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Lieferando: Keine Zeit zum Genießen

In der Corona-Krise sind viele Restaurants auf die Bestellplattform Lieferando angewiesen. Aber profitieren die radelnden Essensauslieferer davon?

Von Luisa Zenker
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Kein Blick für die abendliche Dresden-Kulisse: Wer für den Lieferdienst Lieferando aufs Rad steigt, muss es eilig mögen, sonst kommt er nicht auf sein Geld.
Kein Blick für die abendliche Dresden-Kulisse: Wer für den Lieferdienst Lieferando aufs Rad steigt, muss es eilig mögen, sonst kommt er nicht auf sein Geld. ©  dpa/Robert Michael

Ding. Dong. „Lieferando ist da.“ Die Tür summt. „Dritte Etage“, dröhnt es aus dem Lautsprecher. Frank* tritt in den großen Hausflur eines Altbaus in der Dresdner Neustadt. Eine rote Wendeltreppe windet sich nach oben. Den Lichtschalter findet er sofort: „Ich kenne so viele Häuser, in dem hier war ich letzte Woche schon.“ Er rennt die Treppe hoch, nimmt zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, stellt er den orangefarbenen würfelförmigen Rucksack ab.

Ein junger Mann öffnet die Tür, schaut hungrig. Im Hintergrund klappert Geschirr. Wegen Corona muss der Kunde selbst zugreifen. Der Mann zieht zwei braune Papiertüten aus dem Rucksack - In weißen Lettern verspricht sie eine leckeres Abendessen: "Zeit zum Genießen". Frank kriegt zwei Euro Trinkgeld. Eine vergleichsweise hohe Summe für den Fahrer. „Es kommt darauf an, ob ich auf der Neustadt- oder auf der Altstadt-Seite bin. In der Neustadt gibt’s mehr“, sagt er im Nachhinein.

Frank wünscht dem Mann einen schönen Abend. Sein Lächeln bleibt hinter der blauen Maske verborgen. Er setzt sich den viereckigen Rucksack auf, sprintet die Treppe runter. Das Handy surrt. Der nächste Auftrag. Es ist 18.20 Uhr – Hauptbestellzeit am Freitagabend.

Mit dem Fahrrad geht es durch die kalte, verregnete Nacht. Laternenlichter flitzen vorbei, spiegeln sich auf dem glatten Asphalt. Egal ob Regen, Schnee, Kälte oder Sommerwetter – geradelt wird immer. Rote Ampeln nimmt er nur als Empfehlung.

Ein Blick nach links, einer nach rechts – frei! Zwischen den Autos biegt er scharf nach rechts ab, rumpelt über den Bordstein zur nächsten Kreuzung. Als hätte er einen inneren Kompass, der sagt: Dort ist der abgesenkte Bordstein, dort gehen weniger Fußgänger entlang.

Verdienst knapp über Mindestlohn

Eile ist das Geschäftsmodell. Regulär bekommt der Dresdner einen Stundenlohn von 10 Euro – knapp über dem gesetzlich festgelegten Mindestlohn von 9,50 Euro. Je mehr Aufträge Frank macht, desto höher ist der Bonus. 25 Cent pro Auftrag bekommt er ab der 26. Lieferung, nach 100 Lieferungen gibt es einen Euro mehr pro Bestellung und ab der 200. zwei Euro. Mit jedem neuen Monat wird er wieder auf Null gesetzt. Diese Arbeitsbedingungen dürften das durchaus riskante Tempo der Fahrer begünstigen. In Frankfurt/Main kam kürzlich ein Lieferando-Bote durch einen Autounfall ums Leben.

Es ist Ende des Monats. Frank hat bisher 162 Aufträge ausgeführt. Die 200er-Marke zu knacken, sei schwierig, aber auch nicht alles. „Ich will die Leute glücklich machen.“ Fünf Minuten später steht er vor dem vietnamesischen Restaurant Codo in der Dresdner Neustadt. „Ha, ich war schneller als die KI.“ Frank zeigt auf sein Handy, die installierte App sagt ihm genau, wann und wo er die Speisen entgegennehmen soll. Die KI ist die künstliche Intelligenz; der Algorithmus, der all die orangenen Radfahrer – meist junge Männer – durch die Stadt treibt.

Frank schiebt die Glastür des Restaurants auf, das um diese Zeit normalerweise keinen freien Platz mehr hätte. Die Hektik in der Küche ist in Corona-Zeiten geblieben. Es riecht nach Sojasoße und süßem Curry: „Lieferando ist da.“ Eine Art Singsang mit leicht ironischem Unterton. „Für Schmidt“, sagt Frank. „Hier“, brummt der Kellner und ist schon wieder verschwunden. Frank packt die braunen Papiertüten ein. „Hoffentlich ist es keine Suppe, die nässt sonst öfters alles durch.“ Er schwingt sich aufs Rad. Es ist sein eigenes, ein schwarze-silbernes Rennrad mit dicken Reifen, er hat es vor zwei Jahren ergattert.

Amazon-Gutschein statt Firmen-E-Bike

Eigentlich könnte er auch ein Fahrrad von Lieferando bekommen – ein oranges E-Bike. „Mit meinem Rad komme ich besser über die Bordsteinkanten.“ Auch andere Fahrer greifen lieber zum eigenen Rad. Die gestellten E-Bikes seien ständig kaputt, erklärt Volkmar Heinrich von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).

Wer sein eigenes Rad nutzt, bekommt von Lieferando eine Pauschale von 10 Cent pro Kilometer, ausgezahlt als Amazon-Gutschein – das Maximum 44 Euro bei 440 Kilometern. Wer mehr fährt, kriegt genauso viel. Lieferando-Sprecher Oliver Klug verweist auf den Vorzug: Der Gutschein sei steuerfrei. Frank kauft seine Fahrradteile lieber beim Laden um die Ecke als beim umstrittenen Riesenkonzern Amazon.

Ein Lieferando-Fahrer fährt am Freisitz eines geschlossenen Restaurants vorbei.
Ein Lieferando-Fahrer fährt am Freisitz eines geschlossenen Restaurants vorbei. © dpa/Sebastian Willnow

Ein rotes Auto zischt an ihm vorbei, er weicht in eine Parklücke aus. Der Radler fühlt sich nicht auf jeder Dresdner Straße sicher. Was geschieht eigentlich, wenn er einen Unfall baut? Einem Lieferando-Freund sei das kürzlich passiert. Noch in der Probezeit wurde ihm gekündigt. Frank selbst ist das Rad mal während einer Fahrt kaputtgegangen: „Das war aber noch zu Foodora-Zeiten. Da ist mir der Rahmen gebrochen – hab ewig auf das Geld gewartet.“

Die Lieferplattform Foodora wurde Ende 2018 von Lieferando aufgekauft – so wie fast alle Lieferdienste. Lieferando wiederum gehört zum international agierenden Branchenriesen „Just Eat Takeaway“ mit Sitz in Amsterdam. Der größte Anteilseigner ist die US-amerikanische Investmentbank Morgan Stanley, die unter anderem während der Finanzkrise für Skandale gesorgt hatte. In Deutschland sind die Orange-Westen quasi allein auf der Straße unterwegs – auch Pizza.de und Lieferheld.de gehören zu dem Essensanbieter. Dieser muss in 23 Ländern keine kostenintensiven Marketing-Kämpfe mit Wettbewerbern austragen, er kann Preise und Bedingungen diktieren.

Das Geschäftsmodell ist einfach: Die Onlineplattform Lieferando.de vernetzt Restaurants mit hungrigen Menschen, die ihr Essen unkompliziert per Knopfdruck nach Hause geliefert bekommen. Sie bietet Software und Lieferung. Die schon zuvor große Marktmacht ist durch Corona so weit gewachsen, dass es sich ein Restaurant kaum noch leisten kann, nicht mitzumachen. Für die Gaststätten bedeutet das erhebliche Einbußen beim Preis, sie zahlen pro Gericht 30 Prozent an Lieferando. Die Radler in Orange prägen das Straßenbild in beinahe jeder größeren deutschen Stadt, auch in Leipzig, Chemnitz, Dresden.

„Wir Fahrer grüßen uns nicht mehr"

Vor vier Jahren hat Frank bei Foodora angefangen. Geändert hat sich seitdem wenig oder vieles – je nachdem, wen man fragt. „Die Arbeitsbedingungen haben sich nicht wesentlich verbessert. Es hat sich zugespitzt“, sagt Gewerkschafter Heinrich. Lieferando-Sprecher Klug verweist auf den gestiegenen Stundenlohn und eine eingeführte Kilometerpauschale. Und was sagt Mitarbeiter Frank? „Wir Fahrer grüßen uns nicht mehr – sind zu viele geworden.“ Teamgeist gebe es schon lange nicht mehr.

„Wir sollen 18.40 Uhr in der Louisenstraße sein – das ist nicht weit. Ich sag’s doch, du musst dich mit der künstlichen Intelligenz anfreunden.“ Was das heißt, kann Frank nicht sagen. Es gebe nur Gerüchte, wie der Algorithmus funktioniert, der die Fahrer quer durch Dresden schickt. „Die Zuordnung von Bestellungen läuft per App“, sagt Lieferando-Sprecher Oliver Klug. Am Ende sollen alle Fahrer auf eine ähnliche Kilometerzahl kommen. Pech für die, die pro Auftrag viele Kilometer schrubben, aber wenige Aufträge bekommen – dann fehlt hinten raus das Trinkgeld. Und das ist nicht wenig angesichts des Stundenlohns. Frank hat in einer Stunde fünf Euro extra gemacht. Nächster Halt in der Louisenstraße. 500 Meter vom Restaurant entfernt. Warum Menschen für den kurzen Weg bestellen, statt das Essen selbst zu holen? „Vielleicht eine junge Frau mit Baby oder eine fünfköpfige Familie, die haben grad Besseres zu tun.“ Frank klingelt, sagt seinen Standardspruch: vierte Etage. „Dort oben wohnen die Reichsten“, sagt Frank augenzwinkernd und sprintet los. Es öffnet ein junger Mann. „Es sind fast immer Männer“, sagt Frank später. Auch wenn eine Frau bestelle – meist nehme der Mann entgegen. Der Kunde packt die Papiertüte aus, deren Boden durchgeweicht ist, nimmt das Gericht trotzdem. „Wer sich eine Suppe liefern lässt, muss damit rechnen“, sagt Frank später. Folgen habe das für ihn nicht.

Wer sind die Menschen, die sich ihr Essen mit dem Rad nach Hause bringen lassen? „Vielleicht können diese jungen Männer nicht kochen. Oder sie sind in ein Computerspiel vertieft. Oder sie gönnen sich mal was. Einmal bin ich wohin gekommen, da hat es stark verbrannt gerochen. Die waren bestimmt froh, als ich kam.“

Er selbst würde nie bei Lieferando bestellen. „Ich mag’s lieber frisch gekocht aus der eigenen Küche. Kostet auch nur ein Drittel des Preises.“ Franks Fahrrad lehnt am Briefkasten. Er hat vergessen, es anzuschließen. „Keine Zeit.“ Sein Handy klingelt – die App verlangt nach ihm. „Auf zu McDonald’s.“ Von der kleinen Familiengaststätte bis zur großen Kette – mehr als 20.000 Restaurants sind auf Lieferando.de registriert, Tendenz steigend. Online-Bestellungen sind nicht erst seit Corona im Kommen, aber die Pandemie hat den Trend verstärkt. Im Herbst 2020 verzeichnete das Unternehmen im Vergleich zum Vorjahr ein Wachstum der Aufträge um fast 40 Prozent. Lieferando versteht sich als digitaler Berater, gerade kleine Gaststätten hätten nicht das Geld, um Flyer zu drucken oder selbst zu liefern. Während des Lockdowns sind viele Wirte auf die Dienste des Riesenkonzerns angewiesen. Retter in der Not oder Nutznießer des Leids anderer? Es ist wohl eine Frage der Perspektive. „Im Durchschnitt vermitteln wir einem Restaurant 100.000 Euro Umsatz pro Jahr“, erklärt Sprecher Klug.

Bei McDonald’s stehen drei Jugendliche mit Plastikbechern. „Hey, sag mal, verdient man bei euch gut?“, ruft einer. „Also ich hatte mal einen Mitbewohner, der war Ingenieur, der hat gut verdient“, erwidert Frank. „Studier lieber.“ Der Geruch von Burger und Frittieröl strömt durch die Luft, eine Frau in McDonald’s-Montur stellt die braunen Tüten raus. Frank selbst hat eine Lehre durchgezogen – lange konnte er da nicht bleiben. „Ich kann nicht so mit Autoritäten.“ Studieren wollte er nicht. Damit sticht er hervor. „Viele sind Studenten. Die machen das als Nebenjob“, sagt Klug. Gewechselt wird deshalb dauernd: 80 Prozent der Fahrer bleiben nicht lange.

Doch ist das der einzige Grund, warum die Radler so schnell den Job schmeißen? Nein, viele hätten befristete Einjahresverträge, sagt Gewerkschafter Heinrich. Anderen würde gleich in der Probezeit gekündigt, die Bewerber stünden Schlange. „Das macht es schwierig, einen Betriebsrat aufzubauen“, erklärt Heinrich. Bisher gibt es deutschlandweit sechs Betriebsräte – in Sachsen noch keinen einzigen. „Wir brauchen Mitstreiter“, sagt Heinrich energisch. Die Gewerkschaft stellt viele Forderungen: Lohnsteigerungen, eine regelmäßige Wartung der E-Bikes sowie eine finanzielle Unterstützung der Smartphones: Lieferando verlangt, dass die Radler das eigene Handy nutzen und das hohe Datenvolumen selbst bezahlen, das die App verbraucht. Und Frank, findet er alles schlecht? Nein, die flexiblen Arbeitszeiten und das Radfahren möchte er nicht missen.

Mehr als 5.000 Radler bundesweit

Pizza, Burger, Pasta – alles das fahren mehr als 5.000 Radler durch die deutschen Innenstädte. So schnell es geht. Das klappt nicht immer. Vor einem Italiener in Dresden warten mehrere Orange-Westen eine halbe Stunde auf die Speisen, Frank unterhält sich auf Englisch mit seinen Kollegen. Viele haben einen Migrationshintergrund. Resigniert blickt er in ihre Richtung: „Ich glaub nicht, dass der Inder dort genauso viel Trinkgeld bekommt wie ich. Ja, so sind die Deutschen halt.“ Rassismus beim Trinkgeld spielt in vielen Branchen eine Rolle – egal ob Kellnerin, Friseur oder Bote.

Der Pizzabäcker packt hektisch einen Karton nach dem anderen ein. „Mach mal ’ne Pause“, ruft Frank. Der Kellner schüttelt nur den Kopf. „Deswegen fahr ich lieber mit dem Rad.“ Für viele Gaststätten ist der Lieferdienst zu teuer: „90 Prozent der Bestellungen über Lieferando übernehmen die Restaurants selbst“, sagt Sprecher Klug. Wenn der Hungrige das Essen abholt, müssen die Gaststätten statt 30 nur 13 Prozent vom Bon abgeben. Trotz der hohen Nachfrage gibt Oliver Klug zu: „Mit jeder Auslieferung durch unsere Fahrer machen wir Verlust, wir bezuschussen diese zugunsten der Restaurants.“ Auf die Orange-Westen setzen sie dennoch: Je mehr Bestellungen und Orange-Westen in den Städten, desto bekannter wird die Plattform.

Verlust macht Lieferando nicht nur mit den Fahrern: Seit der Gründung 2009 in Berlin verzeichnete das Unternehmen keine Gewinne, 2016 betrugen die Verluste gut 29 Millionen Euro. Die Börse bewertet das Unternehmen – trotz anhaltend roter Zahlen – auf einen Wert von 14 Milliarden Euro. Analysten mehrerer Großbanken sehen es als „Corona-Gewinner“ und erwarten weiter steigende Kurse. Derzeit versucht der Chef des Lieferando-Mutterkonzerns, Jitse Groen, seinen US-Rivalen Grubhub für sechs Milliarden Euro zu schlucken. Gelingt dies, entstünde der größte EssensLieferkonzern außerhalb Chinas.

Feierabend. Es ist 21.30 Uhr. Frank ist zufrieden. 31 Kilometer, 18 Aufträge in vier Stunden. Endlich kann er an seiner Zigarette ziehen. 15 Euro Trinkgeld hat er gemacht, nicht jeder Abend laufe so gut. Aufs Klo müsse er mal, dazu gab es bisher keine Gelegenheit. Zwar hat Lieferando eine Liste mit öffentlichen WCs veröffentlicht, aber Zeit ist Geld. Der Zigarettenstummel landet auf dem Bürgersteig, Frank steigt aufs Rad. Die orangefarbene Montur verschwindet in der einsamen verregneten Nacht.

*Name von der Redaktion geändert