilgen-Kampfbahn zum Rudolf-Harbig-Stadion. Seinen Namen tragen auch Straßen, Sporthallen, Schulen, Brigaden und ein ICE der Bundesbahn.

Der Läufer diente zudem als Motiv für Briefmarken, Sonderdrucke und Ersttagsbriefe in beiden deutschen Staaten. "Wo sein Name fällt, weisen die Initiatoren auf die Tugenden hin, die von ihm überliefert worden sind", erzählte Ulrike Harbig. „Dazu gehören respektvoller, korrekter Umgang miteinander, Disziplin, Ordnung und Sauberkeit.“

Legendär waren die Harbig-Sportfeste in Dresden ab 1951 mit dem Gedenklauf über 800 Meter vor großer Kulisse. Die Tradition endete 1966, als der Erfurter Manfred Matuschewski den Kristall-Wanderpokal zum letzten Mal gewann.

Der einstige Dresdner Sportfunktionär Werner Fritzsche sprach in Wendezeiten über Gründe, warum mit Harbig gefremdelt wurde. Es habe prinzipielle Vorbehalte gegen die Dresdner Sportfeste von sowjetischer Seite gegeben, berichtete Fritzsche: "Harbig sei mit seinem Fallschirmjäger-Regiment an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen, hieß es. Obwohl gegen Rudi persönlich nie konkrete Anschuldigungen vorgebracht wurden." Fritzsche vermutete außerdem, dass "mit der Anerkennungswelle der DDR das Harbig-Sportfest nicht mehr gebraucht wurde. Die DDR-Sportführung ließ es sterben."

War Rudolf Harbig ein systemtreuer Nazi?

Harbig lebte nicht außerhalb des Hitler-Systems. Es existiert sein NSDAP-Mitgliedsbuch, er gehörte zur Dresdner Bergsteigertruppe der SA. Tochter Ulrike Harbig sagte zum Parteibuch: "Wenn das der Wahrheit entspricht, muss ich das wohl akzeptieren. Aus meiner Oberschulzeit in den 1950er-Jahren in Ostberlin habe ich erfahren, dass ein Parteibuch nicht immer mit der dazugehörigen Gesinnung zu tun hat." Sie berichtete auch vom DDR-Alltag, dass ihre Mutter immer heulend nach Hause gekommen sei, „wenn wieder mal gesagt wurde, dass mein Vater ein Nazi gewesen sei“.

Sie erinnert sich auch an Begegnungen mit Zeitzeugen: "Die alten Herren erzählten mir mehrmals, Rudi sei immer abgehauen, wenn er merkte, dass er irgendwo etwas Politisches mitmachen sollte." Entziehen konnte sich Harbig dem System nicht und zahlte den höchsten Preis dafür – mit seinem Leben.

Die Erinnerung an die Legende wird in Dresden wachgehalten. Das Stadion bekam seinen Namen zurück, wo Harbig seinen 1.000-Meter-Weltrekord gelaufen war. Nun entsteht in der Heimat des Dresdner SC, Harbigs Verein, ein modernes Stadion. Es gibt die Chance, dass das Ostra-Gehege bald wieder Leichtathletik-Ereignisse erlebt, die erneut mit dem Namen des berühmten Läufers in Verbindung gebracht werden können.