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Dresdens größtes Ukraine-Spendenlager: "Ich bekomme jedes Mal Gänsehaut"

Im Zentralwerk in Pieschen nehmen Ehrenamtliche Spenden für Hilfskonvois in die Ukraine an, sortieren sie und laden sie in Lkw. Ein Blick hinter die Kulissen.

Von Juliane Just
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Denise Kunze, eine der Gründerinnen der Initiative "Direkthilfe Dresden", inmitten von Schlafsäcken, Decken und Handtüchern. Vom Zentralwerk Pieschen aus werden Konvois mit Hilfsgütern an die ukrainischen Grenze geschickt.
Denise Kunze, eine der Gründerinnen der Initiative "Direkthilfe Dresden", inmitten von Schlafsäcken, Decken und Handtüchern. Vom Zentralwerk Pieschen aus werden Konvois mit Hilfsgütern an die ukrainischen Grenze geschickt. © Marion Doering

Dresden. "Hallo! Wir sind zum Helfen da", sagt eine junge Frau, die im Türrahmen des Zentralwerks Pieschen steht. Es ist Samstagmorgen, 10 Uhr. Ein Mann zeigt auf die Tür zum Hauptsaal, wo die beiden im Gewusel untergehen. Überall wird gepackt, telefoniert, gedruckt, gerufen. Meterhoch stapeln sich Kartons. Mehr als 30-mal wird der Satz an diesem Tag noch gesagt. All diese Menschen sind gekommen, um die Initiative "Direkthilfe Dresden" zu unterstützen.

Diese ist noch sehr jung, genauer gesagt fünf Tage alt. Am 28. Februar gründeten mehrere Privatpersonen aus Dresden die Initiative, um Menschen in den Kriegsgebieten in der Ukraine zu helfen. "Zuerst wollten wir selbst an die ukrainische Grenze fahren und Geflüchtete evakuieren. Dann kam die Idee, eine Sammelstelle für Hilfsgüter einzurichten", sagt Denise Kunze, eine der Initiatoren.

Über 100 Ecken wurde das Zentralwerk, das normalerweise für Veranstaltungen genutzt wird, kurzerhand zum Sammelpunkt. Die Idee erreichte zahlreiche Dresdner. Viele Menschen wollen irgendwie helfen - im Zentralwerk haben sie einen Ort, an dem alles gebündelt wird. Ob Sach- oder Geldspenden, ob medizinisches Knowhow oder pure Manneskraft - benötigt wird alles.

In Pieschen ist ein kleines Logistikzentrum entstanden

Keiner der Engagierten vor Ort hat Eventmanagement oder Logistik studiert oder gelernt. Und trotzdem ist binnen weniger Tage mitten in Pieschen eine Art Logistikzentrum entstanden. Von der Annahme der Sachspenden über die Sortierung und Verpackung bis hin zum Transport in die ukrainischen Kriegsgebiete läuft alles über einen Schreibtisch, der im Foyer steht.

"Es haben sich so schnell Strukturen gebildet, das ist bemerkenswert", sagt Denise Kunze, gerührt von dem Engagement der Dresdner. "Ich bekomme jedes Mal Gänsehaut, wenn ich die Hilfsbereitschaft hier sehe."

Der Hauptsaal des Zentralwerks Pieschen, wo normalerweise Veranstaltungen stattfinden, wird zum Sortieren und Verpacken der Sachspenden genutzt.
Der Hauptsaal des Zentralwerks Pieschen, wo normalerweise Veranstaltungen stattfinden, wird zum Sortieren und Verpacken der Sachspenden genutzt. © Marion Doering
Die Helfer sortieren die Sachspenden in einzelne Kartons, die mit drei Sprachen beschriftet sind, damit sie vor Ort zugeordnet werden können.
Die Helfer sortieren die Sachspenden in einzelne Kartons, die mit drei Sprachen beschriftet sind, damit sie vor Ort zugeordnet werden können. © Marion Doering
Massenweise Rucksäcke werden in einer Ecke gesammelt, damit sie später verpackt werden können.
Massenweise Rucksäcke werden in einer Ecke gesammelt, damit sie später verpackt werden können. © Marion Doering

Während sich im Foyer sozusagen die Schaltzentrale befindet, wird im Saal dahinter zugepackt. Dort türmen sich Schlafsäcke, Rucksäcke, Fertiggerichte. Wohin das Auge blickt, quellt es vor Hilfsgütern über. Hier werden die Sachspenden sortiert. Im Team Nahrung beispielsweise werden Nudeln, Äpfel und Kekse in Kisten verpackt. Zettel auf den Kartons verraten den Inhalt - auf Deutsch, Ukrainisch und Englisch.

In eine dieser Kisten stapelt Nadine Schneider Dosen mit Fertiggerichten. Sie ist heute zum ersten Mal als Helferin da. "Man will irgendwo mit anpacken und helfen. Wenn man das nicht im großen Rahmen tun kann, dann wenigstens im kleinen", sagt die 39-Jährige.

Die Worte "Ukraine Hilfe Dresden", die sie in die Google-Suchmaschine eintippte, brachten sie hierher. Dort trug sie sich in eine Liste der Helfer ein. Als Regionalmanagerin im Einzelhandel kann sie hier vor Ort ihre Berufserfahrung einbringen: organisieren, strukturieren, anpacken.

Transporter fahren im Minutentakt vor

"Für mich ist der Krieg schwer zu greifen. Die Nachricht hat mich binnen Sekunden eingeholt und dann war da eine gewisse Leere", beschreibt sie ihre Gefühle. Sie versuche, die Nachrichten aus der Presse "dosiert" aufzunehmen, damit sie nicht zu schwer auf der Seele lasten. Dass der Krieg auf menschlicher Ebene "völlig falsch" sei, darüber brauche man nicht mehr diskutieren, sagt sie.

An den einzelnen Stationen sortieren Rentner neben Studenten, packen Chefs gemeinsam mit Geringverdienern die Hilfsgüter in die Kartons. Es entsteht eine Eigendynamik und eine Gemeinschaftlichkeit, die überwältigt. Im Minutentakt fahren Autos und Transporter vor und entleeren kistenweise Sachspenden, die dann vom Saal wieder verschluckt werden.

Die Dresdnerinnen Christine (r.) und Nadine Schneider helfen am Samstagmorgen beim Sortieren der Hilfsgüter in Pieschen.
Die Dresdnerinnen Christine (r.) und Nadine Schneider helfen am Samstagmorgen beim Sortieren der Hilfsgüter in Pieschen. © Marion Doering

Dort, wo im Zentralwerk normalerweise Stühle aneinandergereiht sind und auf Besucher warten, steht nun alles voller Paletten. Im oberen Bereich, einer Art Balkon, ist die Medizin- und Technikabteilung. "Sortiert und verpackt werden die medizinischen Güter hier von Personen mit medizinischem Hintergrund", erklärt Denise Kunze. Dasselbe gilt, wenn die Güter an ihrem Bestimmungsort ausgepackt werden. Damit soll sichergestellt werden, dass nur Fachpersonal die entsprechenden Medikamente und Arzneimittel anwendet.

Der Bereich Technik wird von meterlangen Kabeln durchzogen, die sich wie Fallstricke über das Parkett ziehen. An unzähligen Steckdosenleisten blinken kleine Lichter an Powerbanks verschiedener Größen, die gerade aufgeladen werden. Hier hockt Samuel Arnold und steckt weitere Speichermedien ans Netz. Der 34-jährige Blondschopf packt hier bereits den dritten Tag in Folge ehrenamtlich an.

"Ich habe nicht viel Geld, aber dafür zwei gesunde Hände und Organisationstalent", sagt er zu seinen Beweggründen, an einem Samstagmorgen hier zu sein. Von hinten legt ihm eine andere Helferin eine leuchtende Warnweste über die Schulter und sagt im Vorbeigehen, er sei jetzt der Ansprechpartner für die Helfer hier, er kenne sich schließlich am besten aus.

Hilfe in Absprache mit dem Chef

Hauptberuflich arbeitet Samuel Arnold in der Lederverarbeitung auf 32-Stunden-Basis. "Mein Chef hatte Verständnis, dass ich die wichtigsten Dinge auf Arbeit erledige und dann hierher zum Helfen komme", berichtet er. Es tue ihm gut, hier vor Ort mit anzupacken, auch wenn es manchmal stressig sei. "Gestern Abend hatte ich schon Plattfüße und war ganz schön kaputt", sagt er.

Durch seine dreitägige Arbeit hat er einen Überblick, was zwischen den Bergen von Sachspenden noch fehlt. "Vor allem Medikamente und medizinisches Zubehör werden gebraucht", sagt er. Online gibt es eine Liste an benötigten Dingen, die täglich vom Team "Social Media" aktualisiert wird. Sie koordinieren ebenfalls die eingehenden Nachrichten in der Gruppe der "Direkthilfe Dresden" im Messenger-Dienst Telegram.

Samuel Arnold (l.) und Jörg Pätzold laden gespendete Powerbanks für den Transport auf. "Ich habe nicht viel Geld, aber dafür zwei gesunde Hände und Organisationstalent", sagt Samuel Arnold, der seit drei Tagen mit anpackt.
Samuel Arnold (l.) und Jörg Pätzold laden gespendete Powerbanks für den Transport auf. "Ich habe nicht viel Geld, aber dafür zwei gesunde Hände und Organisationstalent", sagt Samuel Arnold, der seit drei Tagen mit anpackt. © Marion Doering

Am Freitagmittag wurde der erste Transport der Privatinitiative aus Dresden losgeschickt. Dafür hat unter anderem eine ukrainisch-deutsche Spedition Lkw und Mitarbeiter zur Verfügung gestellt, die die Hilfsgüter bis in die Ukraine bringen. Drei Lkw mit 7,5 Tonnen und drei Transporter stehen insgesamt zur Verfügung. Benzin und Maut für die Hilfskonvois werden von der Initiative bezahlt.

Vor Ort sollen die Hilfsgüter aus Dresden dann an andere Organisatoren übergeben werden. "Das Problem vor Ort ist, dass wir in der Ukraine kaum Fahrer über 60 Jahre finden", sagt eine Ehrenamtliche vom Team Transport. Alle Männer zwischen 18 und 60 dürfen die Ukraine laut einer Anordnung vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht mehr verlassen und sollen bleiben, um für ihr Land zu kämpfen.

Bis zum Samstagmittag stand der erste Hilfskonvoi aus Pieschen noch an der ewig langen Warteschlange an der polnisch-ukrainischen Grenze, heißt es von den Organisatoren. Doch sobald er zurück ist, kann er mit den gepackten Paletten aus dem Zentralwerk sofort wieder gefüllt werden. Solange, bis jede Palette, jede Spende den Weg zu einem Menschen gefunden hat, der sie dringend benötigt.