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Sind die vielen Streiks noch verhältnismäßig?

Schon wieder streiken die Lokführer, auch auf Flughäfen herrscht erneut Stillstand. Dabei sind doch erst vor Kurzem auch Busse und Bahnen ausgefallen. Reicht es nicht langsam? Eine Einordnung.

Von Luisa Zenker
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Eine Streikwelle zieht durch Sachsen. Mancher fragt sich, muss das sein?
Eine Streikwelle zieht durch Sachsen. Mancher fragt sich, muss das sein? © Symbolfoto: dpa

Lokführer, Flugbegleiter, Straßenbahnfahrer - man könnte glatt das Gefühl kriegen, ganz Deutschland befindet sich im Streik. Seit Monaten hält irgendwer irgendwo ein Schild hoch. Durch die mediale Debatte zieht sich deshalb die Frage, ob die Streiks noch verhältnismäßig sind. Schwächen sie am Ende den Standort Deutschland?

Der Protestforscher Piotr Kocyba von der Universität Leipzig reagiert auf solche Fragen irritiert: „Ich finde diese Fragen tendenziös. Woher kommt diese Feindseligkeit gegenüber den Streikenden?“, fragt der Wissenschaftler, der mehrmals in der Woche von Dresden nach Leipzig per Zug pendelt. An Streiktagen steht er selbst im Stau auf der A4. Das aber ändert seine Meinung nicht: „Streiken ist etwas fundamental Wichtiges.“ Historisch haben dafür Arbeitnehmer lange gekämpft, das Streikrecht habe Dutzende Tote gefordert. Streiken mache man ja nicht aus Spaß, sondern die Beschäftigten nehmen damit auch Einnahmeeinbußen und den Druck des Arbeitgebers in Kauf. „Es ist Ausdruck von guter Organisation der Arbeitnehmer, man streikt für bessere Arbeitsbedingungen, das sollte Anerkennung bringen.“

Dass zurzeit eine Streikwelle durch Deutschland zieht, ist auch für den Dresdner Volkswirt Alexander Kemnitz nachvollziehbar. Als Grund nennt der Professor für Wirtschaftspolitik von der Technischen Universität Dresden den Inflationsschub von mehr als 10 Prozent im vergangenen Jahr. Nicht jeder Arbeitgeber habe das beim Lohn nachgeholt, so der Arbeitsmarktexperte. Neben dem Preisanstieg, kommen auch noch die Mindestlohnerhöhung, die gestiegenen Sozialleistungen, der Fachkräftemangel hinzu. "Das führt dazu, das die gewerkschaftlichen Forderungen höher ausfallen als sonst", erläutert Kemnitz. Denn wenn die Preise um 10 Prozent gestiegen sind, benötigen die Arbeitnehmer auch einen Lohn, der um zehn Prozent höher ist, um sich das Gleiche leisten zu können. Auch wenn die Inflation sich derzeit bei zwei Prozent einpegelt, das Leben bleibt teurer als noch vor zwei Jahren, macht der Ökonom deutlich. Kemnitz geht noch weiter und nennt die Teilprivatisierung der Bahn als Ursache. Seit den 1990er Jahren werden Lokführer und Fluglotsen nicht mehr verbeamtet. Im Klartext heißt das: Wer Staatsbetriebe wie die Bahn als ein Unternehmen führt, der muss auch mit Streiks rechnen.

Alexander Kemnitz hat die Professur für Volkswirtschaft, insbesondere Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung an der TU Dresden
Alexander Kemnitz hat die Professur für Volkswirtschaft, insbesondere Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung an der TU Dresden © Technische Universität Dresden

Teilzeit und mehr Urlaub - überzogene Forderungen?

Und Arbeitgeber, die zu lange warten, ihre Bedingungen zu ändern, müssen damit wohl auch rechnen: Denn in den aktuellen Streiks geht es nicht nur um Lohn, sondern um 33 Tage Urlaub oder eine 35-Stunden-Woche. Werden den Streikenden die Bedingungen wichtiger als das Gehalt? Hier trügt Kemnitz zufolge das Bild. "Im Streik gab es immer die Frage des Tariflohns und der Arbeitsbedingungen." Schon in den Achtzigerjahren sei die 35-Stunden-Woche ein ganz großes Thema in Westdeutschland gewesen.

Der Leipziger Protestforscher Piotr Kocyba sieht gerade die Streikenden von Infrastruktur-Unternehmen in der Pflicht, solche Wünsche kundzutun. "Dort, wo eine Gewerkschaft besonders viel Druck aufbauen kann, kann sie als Vorreiter etwa die Vier-Tage-Woche fordern und die Arbeitswelt modernisieren."

Der Jurist Richard Giesen von der Ludwig-Maximilians-Universität München spricht dagegen von einer "Funktionselite". Abschreckende Momente wie drohender Arbeitsplatzverlust oder Vergütungsausfall während des Streiks kämen ihm zufolge in der Infrastruktur nicht so stark zum Tragen. Zudem sei die GDL eine recht junge Berufsgewerkschaft, die eher in der Gefahr schwebe, ganz vom Bildschirm zu verschwinden. "Deswegen ist die Tarifpolitik der GDL nicht mit sozialen Anliegen unterlegt, sondern mit einem deutlichen Kampf gegen zwei Gegner, nämlich das Management der Deutschen Bahn und die Mehrheitsgewerkschaft EVG", sagt der Arbeitsrechtler im Interview mit dem Tagesspiegel.

Reformation des Streikrechts

Aus diesem Grund werden Forderungen laut, das Streikrecht zu reformieren. Seien das festgelegte Schlichtungsverfahren oder zeitliche Fristen. Protestforscher Piotr Kocyba findet das eine ganz schlechte Idee. "Wollen wir in die Richtung autoritärer Regime gehen, wo das Streikrecht begrenzt wird?", fragt er. "In Ungarn hat Viktor Orbáns Regierung letztes Jahr in Reaktion auf einen Lehrerstreik die Streikenden zu disziplinieren versucht. In der Folge verloren streikende Lehrer ihren Arbeitsplatz", erklärt Kocyba, der sich neben Protestformen auf Osteuropastudien spezialisiert hat. Auch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut aus Düsseldorf erklärt, dass das Streikrecht in Deutschland bereits relativ restriktiv im Vergleich zu anderen Ländern sei. Hier nach weiterer Verschärfung zu rufen, steht einer modernen Demokratie nicht gut, führt Piotr Kocyba aus. Angesichts der angekündigten Wellenstreiks der GDL äußerte sich dagegen der ökologische Verkehrsclub Deutschland besorgt über die unkalkulierbare Fahrgast-Situation und fordert, auch bei kurzfristig anberaumten Streiks einen Not-Fahrplan zu gewährleisten.

Doch welche Folgen hat solch ein Streik wirtschaftlich? Volkswirt Kemnitz sieht den Wirtschaftsstandort Deutschland dadurch nicht gefährdet. Wirtschaftlich bewirken Streiks eher kurzfristige Schäden, wie am Beispiel der Bahn deutlich wird, wo der Ausfall zu Millionenverlusten führt. Langfristig müsse sich aber ein jedes Unternehmen darauf einstellen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, um genügend Nachwuchs zu finden. Wer jetzt lieber in neue Anlagen als in Mitarbeiter investiere, könnte möglicherweise in fünf Jahre keine Beschäftigten mehr haben, die diese bedienen wollen, meint Kemnitz. Zudem haben höhere Löhne auch Einfluss auf den Konsum. Wer mehr Geld am Ende des Monats habe, sei bereit, mehr für Essen, Shopping und Reisen auszugeben. Damit kurbele jeder Bürger indirekt die Wirtschaft an.

Porstetsforscher Piotr Kocyba ist stellvertretender Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Universität Leipzig.
Porstetsforscher Piotr Kocyba ist stellvertretender Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Universität Leipzig. © Universität Leipzig

Weitere Streiks in diesem Jahr möglich

Bleibt nur die Frage, ob wir es derzeit mit einer großen Streikwelle zu tun haben. In den Zehnerjahren war es insgesamt tatsächlich etwas stiller. Das erklärt sich Ökonom Kemnitz mit der guten stabilen wirtschaftlichen Entwicklung. Es trügt ihm zufolge jedoch der Eindruck, dass es in den vergangenen Jahren keinerlei harten Arbeitskämpfe gab.

Umfangreiche Streiks im Flug- und Bahnverkehr hat es auch 2014/15 gegeben. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut hält es für unwahrscheinlich, dass die deutsche Streikkultur vor einem grundlegenden Wandel steht. "Wenn Arbeitskämpfe in besonders sensiblen Bereichen wie dem Verkehrssektor stattfinden, wo viele Bürger betroffen sind, gehen die „gefühlten“ und tatsächlichen Streikdaten oft auseinander", schreiben sie in ihrem aktuellsten Bericht. Demzufolge hat sich die Zahl der Arbeitskämpfe seit 2015 bei etwa 200 eingepegelt, ausgenommen sind die Pandemiejahre, in denen es einen deutlichen Rückgang gab. Insgesamt sei Deutschland aber im internationalen Vergleich in relativ streikarmes Land.

Ob Deutschland möglicherweise in diesem Jahr aufholen wird, bleibt abzuwarten. Ökonom Alexander Kemnitz rechnet mit weiteren Streiks in diesem Jahr. Baugewerbe, Einzelhandel, Hotel- und Gaststättenverband - sie alle müssen noch verhandeln.