Ex-Botschafter in Moskau: "Putin wittert überall Verschwörung"
Vor drei Jahren führte Rüdiger von Fritsch sein letztes Gespräch mit Kremlchef Wladimir Putin. Darüber und über Szenarien für einen Putsch gegen den Präsidenten spricht er hier.
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Von Georg Ismar und Hans Monath
Rüdiger von Fritsch (68) war von März 2014 bis Juni 2019 deutscher Botschafter in Moskau.
Herr von Fritsch, Wladimir Putin hat Ihnen vor drei Jahren eine ungewöhnliche Audienz gewährt, warum?
Das war Anfang Juni 2019, als ich mich aus Russland verabschiedete. Nach fünf Jahren als deutscher Botschafter in Moskau hat er mir den Termin angeboten. Das war ungewöhnlich und eine Anerkennung meines Landes, weil sich Deutschland in besonderem Maße engagiert hatte, Konflikte mit Russland zu lösen. Es war ein eindrucksvolles Gespräch, das etwa eine halbe Stunde dauerte.
Erzählen Sie mal …
Wir sind alles durchgegangen, was unsere Beziehungen beschwerte. Wir sprachen über Syrien, über die Ukraine und auch über Wolodymyr Selenskyj, der gerade zum ukrainischen Präsidenten gewählt worden war. Ich fragte Wladimir Putin, ob er nicht die Gelegenheit für eine Geste nutzen und das Gespräch mit ihm suchen wolle. Da wurde er deutlich. Selenskyj rede immer so feindlich, meinte er. Er solle es gleich von Anfang an richtig machen, aber er mache nur "Sch…", das ganze Gespräch führten wir auf Deutsch. Dabei hatte der ukrainische Präsident nur die Tatsache kritisiert, dass Russland angefangen hatte, im Separatistengebiet im Donbass Pässe an Ukrainer auszugeben, um behaupten zu können, man schütze eigene Landsleute dort.
Was dachten Sie in dem Moment?
Putins Bemerkung über Selenskyj machte mir deutlich, dass aus seiner Sicht der Präsident eines kleineren Landes innerhalb des alten russischen Reiches nicht den Respekt und die Achtung erwiesen hatte, die man in Moskau erwartete.
Hätten Sie sich vorstellen können, dass der Putin des Jahres 2019 drei Jahre später die Ukraine überfällt und Selenskyj am liebsten tot sehen will?
Es gibt im Handeln Wladimir Putins nicht so etwas wie eine Linearität. Er hat vor 22 Jahren die Präsidentschaft nicht in der Absicht übernommen, eines Tages die Ukraine anzugreifen. Es gibt vielmehr auf seinem politischen Weg bestimmte Gabelungen, an denen sein Verhalten sich geändert hat und er mehr und mehr in die Reflexe autoritärer Führung zurückgefallen ist ...
Die britische Russlandkennerin Catherine Belton kommt in ihrem Buch "Putins Netz" zu einem anderen Schluss, sie zeichnet eine stringente Linie vom KGB-Spion, der sich mit einer Clique umgibt, die sich schamlos bereichert und auf Gewalt setzt, bis heute ...
Aber führen Sie sich doch noch einmal seine Rede im Jahr 2001 im Bundestag vor Augen! Die meisten Botschaften darin waren an sein eigenes Land gerichtet: Ich will Russland zur Demokratie führen, sagte er, ich will die Wirtschaft reformieren. Oder: Wir müssen unsere Geschichte aufarbeiten. Das waren schwierige Aufgaben. Er hat später den einfacheren, vertrauten Weg der autoritären Führung gewählt. Heute muss man sagen: Russland ist auf dem Weg in die Diktatur.
Putin schätzt und mag Deutschland. Ist die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine für ihn ein größerer Schlag, als wenn das Warschau tut?
Nein, das denke ich nicht. Wir sind aus seiner Sicht Teil des kollektiven Westens. Trotzdem bleibt er unserem Land verbunden, weil er intensiv die deutsche Sprache und Kultur gelernt hat und weil er in uns das Land im Westen sieht, welches er am besten kennt. Er kann uns am besten lesen und einordnen.
Den autoritären Führer Wladimir Putin zeichnet aus, dass er am Ende völlig auf sich allein gestellt ist. Er ist nicht mehr kontrolliert und nicht mehr beraten, Corona hat ihn noch weiter isoliert. Er nutzt die klassischen drei Mittel, um sein Land und dessen Führung unter Kontrolle zu halten: Repression, Bestechung und die große Lüge, die Propaganda. In der russischen Führung weiß man natürlich, was tatsächlich los ist, aber jeder hat seine eigene Pfründe und die Genehmigung, sich zu bereichern. Und alle leben auch dort in der Angst, alles zu verlieren und gar im Gefängnis zu landen. Das führt dazu, dass die Leute um ihn herum ihm nur noch das sagen, wovon sie glauben, dass er es gerne hört. Das ist auch im Krieg gegen die Ukraine deutlich geworden.
An welchen Punkten?
Er hat sich restlos verschätzt in der Haltung der Ukrainerinnen und Ukrainer. Er glaubte tatsächlich, wenn er die vermeintliche Nazi-Führung in Kiew absetzt, laufen die Ukrainer jubelnd Mütterchen Russland in die Arme. Er hat sich verschätzt in der Leistungs- und Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte. Und er hat sich verschätzt in der Leistungsfähigkeit seiner eigenen Streitkräfte. Bei allem wurde ihm ein komplett falsches Bild vermittelt. Und schließlich hat er sich auch verschätzt, weil er sich die Geschlossenheit und harte Reaktion des Westens nicht vorstellen konnte.
Warum informiert er sich nicht selbst?
Natürlich könnte er, sagen wir, im Internet recherchieren. Aber seine Wahrnehmung ist die eines geschulten sowjetischen Geheimdienstoffiziers. Er hat selbst einmal über sich gesagt: Einmal KGB, immer KGB. Das ist ein Denken, das überall Verschwörung gegen sich und die eigene Macht wittert. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Könnte es sein, dass Putin noch von seinen eigenen Leuten gestürzt wird?
Eine Erhebung aus der Bevölkerung sehe ich kurzfristig nicht. Die Menschen dort sind heute auch Opfer einer schrecklichen Prägung aus der Stalinzeit, die sie gelehrt hat, wie gefährlich es ist, sich gegen die Führung zu stellen. Am ehesten könnte es im Militär manche geben, die schließlich gegen ihn vorgehen. Wenn dort die Vorstellung wächst, dieser Krieg führe zu einer dramatischen Selbstschädigung, kann es sein, dass das Militär ihm am Ende doch in den Arm fällt. Ein russischer Freund hat treffend gesagt: Ja, sie unterstützen ihn alle, aber wenn er strauchelt, wird keiner für ihn auf die Straße gehen. Und deswegen muss er diesen Krieg in der Ukraine zu seinen Gunsten entscheiden.
Wie reich ist Putin?
Ich hatte mal ein Gespräch mit der Herausgeberin von "Forbes Russia", die jährlich die 100 reichsten Russen ermittelt. Sie sagte mir, sie kriege danach sofort Anrufe von Leuten, die sagen: Ich bin aber in Wirklichkeit viel reicher, ich müsste weiter oben stehen. Und veröffentlichen konnte sie das nur, weil einer nicht draufsteht: Wladimir Putin. Aber ich glaube nicht, dass ihm sein Vermögen wirklich wichtig ist. Für ihn sind andere Faktoren viel wichtiger, seine Macht, Russland, die Geschichte und der Traum von einer Großmacht.
Ruiniert er gerade Russland?
Der russischen Führung ist bewusst, dass die Zeit drängt, deshalb handelt sie auch aus einer Position der Schwäche heraus. Das antiquierte russische Wirtschaftsmodell, das sich entgegen allen Versprechungen und staatlichen Bemühungen nicht reformieren ließ, ist endlich und trägt nicht mehr lange. Der Verkauf fossiler Energieträger wird schon in wenigen Jahren nicht mehr attraktiv sein. Gleichzeitig ziehen sowohl der Westen als auch China ökonomisch und innovativ davon. Putin bleibt ein letztes Mittel, um Russland Geltung zu verschaffen: militärische Gewalt.
Putins konventionelle Armee versagt gerade. Aber er hat noch atomare Waffen …
Die bewusst wolkige Rhetorik der russischen Führung verfolgt zwei Ziele. Zum einen soll dem eigenen Land vermittelt werden, dass man immer noch stark ist. Und zum anderen soll das im Westen und insbesondere in Deutschland Angst erzeugen, die politischen Entscheidungen erschweren.
Könnte Putin, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt, zur Atomwaffe greifen?
Wladimir Putin ist weder verrückt noch irrational. Er gehorcht einer anderen Logik. Wenn man die Kriegsführung in der Ukraine sieht, folgt das dem Handbuch der russischen Militärstrategie, auch in den Stufen der Eskalation. Dazu kann an einem bestimmten Punkt der Einsatz taktischer Nuklearwaffen gehören, aber die Bedingungen dafür sind sehr genau definiert und sehr eingeschränkt. Und wenn man die Äußerung der russischen Führung zum Thema Lieferung schwerer Waffen sieht, wird klar, dass sie bislang sehr genau vermeidet, in eine militärische Konfrontation mit der Nato zu geraten.
Aber Putin hat immer wieder Grenzen überschritten …
Das stimmt, aber er hat immer noch Interessen. Deshalb ist ihm bewusst, dass eine Konfrontation mit der Nato eine Selbstzerstörung Russlands wäre. Und dass seine Streitkräfte, die nicht in der Lage sind, die Ukraine zu besiegen, sich mit der Nato erheblich schwerer tun würden. Er wählt nun ein anderes Mittel, um die Konfrontation mit dem Westen in diesem Krieg zu eskalieren.
Welches Mittel?
Wladimir Putin versucht gezielt, Hungerkrisen im Nahen Osten und in Nordafrika zu erzeugen. Deshalb hindert Russland die Ukraine daran, Getreide zu exportieren, bombardiert sogar Getreidesilos. Putins Kalkül besteht darin, dass nach dem Zusammenbruch der Getreidelieferungen die hungernden Menschen aus diesen Regionen fliehen werden und versuchen, nach Europa zu kommen – wie damals die Millionen Syrer, die vor den Schrecken des Krieges flohen. Mit neuen Flüchtlingsströmen will er Europa destabilisieren und politischen Druck aufbauen, damit westliche Staaten ihre harte Haltung gegen Russland aufgeben. Das ist seine neue hybride Kriegsführung.
Manche sehen die Einigung über die ukrainischen Soldaten aus Mariupol, die nun in russischer Gefangenschaft sind, als Hoffnungszeichen, dass Moskau eine Verständigung sucht. Sehe Sie Hoffnungszeichen?
Nein. Ich habe da wenig Hoffnung. Wladimir Putin hat am 24. Februar 2022, um das Bild zu benutzen, das Schachbrett umgeworfen. Er hat den erfolgreichen Versuch, in Europa gemeinsam Sicherheit zu schaffen, abrupt beendet und an dessen Stelle die Konfrontation gesetzt. Das ist die neue Wirklichkeit. Das macht weder die Regeln des Schachs falsch noch unsere eigene Politik gegenüber Russland in der Vergangenheit. Der zweite Grund ist die Tatsache, dass Wladimir Putin aus seiner Sicht diesen Krieg nicht verlieren darf. Er will weiter über den künftigen Weg der Ukraine bestimmen. Er wird auch seine weiter gehenden Ziele – Stichwort neue Sicherheitsordnung – nicht aufgeben. Und: Wladimir Putin kämpft in der Ukraine inzwischen um seine eigene Macht in Russland. Das macht die Wahrscheinlichkeit so groß, dass er versuchen wird, diesen Krieg fortzusetzen und zu eskalieren.
Das hört sich nach einem langen Abnutzungskrieg an …
Es gibt vier Optionen: einen ukrainischer Sieg, einen russischer Sieg, eine weitere Eskalation oder eine Pattsituation. Letztere ist nicht unwahrscheinlich. In einer solchen Pattsituation wird es entscheidend darauf ankommen, und das macht diesen Konflikt gegenwärtig so schwer lösbar, wer dann die stärkeren Hebel in der Hand hat. Wird es der Ukraine möglich sein, selbstbestimmt in eine von ihr so gewünschte eigene Freiheit und Zukunft zu gehen, ihre Souveränität zu behalten? Oder wird es Russland sein, das über den künftigen Weg der Ukraine entscheidet?
Wir erleben seitens der russischen Armee Erschießungen von Zivilisten, Vergewaltigungen. Hat Sie diese Grausamkeit als Kenner Russlands überrascht?
Die russische Kriegsführung folgt einer nicht unbekannten Strategie. Erreicht sie ihr erstes unmittelbares Ziel nicht, eskaliert sie. Das Ziel war: Wir führen einen schnellen, in Anführungszeichen sauberen Krieg gegen die Ukraine. Wir binden die ukrainischen Streitkräfte im Osten, zielen auf Kiew, räumen die "faschistische Führung" ab, und dann laufen die Ukrainer uns in die Arme. Als dieses scheiterte, hat man die Natur der Kriegsführung eskaliert, indem man begonnen hat, unterschiedslos Krieg zu führen gegen Zivilisten, gegen zivile Ziele und natürlich auch gegen Infrastruktur, Logistik, Nachschub, in der verfehlten Annahme, dann würden die Menschen sich gegen die eigene Führung wenden.
Ist das Teil des Nationalcharakters Russlands?
Nein, mit solchen Stereotypen sollte man nicht hantieren, sondern ich glaube, dass dies Teil eines Kalküls der russischen Kriegsführung ist.
Kanzler Olaf Scholz war, eine Woche bevor der Krieg ausgebrochen ist, bei Putin im Kreml. Er hat danach gesagt, Sicherheit kann es immer nur mit Russland, nicht gegen Russland geben. Dann kam der Krieg: Wie kann Sicherheit gegen Russland aussehen?
Zum einen ist das Bestreben, mit Russland Sicherheit und vorteilhafte Entwicklung für alle gemeinsam zu gestalten, eine Politik gewesen, die von praktisch allen westlichen Ländern so durchgeführt worden ist. Aber Wladimir Putin hat das beendet. Er hat das Schachbrett umgeworfen und hat uns in eine Ära der Konfrontation geführt. Auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir im Ost-West-Gegensatz in einer Ära der Konfrontation gelebt. Die erste Phase des Kalten Krieges ist davon bestimmt gewesen, dass es nur Konfrontation gab, nämlich sowjetische und amerikanische Panzer mit geladenen Rohren am Checkpoint Charlie. In der zweiten Hälfte ist es uns gelungen, diese Konfrontation in eine geordnete Konfrontation überzuführen durch Rüstungskontrollabkommen, Abrüstungsverhandlungen und schließlich den großen Wurf, die KSZE. Das haben wir nach Ende des Kalten Krieges noch intensiviert und ausgebaut mit dem Versuch, Sicherheit gemeinsam herzustellen, durch Verabredungen und Verflechtung, auch in Energiefragen .
Das ist alles zusammengebrochen ...
Das hat für uns dreierlei Folgen: Erstens müssen wir als Deutschland bereit sein, uns und unsere Partner zu schützen und uns militärisch entsprechend aufzustellen und auch dem angegriffenen Land zur Seite zu stehen. Zweitens müssen wir jenen Ländern, die zwischen Russland und uns sitzen, diesseits des Grabens, den Wladimir Putin aufgerissen hat, eine ganz klare Perspektive anbieten, die ihnen europäische Zukunft und auch Sicherheit vermittelt. Für Georgien, Ukraine, Moldau, eines Tages auch Belarus, für die Länder des Balkans. Und drittens müssen wir diese Konfrontation wieder, wie im Kalten Krieg, in eine geordnete Konfrontation überzuführen versuchen, wieder zu Verabredungen zu kommen. Welche Spielregeln gelten selbst in einer Konfrontation? Wo können wir zur Abrüstung kommen, wo zu Rüstungskontrolle? Wie gehen wir mit neuen militärischen Fähigkeiten um? Wie gehen wir mit Cyberfähigkeiten um? Das sind die drei Aufgaben, denke ich, vor denen wir stehen.
Haben Sie noch Kontakt zu Menschen in Moskau?
Zu Beginn dieses Krieges war das noch leichter möglich. Jetzt ist es praktisch ausgeschlossen, weil natürlich auch bekannt ist, wer ich bin, und ich die Menschen auch nicht belasten will. Aber es erreichen meine Frau, mich, Freunde, Bekannte, immer wieder Hilferufe aus Russland, auch verzweifelte Einschätzungen der Situation mit einer ganz klaren Sicht auf die Dinge und der ganz klaren Aussage: Wir Russen laden unendliche Schuld auf uns. Und Hilferufe von Menschen, die aufgrund der Repressionen, die sie befürchten oder bereits erfahren müssen, darum bitten, dass wir sie nach Deutschland holen. In einigen Fällen ist das zum Glück möglich gewesen.
Meine Mutter war eine Deutsche aus dem Baltikum, mein Urgroßvater war Abgeordneter des russischen Reichsrats und der Duma. Ich habe neben der Schule her begonnen, aus freien Stücken Russisch zu lernen. Ich bin als Deutscher in Westdeutschland in dieser damals verbreiteten Haltung aufgewachsen, die nicht zu Unrecht befürchtete, verkürzt gesagt, dass morgen die Truppen des Warschauer Pakts durch die norddeutsche Tiefebene marschieren. Das geflügelte Stichwort war damals: Erwin, der Russe sitzt im Keller. Gleichzeitig hat man das getrennt von dem, was Russland sonst ausmacht, seine Menschen – auch im Respekt vor ihrem schweren Schicksal, an dem Deutschland seinen tragischen Anteil gehabt hat, diesem wunderbaren Land, seiner großartigen Kultur, seinen wissenschaftlichen Leistungen. Als Diplomat bin ich 2014 in dieser schwierigen Konfliktsituation mit tiefer Sympathie für Russland nach Moskau gegangen. Meine Haltung war: Ich will versuchen, das Land zu verstehen, ohne zu billigen, was seine Führung macht. Ich lasse mir meine Sympathie für Russland, vor allem für seine Menschen, auch jetzt nicht nehmen.