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"Man merkt Kindern die Trauer nicht immer an"

Wenn Kinder und junge Erwachsene über dem Tod eines geliebten Menschen fast zerbrechen, hilft ihnen Trauerbegleiterin Konstanze Kawan von Lacrima in Dresden zurück ins Leben.

Von Dominique Bielmeier
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Konstanze Kawan engagiert sich ehrenamtlich bei Lacrima, der Trauerbegleitung der Johanniter für Kinder und junge Erwachsene im Raum Dresden. Im "Toberaum" können die auch mal ihre Wut herauslassen.
Konstanze Kawan engagiert sich ehrenamtlich bei Lacrima, der Trauerbegleitung der Johanniter für Kinder und junge Erwachsene im Raum Dresden. Im "Toberaum" können die auch mal ihre Wut herauslassen. © SZ/Veit Hengst

Dresden. Man muss genau hinsehen, um es zu erkennen - aber wer kann in einem solchen Moment, durch einen Tränenschleier hindurch, überhaupt etwas deutlich sehen? Die Fünfjährige am Sarg zittert, fast unmerklich. Vor Wut, weil Kurt nicht mehr da ist. Ellis kleiner Bruder, zwei Jahre jünger als sie, ist nun auf immer von ihr getrennt durch das Holz der schmerzlich kleinen Kiste.

Elli wird ihren Bruder nicht aufwachsen sehen, sie wird ihn nie mehr mit seinen Autos spielen sehen, nie mehr sein Lachen hören. Bei ihrem letzten Besuch in der Klinik hat sie ihm noch ein Lied vorgesungen. Dann ließ die Familie die lebenserhaltenden Geräte abschalten.

Es gab keine Hoffnung mehr für Kurt. Die Hirnverletzungen waren zu schwer. Fünf Tage zuvor war der Junge zu Hause eine Treppe hinuntergestürzt, mit dem Wägelchen, das ihm wegen seiner Stoffwechselerkrankung als Laufhilfe gedient hatte.

Nach der Beerdigung wirkt Elli gefasst, lässt sich kaum anmerken, was sie alles mit sich selbst ausmacht. Hilfsangebote lehnt die Fünfjährige ab. Mutter Stephanie leidet unter depressiven Schüben, macht sich schwere Vorwürfe. Irgendwann merkt die Familie: Alleine schaffen wir es nicht aus dieser Trauer heraus.

Trauer endet nicht - aber es gibt Linderung

"Jemand, der das nicht erlebt hat, kann es einfach nicht nachempfinden", sagt Konstanze Kawan. "Da kann man Mitleid haben oder mitfühlend sein, aber man kann es nicht nachempfinden." Vor allem in einer Gesellschaft, die Trauer kaum öffentlich thematisiert und so zu einem rein privaten Problem macht. Wenn sie dann wie aus dem Nichts in das eigene Leben einbricht, sind Betroffene nicht selten überwältigt und fühlen sich isoliert. Manchmal gehen sie regelrecht in der Trauer verloren - gerade Kinder und Jugendliche.

Dann können Trauerbegleiterinnen wie Konstanze Kawan ganz behutsam wieder heraushelfen. Oder vielmehr: einen Weg aufzeigen, nach und nach besser mit diesen Gefühlen umzugehen. Denn ein "Heraus" gibt es nicht, das wird jeder bestätigen, der schon einmal einen geliebten Menschen verloren hat. Die Trauer wird immer bleiben. Was es aber gibt, ist Linderung.

Selbstgebastelte Kerzen wie diese gehören zu einem festen Ritual bei den Trauerstunden von Lacrima in Dresden. Sie erinnern an die Menschen, die die Kinder verloren haben.
Selbstgebastelte Kerzen wie diese gehören zu einem festen Ritual bei den Trauerstunden von Lacrima in Dresden. Sie erinnern an die Menschen, die die Kinder verloren haben. © Sven Ellger

Die 45-Jährige, die im "echten" Leben Lehrerin an der Berufsfachschule für Sozialwesen in Dresden ist, führt in einen kleinen Raum im Erdgeschoss eines modernen Vonovia-Neubaus in der Altstadt. Orangefarbene Stoffbahnen an der Decke dämpfen das Licht, in einem Kreis um einen kleinen dreibeinigen Tablett-Tisch herum stehen Sitzsäcke in Orange, Grün, Blau, Anthrazit. Im Sand auf dem Tisch: dicke weiße Stumpenkerzen. Auf dem Teppich daneben: eine Holzschale voll Steinen und Federn sowie eine einzelne Taschentuchbox.

Im "Snoozle-Raum" beginnt die Arbeit von Konstanze Kawan. Sie ist eine von gut 20 derzeit aktiven Ehrenamtlerinnen, die sich bei "Lacrima" (lateinisch für "Träne") engagieren, der Trauerbegleitung der Johanniter für Kinder und Jugendliche. Ehrenamtlerinnen, weil es im Moment neben Robert Dietsche nur noch einen einzigen Mann gibt. Der Projektkoordinator findet das nicht optimal: Weil auch viele trauernde Jungen begleitet werden, wäre es eigentlich gut, in jedem Team auch eine männliche Bezugsperson zu haben.

Trauerimpulse sollen helfen, ins Sprechen zu kommen

So sind es praktisch immer Frauen, in Dreierteams, die im Snoozle-Raum das Ritual leiten, mit dem jede Gruppenstunde anfängt: Die Kinder zünden eine selbst gebastelte Kerze an, die an den Menschen erinnert, den sie verloren haben. Das können Mama oder Papa sein, die Großeltern oder auch nicht lebend geborene Geschwisterkinder. "Bei manchem Kind ist das der einzige Moment, in dem wir auf diesen speziellen Verlust zu sprechen kommen", sagt Konstanze Kawan.

Neben einer Gruppe von jungen Erwachsenen zwischen 19 und 25 Jahren, die sich einmal im Monat trifft, betreut Kawan alle 14 Tage Vorschulkinder wie Elli - die jüngsten, die zu Lacrima kommen. Bei Fünf- und Sechsjährigen sei es mehr Arbeit, überhaupt auf das Thema Trauer zu kommen. In jeder Gruppenstunde werde ein entsprechender Impuls gesetzt, um ins Sprechen zu kommen. Oder es wird mit Lego eine Familie gebaut, in der jemand verstorben ist. "Manchmal gelingt es aber auch gar nicht und dann ist es auch gut", sagt Kawan.

Während bei den jungen Erwachsenen das Gespräch über die Trauer im Zentrum der Treffen steht und danach gemeinsam gekocht und gegessen wird, schließt sich für die Kleinen an das Ritual im Snoozle-Raum Zeit im Kreativraum an. Dort werden Kalender gebastelt, Kerzen gegossen, "Trostsalben" hergestellt, Erinnerungskisten gebaut, pädagogische Spiele gespielt oder es wird ein Film geschaut. In einem benachbarten "Toberaum" voll Matten und bunter Schaumstoffwürfel können die Kinder aber auch mal ihre Wut an einem Boxsack auslassen, der von der Decke hängt. Denn jedes Kind trauert anders - und vor allem trauern Kinder anders als Erwachsene.

Verhaltensänderung von Kindern deutet oft auf Trauer hin

Konstanze Kawan spricht von "Trauerpfützen", in die Kinder mal hineinspringen, aber auch wieder heraus. Soll heißen: "Sie sind nicht ständig traurig. Man merkt es ihnen nicht immer an, sondern es sind Momente, in denen es hochkommt." Gerade kleine Kinder verarbeiteten Trauer auch durch körperliche Signale, wollten zum Beispiel nicht mehr im eigenen Bett schlafen, nässten wieder ein oder verweigerten partout die Klassenfahrt, erklärt Kawan. Verhaltensweisen also, die man vielleicht erst mal gar nicht mit der Trauer in Verbindung bringt.

Auch generelle Verhaltensänderungen können auf eine tiefe Trauer hinweisen, ergänzt Johanniter-Sprecher Danilo Schulz. Während manche Kinder ganz still würden und sich zurückzögen, wüssten andere gar nicht wohin mit ihrer Wut, schubsten manchmal sogar andere Kinder oder ließen ihren Frust an Gegenständen aus. Nicht umsonst wird der Toberaum auch "Wutraum" genannt.

Das Wissen, das die Ehrenamtlichen für die Begleitung von trauernden Kindern und Jugendlichen benötigen, erhalten sie in einem Einführungskurs, der ganz am Anfang des Engagements bei Lacrima steht. Über mehrere Wochenenden werden ihnen etwa ein Vierteljahr lang die Grundlagen der Trauerbegleitung vermittelt, es geht um Trauerphasen, Kommunikation mit den Kindern, aber auch Biografiearbeit.

Ehrenamtler müssen sich eigener Biografie stellen

Denn während die Trauerbegleiterinnen bei Lacrima aus den unterschiedlichsten Berufs- und Altersgruppen kommen, ist nicht jede für das Ehrenamt geeignet. Es sei sehr wichtig, die eigene Trauerbiografie abzuklären, um zu wissen, wo die eigenen Berührungspunkte mit dem Thema sind, sagt Konstanze Kawan. "Wenn wir in den Gruppenstunden sitzen, muss uns das bewusst sein, weil es auch immer Trigger-Momente geben kann, in denen man merkt: Das ist etwas, was mir jetzt doch sehr nahe geht."

Sie selbst kennt das Gefühl von Trauer gut, in ihrer Familie und im Freundeskreis habe es bereits mehrere, auch frühe Todesfälle gegeben. Als Pfarrerstochter waren Sterben und Tod aber nie fremd für sie, schon als sie klein war, hat sie miterlebt, dass auch Kinder beerdigt werden, hat aufgebahrte Särge in der Kirche gesehen. "Ich habe überhaupt keine Berührungsängste mit dem Thema", sagt Kawan und ergänzt lachend: "Mein Kinderzimmer ging zum Friedhof raus."

Eigene Trauererfahrungen, die gut verarbeitet wurden, können sogar ein Vorteil sein, wenn man sich bei Lacrima engagiert, erzählt Danilo Schulz. Es gab aber auch schon Interessierte, die die Begleitung als eine Art Eigentherapie nutzen wollten. Nicht nur darauf klopft Projektkoordinator Robert Dietsche die potenziellen Ehrenamtler im Erstgespräch ab, sondern fragt ganz offen: Wie viel Zeit sind Sie bereit zu investieren?

Zweimal im Monat treffen sich die Gruppen je zwei Stunden lang, hinzu kommen Vor- und Nachbereitung der Stunden, Weiterbildungen, Ehrenamtsarbeitstreffen, auch mal Öffentlichkeitsarbeitstermine, denn Lacrima finanziert sich fast ausschließlich über Spenden. "Die Zeit, die man investieren muss, sollte man auf den Monat heruntergerechnet bei zwölf bis 14 Stunden ansetzen", sagt Dietsche. "Dann sage ich, derjenige bringt sich gut ein." Und man müsse auch mal einspringen können, wenn jemand anderes ausfällt.

"Man nimmt immer etwas mit nach Hause"

Neue Ehrenamtler werden immer gesucht, auch weil sich einzelne manchmal aus persönlichen Gründen eine Auszeit nehmen. Das kann sein, weil sie selbst einen Trauerfall erleben oder einfach mal für eine Weile etwas Abstand vom Thema brauchen. Alle zwei Wochen bis zu neun trauernden Kindern gegenüberzusitzen, wie gelingt es da überhaupt, die Traurigkeit, die Schwere, die herzzerreißenden Geschichten nicht mit nach Hause zu nehmen?

"Man nimmt immer etwas mit nach Hause", sagt Konstanze Kawan, die selbst drei Kinder hat. "Wenn wir es gar nicht mitnehmen würden, wären wir nicht authentisch hier, denke ich." Das sei eine Frage von Selbstfürsorge und Psychohygiene. Ihr selbst helfe zum Beispiel der Heimweg: 20 Minuten auf dem Fahrrad nach Löbtau. "Da lasse ich unterwegs schon ganz viel auf dem Weg." Direkt nach der Gruppenstunde sitzt das Team außerdem zusammen und bespricht, was die Ehrenamtlerinnen persönlich bewegt. Und es gibt immer auch die Möglichkeit der Supervision.

Zur Finanzierung ist Lacrima vor allem auf Spenden angewiesen. Hier nimmt Projektkoordinator Robert Dietsche im Rahmen einer Versteigerung einer limitierten Harley-Davidson Schecks über insgesamt gut 10.000 Euro entgegen.
Zur Finanzierung ist Lacrima vor allem auf Spenden angewiesen. Hier nimmt Projektkoordinator Robert Dietsche im Rahmen einer Versteigerung einer limitierten Harley-Davidson Schecks über insgesamt gut 10.000 Euro entgegen. © Thomas Heavy Metal Bikes GmbH (Archiv)

Zum Schutz der engagierten Frauen gehört auch, dass eine klare Grenze zwischen Ehrenamt und Privatleben gezogen wird. Die Familien haben keine persönlichen Daten wie Handynummern der Ehrenamtlerinnen, und sie treffen diese auch nicht außerhalb der Gruppenstunden. "Wenn sich die Familien untereinander zum Grillen verabreden, würde ich da privat nicht hingehen", sagt Konstanze Kawan. "Weil genau das die Grenze ist."

Doch nicht alles, was man aus den Begegnungen mit trauernden Kindern und Jugendlichen, aus dem Engagement bei Lacrima mitnehmen kann, ist negativ - ganz im Gegenteil. Für Konstanze Kawan ist das Ehrenamt ein wunderbarer Ausgleich zu ihrem Beruf, bei dem sie gleichzeitig eine bunte Mischung an Menschen trifft, die sie andernfalls wohl nie kennengelernt hätte. Und nicht zuletzt wird sie immer wieder daran erinnert, "dass das eigene Leben zumindest in puncto Verlust aktuell gerade glattläuft".

Elli erzählt heute oft, was Kurt passiert ist

Seit fünf Jahren gibt es Lacrima in Dresden, neben dem neuen Trauerzentrum in der Altstadt gibt es noch eines in Leuben. Zwischen 50 und 60 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene werden derzeit begleitet. "Wir haben ein teiloffenes Konzept. Das heißt, wenn Platz ist, kann man jederzeit dazukommen", erklärt Robert Dietsche. Die Begleitung dauert zwischen einem knappen Jahr und etwa anderthalb Jahren und endet oft, wenn Kinder oder Eltern selbst sagen, dass sie nicht mehr nötig ist.

Am Ende einer Gruppenstunde, nachdem geredet und gebastelt oder gemeinsam gegessen, nachdem wie nebenbei die eigene Trauer bearbeitet wurde, geht es noch einmal zurück zu den Kerzen in den Snoozle-Raum. Noch einmal werden sie entzündet und jeder sagt, wie es ihm nun geht. Fühlen sich die Kinder eher leicht wie eine der Federn oder schwer wie einer der Steine in der Holzschale auf dem Teppich? Dann wird die Kerze gelöscht.

Auch Elli, die inzwischen in die Schule geht, entzündet die Kerze für ihren verstorbenen kleinen Bruder immer wieder. Über die Monate bei Lacrima wird sie nicht nur ihre stille Wut los, sondern spielt irgendwann relativ unbeschwert mit den anderen Kindern aus ihrer Gruppe. Sie erzählt oft, was Kurt passiert ist. Ihre Mutter Stephanie lernt im gleichzeitig stattfindenden Elterncafé, mit ihren Selbstvorwürfen umzugehen. Wenn Elli heute mit Kurts kleinen Autos spielt, denkt sie an sein unbekümmertes Lachen.

Spenden: Johanniter-Unfall-Hilfe e. V., Regionalverband Dresden, Stichwort: Lacrima Dresden, IBAN: DE84 3702 0500 0004 3318 04, Bank für Sozialwirtschaft, BIC: BFSWDE33XXX

Weitere Informationen zur Trauerarbeit von Lacrima gibt es unter www.johanniter.de/lacrimadresden.